Die Novemberrevolution als Betrugsgeschichte

Joachim Käppners Darstellung des „Aufstands für die Freiheit“ im Jahr 1918

Von Franz Sz. HorváthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Franz Sz. Horváth

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Warum sind wir betrogen?“ – fragte am 24. Dezember 1918 der Matrose Güsten, Mitglied der mit der Bewachung des kaiserlichen Schlosses beauftragten Volksmarinedivision, Friedrich Ebert, der offiziell zwar lediglich einfaches Mitglied des „Rates der Volksbeauftragten“ war, de facto aber als deutscher Regierungschef agierte. Verrat, Desinteresse und „im-Stich-lassen“ – entlang solcher Begriffe entwickelt Joachim Käppner, Ressortleiter bei der „Süddeutschen Zeitung“ eine sehr spannend geschriebene und lesenswerte Darstellung der Novemberrevolution 1918. 2018 liegt nämlich nach 2014 und 2017 ein weiteres gewichtiges Gedenkjahr vor dem geneigten Publikum, in dem etwa an das Zerbrechens dreier Kaiserreiche (Deutsches Reich, Russland, Österreich-Ungarn) und die Errichtung einer Reihe von Nachfolgestaaten an deren Stelle (Tschecho-Slowakei, Jugoslawien usw.) oder eben an die Novemberrevolution erinnert werden kann.

Eine Beschäftigung mit der Novemberrevolution erhält ihre besondere Brisanz durch die Schwierigkeit, sie nicht als Anfang einer verhängnisvollen Entwicklung zu betrachten, die 1933 in der Katastrophe des „Dritten Reichs“ mündete. Käppner entgeht dieser Gefahr über weite Strecken des Buchs, obwohl er mit deutlichen und kritischen Urteilen über die Novemberrevolution nicht sparsam umgeht. Es wimmelt in seiner Darstellung nur so von Ausdrücken wie „unvollendete“ oder „halbherzige“ Revolution, doch zugleich spricht er auch von einer einzigartigen, ja „gutartigen Revolution“. Den Ablauf, die Vor- wie auch die eigentliche Geschichte sowie als Abschluss die Ergebnisse der Nationalversammlung stellt Käppner in dreizehn Kapiteln dar. Von der Chronologie weicht er einmal ab, als er nach der Darstellung der Matrosenforderungen im Herbst 1918 den Blick zurückwendet, um die Sozialdemokratische Partei ins politische Gefüge des Kaiserreichs einzubetten. Zugleich geht Käppner aber immer wieder auf Früheres ein, etwa wenn er neue Personen samt ihrer Biographie vorstellt.

Käppners Buch durchziehen zwei rote Linien: Die eine geht mit einer engagierten Stellungnahme zugunsten der Revolution einher (Buch als „Beitrag zur Ehrenrettung der Revolutionäre“), die andere bedeutet folgerichtig eine Kritik an der (Mehrheits-)SPD und allen voran an Friedrich Ebert, weil sich diese nicht energisch, ausdauernd und konsequent hinter die Revolution gestellt hätten. Um die Legitimität der Revolution zu zeigen, analysiert der Autor die aussichtslose militärische Lage des Kaiserreichs, die Kriegsmüdigkeit in der Heimat und die schlechte Ernährungslage der Bevölkerung. Er schildert den Zerfall der Arbeiterbewegung, die Gründung der Unabhängigen SPD (USPD) und deren Rolle sowie die der „Revolutionären Obleute“ in den Januarstreiks 1918. Die Eruption des Novemberaufstands beschreibt er dagegen als einen teilweise unpolitischen Anfang, auf den Linksradikale allenfalls einen geringen Einfluss gehabt hätten. Die SPD sei von den Entwicklungen überholt worden und ihr Manko blieb, bei der Geburt des Aufstandes unbeteiligt gewesen zu sein.

Diese Tatsache, wie auch die Angst der SPD-Führung vor einem Entgleiten der Entwicklungen in die Richtung einer Revolution nach sowjetisch-bolschewistischem Vorbild, gilt für Käppner als die wichtigste Triebkraft für die SPD Ende des Jahres 1918. In weiter links stehenden Kreisen, vor allem der USPD und dem sogenannten Spartakusbund, zieh man die SPD hingegen der Feigheit und des Opportunismus. Käppners Vorwurf lautet, die SPD habe es versäumt, die Revolution als ihre Chance zu erkennen, ihr ureigenes Programm (etwa das von 1891) endlich umzusetzen, indem sie sich an die Spitze der Revolution stellt und ihr vorangeht. Stattdessen begab sich Ebert, indem er ein zuerst notwendiges Bündnis mit Groener einging, damit das Heer unter geordneten Verhältnissen zurückgeführt wird, zunehmend in die Hände des Militärs. Dieses wiederum ergriff jede Gelegenheit, um seine Positionen zu stärken, so dass spätestens Ende Dezember 1918 / Januar 1919 die vorher so verhassten Generäle sich vor einer Strafverfolgung, die ihnen noch Anfang November ziemlich sicher drohte, sicher wähnen konnten. Ganz wichtig in dieser Entwicklung war, gemäß Käppners Darstellung, die grundlose und übertriebene Furcht der SPD-Führung vor den Linksradikalen und deren Gewaltpotential. Dabei besaßen die Spartakisten bzw. der linke Flügel der USPD, welche man am ehesten bolschewistischer Umtriebe und Ziele bezichtigen konnte, keine große Anhängerschaft. Jedenfalls stellten sie keine ernstzunehmende Bedrohung der Revolution dar. Dennoch nutzten die SPD-Mitglieder in der Übergangsregierung, dem „Rat der Volksbeauftragten“, bereits den Anschein einer bolschewistischen Bewegung, um hart loszuschlagen und dabei auch auf das alte und verhasste Militär bzw. auf die ihm nahestehenden Truppenteile zurückzugreifen. Das musste die eingangs erwähnte Volksmarinedivision schmerzhaft erfahren, als sie sich wegen ausstehender Löhne weigerte, das Schloss zu verlassen.

In diesem Zusammenhang ist auf einen der Vorzüge von Käppners Darstellung hinzuweisen, seine geduldigen Verweise darauf, dass die Division wie auch politische Verbände vielfältige und komplexe Organisationen waren, deren Zusammensetzung sich stets änderte und widersprüchlich blieb. Somit lässt sich die Volksmarinedivision politisch zwar nicht eindeutig zuordnen, soviel sei aber dennoch sicher, dass sie auf der Seite der Republik stand. Die Frage Güstens, warum die Matrosen betrogen worden seien, ist daher am zutreffendsten beantwortet, wenn man auf die Ängste Eberts vor einem (bolschewistischen bzw. linksradikalen) Weitertreiben der Revolution verweist. Dies hätte die Sozialisierung von Schlüsselindustrien, den Austausch der Verwaltung und Justiz sowie den Aufbau einer der Republik nahe stehenden Heimwehr bedeutet. Eberts Ziele bestanden jedoch in einem „Einfrieren“ der Revolution auf dem erreichten Stand. Wozu er sich über den SPD-Mann Gustav Noske des Militärs und beim Spartakusaufstand im Januar 1919 rechtsgerichteter paramilitärischer Verbände bediente.

Noske, der „Bluthund“, wie er sich selbst bezeichnete, ist somit neben Ebert der zweite Negativheld in Käppners Darstellung der Novemberrevolution. Ebert wird durchweg als eine schwache Person gezeichnet, der sich von seinen antibolschewistischen Ängsten treiben lässt oder allenfalls unentschlossen laviert und insbesondere an der Fortentwicklung der Revolution nicht interessiert ist. Die Revolution endet daher mit einer Weimarer Verfassung, in der zwar manche positive Aspekte auftauchen, aber wichtige politische Ansätze wie etwa das System von Räten missachtet werden. Dass der „Zentralkongress der Arbeiter- und Soldatenräte“ im Dezember 1918 mit überwältigender Mehrheit für die Nationalversammlung und gegen ein Rätesystem votierte, hält Käppner nicht davon zurück, von einem „kuriosen bis tragischen Missverständnis“ zu sprechen, denn weder die Linksradikalen noch die SPD hätten gewusst, was es mit den Räten eigentlich auf sich hatte. Die deutschen Räte des Herbstes 1918 hätten nämlich nichts mit den russischen Räten gemein gehabt und hätten sich „mehrheitlich als Organe auf Zeit [betrachtet], bis eine neue, demokratische Ordnung geschaffen und gefestigt ist“. Daher spricht Käppner, ausgehend von seinem positiven Rätebild, vom „Aufstand der Besonnenen“, womit er (ohne dies theoretisch zu reflektieren) die Ereignisse von 1918 plötzlich als einen „Aufstand“ und nicht mehr als „Revolution“ bezeichnet. Damit widerspricht er zwar seinem eigenen Untertitel, dies scheint aber weder ihm noch dem Lektorat aufgefallen zu sein.

Inwiefern Käppners Ausdruck die „Besonnenen“ für die Anhänger der Räte gerechtfertigt ist, lässt sich freilich hinterfragen. Denn mit derselben Berechtigung, mit der Käppner auf die Fluidität und den hybriden Charakter der Mitglieder der Volksmarinedivision hinweist, lässt sich auch sein monolitisches Bild der deutschen Räte anzweifeln. Schließlich verweist er selbst auf Karl Liebknechts Bedingungen für eine Regierungsbeteiligung, dass nämlich den Räten alle drei Gewalten unterstehen sollten. Eine besonnene Forderung war dies angesichts der überall bestehenden Sorgen vor einer umfassenden Diktatur des Proletariats fürwahr nicht. Und waren es nicht vielleicht solche und ähnliche Forderung, Losungen und Programme, die Eberts Ängste entstehen ließen? Aus der Perspektive des Nachgeborenen lassen sich solche Ängste häufig als unbegründet oder übertrieben abtun, unter dem Druck der Regierungsverantwortung, der Last eines soeben verlorenen Krieges und einer noch offenen Zukunft mag es anders aussehen. Gemäß seiner Zielsetzung einer Rehabilitierung der Revolutionäre beschreibt Käppner sehr plastisch deren Gedanken- und Lebenswelt, so dass sich der Leser die handelnden Personen recht konkret vorstellen kann. Dabei ufert die Darstellung allerdings allzu häufig ins Romanhafte aus, wenn Käppner zu wissen vorgibt, mit welchem „sorgenvollen Blick“ die eine und wie „ungewohnt besorgt“ eine andere Person agierte. Was hierbei zu kurz kommt, ist ein vergleichender Blick auf jene Soldaten, die sich auf die Gegenseite schlugen: Wie kam es, dass ein Teil der Soldaten und Matrosen gegen den sinnlosen Krieg und das alte politische System aufbegehrte, sich ein anderer Teil jedoch bereit- und freiwillig zur Verfügung stellte, um die vermeintlichen und echten Bolschewisten teilweise bestialisch zu ermorden und zugleich das alte System hinüberzuretten?

Auch wenn Käppner auf diese Frage keine überzeugende Antwort gibt, liegt mit seiner Darstellung der Novemberrevolution ein vorzügliches Buch vor, das den Leser im besten Sinne unterhält und bildet. Der Stil des Autors, seine Methode des häufigen und pointierten Zitierens sowie seine zumeist treffenden Urteile tragen allesamt dazu bei, dass dieses Buch einem breiteren Publikum zu empfehlen ist.

Titelbild

Joachim Käppner: 1918 – Aufstand für die Freiheit. Die Revolution der Besonnenen.
Piper Verlag, München 2017.
528 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783492057332

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