Ein Vademekum der Identitätssuche
Über Dmitrij Kapitelman und seine Analyse einer beängstigenden, fragilen Gegenwart
Von Thorsten Schulte
Der 1986 in Kiew geborene Schriftsteller Dmitrij Kapitelman hat mit seinen ersten drei autofiktionalen Romanen ein außergewöhnliches Vademekum der Identitätssuche veröffentlicht. Kapitelman kam als Kind nach Deutschland. Die Familie wohnte in einem Asylbewerberheim und betrieb ein Lebensmittelgeschäft mit osteuropäischen Spezialitäten in Leipzig. Das Lächeln meines unsichtbaren Vaters, Kapitelmans literarisches Debüt, handelt von einer Reise; der Autor begibt sich mit seinem jüdischen Vater auf Identitätssuche nach Israel. In seinem zweiten Roman Eine Formalie in Kiew wird der einbürgerungswillige Ukrainer von seiner deutschen Sachbearbeiterin wegen eines benötigten Formulars zurück nach Kiew geschickt. In Russische Spezialitäten berichtet Kapitelman von der Entzweiung mit seiner der russischen Propaganda verfallenen Mutter: „Denn von ihr geht die Kälte des Krieges aus, die große, autoritäre Gewalt des Kremls, die von allen Seiten herandrängt“, schreibt er.
In Kapitelmans Büchern geht es um das Judentum und um Antisemitismus. Es geht um den brutalen Angriffskrieg Russlands und den Wert der Freiheit, um das Erstarken des Rechtspopulismus in Deutschland und die Erschütterung der Demokratie. Seine Bücher sind präzise Gesellschaftsanalyse in Romanform. Sie greifen die tiefen Konflikte der Gegenwart auf, die bedrohliche Spaltung der Gesellschaft sowie die möglicherweise immer schwierigere Suche nach Halt. Es wird vor allem für diejenigen schwerer, welche wie der Autor in der Familie und in mindestens zwei Ländern zwischen die Fronten geraten und sich dabei zu verlieren drohen. Kapitelman fühlt sich „wie ein Fremder in unserem Familienbetrieb“. Wohin gehört er? Die Fremdheit in Deutschland sei „die heimischste Fremdheit, die ich habe“. Später bezeichnet er die Ukraine ebenfalls als „heimische Fremde“, in der „alles doppelt bedrohlich“ für ihn wirke. „Solange die Faschisten mich nicht mit dem Eispickel jagen, kann ich Deutschland jedenfalls nicht einfach so zurücklassen, liebe Landsleute“, erklärt er in Eine Formalie in Kiew. „Ich fühle mich nicht bereit für all diese heranrauschende Gewalt“, verzweifelt er beinahe in Russische Spezialitäten und meint sowohl den Wahnsinn der Kriege als auch die immer mehr Wahlen gewinnenden deutschen Rechtsextremisten.
Viele teilen diese Ängste. Viele taumeln im Themenkreis rund um identitätsstiftende Gemeinsamkeiten, Heimat und Zugehörigkeit. Viele fühlen die Bedrohungen intensiv. Auch deswegen ist das Interesse an Dmitrij Kapitelman groß. Russische Spezialitäten wurde für den Deutschen Buchpreis 2025 nominiert – in einem beängstigenden und fragilen Jahr, unterstrich die Jury bei der Vorstellung der Longlist. Die aktuelle Fragilität verdeutlicht auch eine Veranstaltung mit Kapitelman im überfüllten Veranstaltungsraum der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden am 21. August 2025. Die vorher angemeldeten Gäste wurden von Polizeibeamten beschützt und mussten eine Vereinzelungsanlage passieren, um teilnehmen zu können. Unverzichtbare und wichtige Maßnahmen in Zeiten wie diesen, die Sicherheit geben und zugleich zeigen, welchen Gefahren jüdisches Leben in Deutschland wieder ausgesetzt ist.
Dmitrij Kapitelman steht vor Beginn seiner Lesung vor der Synagoge, fotografiert sie und spricht über ihre Geschichte: In den Novemberpogromen 1938 zündeten Faschisten das Gebäudein der Wiesbadener Friedrichstraße zwar an, sie wurde allerdings nicht zerstört. Nach dem Krieg wurde sie von der US Army notdürftig repariert. Wegen der starken Schäden am Gebäude musste sie 1963 dann doch abgerissen werden. Während Kapitelman aus Russische Spezialitäten liest, hängt hinter ihm ein großformatiges Bild aus dem September 1966, von der Einweihung der neu gebauten Synagoge und der Einbringung der Thora-Rollen. Kapitelmans Lesung ist Teil eines Kulturprogramms des Zentralrats der Juden, bei dem er in verschiedenen Gemeinden in ganz Deutschland auftritt.
Im Verlauf der Lesung wird es immer heißer im Raum, der Sauerstoff scheint schnell aufgebraucht. Eine erdrückende Atmosphäre. Kapitelman und seinen Gästen steht Schweiß auf der Stirn. Und dann liest er eine Stelle aus Russische Spezialitäten, welche zusätzlich den Atem stocken lässt: Der Erzähler harrt in einem Bombenbunker aus, Detonationen erschüttern den Schutzraum, das Licht geht aus. Er überlebt. Seine Mutter schreibt ihm eine SMS: „Ja, es besteht ja auch gar keine richtige Gefahr. Russland beschießt ja ausschließlich militärische Ziele.“ Stets nähert sich der Autor dem Geschehen pointiert, klar und ohne allegorisches Versteckspiel, zugleich mit Sarkasmus und mit einem Sprachwitz, der Leichtigkeit in all die Tragik bringt. Denn nach der SMS reift im Erzähler ein Entschluss: „Ich werde meiner Mutter keinen Speck mitbringen! Kein Bekenntnis zum Existenzrecht der Ukraine, kein ukrainisches Salo!“
Im Veranstaltungsraum der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden wird an dieser Stelle gelacht und applaudiert. Lachen trotz der Fassungslosigkeit über die Worte der Mutter an den Sohn, während dieser in Lebensgefahr schwebt. Lachen, um die Anspannung abzubauen. Humor ist Teil der Wirklichkeit. Indem man das Absurde dieser Situation annehme, komme man dem Geschehen noch näher, unterstreicht Kapitelman während der Lesung.
Während in Wiesbaden diskutiert wird, zerfällt in der Ukraine eine Welt. Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine konnte Kapitelman lange nicht schreiben. Das sei paralysierend für ihn gewesen. Sein Bericht über die Reise ins Kriegsgebiet ist intensiv – die Stille auf den Straßen, die quecksilbrigen Funken im Himmel, das ferne Grollen von Mörsergranaten, die zerschossenen Häuser. „Das ganze Land brennt“, schreibt er. Viele Ukrainer sind zermürbt. Es geht bei der Identitätssuche nicht mehr primär um Selbstentfaltung, sondern um das Problem der Selbsterhaltung. Und diese findet in Gemeinschaft statt. Politische Akteure betonen in dieser Zeit das Miteinander besonders. Man versucht, Gemeinsamkeiten – stabilisierende Sinnbezüge – zu identifizieren. Essen und Sprache halten Menschen beispielsweise in der Fremde zusammen. Soziale und kulturelle Teilhabe sollen gestärkt werden, letztlich der Demokratie zu Resilienz zu verhelfen.
Doch Kapitelman warnt vor zu hohen Erwartungen: „Wir leben in einer Zeit der Desinformation. Wir können uns als Gesellschaft nicht mehr auf Fakten und Konsens einigen.“ Als Journalist schreibt Kapitelman unter anderem für Die Zeit und konstatiert, es werde nach über drei Jahren Angriffskrieg immer schwerer, bei den Zeit-Lesenden noch Interesse für die Ukraine zu erzeugen. In den Tagesnachrichten kommt das gelebte Leben nicht vor. Mit seinen Büchern arbeitet Kapitelman dagegen. Die Romane sprechen auf andere Weise, berühren tiefer, bisweilen schockhaft. Es ist keine Distanz zum Erzählten zu erkennen. In Bildern von enormer Eindringlichkeit schildert Dmitrij Kapitelman, was Krieg auch fernab der Frontlinien bedeutet.
Seine Bücher sind Meisterwerke, seine Reportagen aber auch. Sie sind immer im unverkennbaren Kapitelman-Stil gehalten: jener Leichtigkeit ohne Schwermut, mit Humor und Tiefgang. Unlängst begab er sich für Die Zeit auf eine Wanderung, genau zweihundertundein Jahre nach Heinrich Heine auf dessen Spuren im Harz. Kapitelman entdeckt am Wegesrand weiße Tagesfalter. Sie „stören sich nicht weiter daran, dass ein wandernder Jude sich ganz nah an sie heransetzt“, schreibt er. Jeder einzelne von Kapitelmans Texten ist von dieser Haltung des Dialogs bestimmt. Er schaut in die Welt, in diesem Fall auf eine scheinbare Harzer Harmonie, setzt eine klare Botschaft und scheint die Reaktion abzuwarten. Seine poetische Reportage ist nicht verschlossen, seine Texte sind nie hermetisch. Eine Hand ist ausgestreckt und scheint die Lesenden ins Gespräch zu ziehen – um die Identitätssuche fortzusetzen und die beängstigende Gegenwart zu analysieren und gemeinsam zu verkraften.
Die Reportage „Wandern im Harz: Sonne, du schusselige Schwindlerin“ (DIE ZEIT, 34/2025) ist online verfügbar.













