Das Ausgeliefertsein des modernen Menschen

Eine Auswahl des Marix Verlages weckt das Interesse an dem Werk von Franz Kafka

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit seiner Autor:innenreihe (bisher elf Titel) stellt der Marix Verlag seit einigen Jahren internationale Schriftsteller*innen vor; meist sind literarische Jubiläen der Anlass. So auch bei der Neuerscheinung Man kann doch nicht nicht-leben, in der Texte zum bevorstehenden 100. Todestag von Franz Kafka am 3. Juni 2024 zusammengestellt wurden.

In dem einleitenden Essay „Franz Kafka oder die Obdachlosigkeit des modernen Menschen“ beleuchtet der Autor und Herausgeber Bruno Kern anhand von Werk, Leben, Briefen und Tagebucheinträgen Kafkas Literatur und Persönlichkeit. Die Vielschichtigkeit und das Rätselhafte von Kafkas Werk hat oft zu allzu einseitigen Interpretationsversuchen geführt. Etliche dieser Versuche scheinen Kern aber untauglich zu sein, sein Werk u.a nur als Abbild seiner Biografie zu sehen oder Kafkas Judentum als Schlüssel für sein Werk zu betrachten. Psychoanalytische Deutungsversuche haben nach Ansicht des Autors dagegen ein begrenztes Recht, denn Kafka hat sich nachweislich intensiv mit der Psychoanalyse auseinandergesetzt.

Kern sieht einen wichtigen Bezugspunkt im Leben von Kafka in der Philosophie Søren Kierkegaards. Kafka war sowohl von der Person als auch von den theologischen und philosophischen Schriften des dänischen Schriftstellers fasziniert. Kafkas Religiosität und seine Ansichten über das menschliche Dasein waren aber von einer grundsätzlichen Skepsis durchzogen.

Neben diesen Hinweisen zur Interpretation und Wirkungsgeschichte gibt Kern in seiner Einleitung auch ein Überblick über Kafkas Biografie, von der Herkunft und Kindheit in Prag über die literarische Produktivität und das persönliche Scheitern bis zur Lungentuberkulose, die ihn bis zu seinem Tode wie ein Schatten begleitete. Besonderes Augenmerk liegt dabei auf Kafkas Beziehung zu der politisch engagierten Journalistin Milena Jesenská (1896-1944), die einige seiner Werke ins Tschechische übersetzte.

Nach dieser ausführlichen Einleitung hat Kern eine Auswahl aus Kafkas Werk getroffen, von Parabeln und Romanauszügen über Erzählungen und Aphorismen bis hin zu schwer zugänglichen Skizzen aus dem Nachlass.⁠ Den Schwerpunkt bilden dabei zehn Erzählungen – von der frühen Erzählung Kinder auf der Landstraße (1903) über die Fantasievorstellungen eines Jungen bis zu der surrealen Erzählung Der Hungerkünstler (1922), in der das Hungern als Metapher für die Freiheit angesehen wird.

Von dem Romanfragment Amerika (posthum 1927) ist das Anfangskapitel Der Heizer abgedruckt, das schon 1913 als Erzählung in der Schriftenreihe Der jüngste Tag erschien. Kafka erzählt hier die Geschichte des 16-jährigen Karl Roßmann aus Prag, der von seinen Eltern nach Amerika geschickt wird, nachdem er von dem Dienstmädchen verführt wurde und ein Sohn aus dieser Verbindung entstanden ist. An Bord des Schiffes, nachdem es bereits im Hafen von New York eingelaufen ist, begegnet Karl durch Zufall dem Schiffsheizer, der ihm von der ungerechten Behandlung seines Vorgesetzten erzählt. Karl ermuntert ihn, sich beim Kapitän zu beschweren.

Während von Kafkas wohl bekanntestem Roman Der Prozess (posthum 1925), der das mysteriöse Schicksal des Bankprokuristen Josef K. schildert, jeweils die ersten und letzten Seiten in die Auswahl aufgenommen wurden, sind es von dem Romanfragment Das Schloss (posthum 1926) nur einige wenige Passagen, die trotzdem einen ersten Eindruck von dem vergeblichen Kampf des Landvermessers K. um Anerkennung seiner beruflichen und privaten Existenz vermitteln. Überhaupt ist es das vorrangige Ziel der Neuerscheinung, Neugier auf Franz Kafka, sein Werk und seinen einzigartigen Erzählstil zu wecken.

Titelbild

Franz Kafka: Man kann doch nicht nicht-leben. Texte zwischen Traum und Moderne.
Hg. und mit einem Essay von Bruno Kern.
Marix Verlag, Wiesbaden 2023.
238 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783737412209

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