Relativ normale Menschen

Mit ihrem Debütroman „Der leere Platz“ rückt Marion Karausche das Tabuthema psychische Erkrankung in den Fokus

Von Johanna MauermannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johanna Mauermann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich ist es die perfekte Familienidylle:

In ihrem Leben, dachte Marlen oft zufrieden, stimmte alles. Sie hatte einen liebenswerten Mann, mit dem sie sich bestens verstand, und zwei bezaubernde Kinder. Seitdem sie ausgewandert waren, kamen dazu noch eine große helle Wohnung am Meer und sogar eine Haushaltshilfe.

Marlen geht in ihrer Mutterrolle völlig auf und genießt das privilegierte Leben in Marokko. Doch als der Sohn Kai, bisher ein ruhiger und mustergültiger Junge, nach seinem Schulabschluss zu einer Reise aufbricht, er nicht mehr zurückkommt und keinerlei Lebenszeichen sendet, bis er nach drei Monaten komplett entfremdet wieder vor der Haustür steht, gerät das Glück aus den Fugen. Das Studium, das Kai in Deutschland beginnt, bricht er bald darauf ab, seine seltenen Wortmeldungen werden immer kryptischer. Er sei aus einem lebenslangen Schlaf erwacht, wiedergeboren und befreit – seine Eltern sollten sich keine Sorgen machen und ihr eigenes Leben leben. Am Tisch bleibt fortan ein Platz leer. Die Wege der Familie kreuzen sich erst wieder in der psychiatrischen Klinik, in die Kai bald zwangseingewiesen wird. Nach kurzer Zeit erfolgt die Diagnose: Schizophrenie.

Marion Karausche, die als Dolmetscherin und Übersetzerin arbeitet, gelingt mit ihrem Roman das Kunststück, ein schwieriges und häufig tabuisiertes Thema authentisch darzustellen. Wie belastend eine psychische Krankheit nicht nur für die Betroffenen, sondern ebenso für die Angehörigen sein kann, und mit welch stetigem Auf und Ab sie verbunden ist, zeigt die Autorin ungeschönt, ohne jedoch Schuldzuweisungen zu formulieren. Die Figuren sind dabei durchweg überzeugend gezeichnet. Man erfährt so viel über Persönlichkeit, Vergangenheit und Vorlieben der Familienmitglieder, dass fast der Eindruck entsteht, durch die Zeilen tatsächlich existierende Menschen kennenzulernen.

Der leere Platz ist ein langsam erzählter Roman, dessen Fokus auf den komplexen Emotionen der Charaktere und ihren Beziehungen zueinander liegt. Obwohl allerhand passiert, vom Verbrennen eines Autos bis zu einer Hunde-Rettungsaktion, geht es hierbei weniger um die Handlung an sich als um die Aufschlüsslung und die Nachvollziehung menschlichen Verhaltens, das man sonst vielleicht zu verurteilen geneigt wäre.

Vor allem ist es die Mutter, Marlen, an deren Gefühlswelt der Leser teilhat. In der Suche nach ihrem verlorenen Sohn und im Versuch, ihn zu retten, verliert sie sich schrittweise selbst. Während der Ehemann sich entzieht und eine Affäre beginnt, trifft auf sie das Zitat von Sarah Blaffer Hrdy zu, welches Karausche ihrem Roman voranstellt: „Eine Mutter kann nur so glücklich sein wie ihr unglücklichstes Kind.“ Marlen isst zusehends weniger, verliert aus Sorge um ihren Sohn sämtliche Lebensfreude und zieht sich aus dem gesellschaftlichen Leben zurück. Beeindruckend ist, wie Karausche das Geschehen rund um das psychische Leiden des Sohnes mit Rückblenden zu Marlens eigener Familiengeschichte verflicht. In der Beschäftigung mit ihrer Kindheit und Vergangenheit entdeckt die Mutter zahlreiche Parallelen zu Kai, wobei ungeachtet aller Suche nach Gründen am Ende doch die Erkenntnis der eigenen Machtlosigkeit steht. Sie muss feststellen, dass sie ihren Sohn nicht von seinen Entscheidungen abhalten kann, obgleich er sich mit diesen selbst schadet.

Während Karausches erster Roman inhaltlich auf ganzer Linie überzeugt, weist er stilistisch leider ein paar Schwächen auf. So muten die gezeichneten Sprachbilder zuweilen schief an. Zwar klingt es schön, wenn beispielsweise die Beklemmung „weggeschoben wird wie ein Traumfetzen, der morgens noch hängen geblieben ist, nachdem sich der restliche Traum schon längst wie Frühnebel aufgelöst hat.“ Oder wenn sich „die ersten fahlen Lichtstrahlen durch die Rillen der Jalousien pressen und wie sanfte Hände über die Möbel streichen, als wäre es ihre allmorgendliche Aufgabe, sie für den bevorstehenden Tag zu arrangieren.“ Spätestens aber, wenn man das vor seinem inneren Auge zu visualisieren versucht, tauchen Fragezeichen auf. Auch wenn auf einer Seite zehn Sätze mit demselben Wort anfangen, lässt sich zwar annehmen, dass das ein Stilmittel sein soll, es wirkt jedoch eher ungeschickt. Kommen solche allzu gewollt poetischen Beschreibungen und repetitiven Satzstrukturen zu Beginn des Romans noch öfter vor, hat man im weiteren Verlauf allerdings den Eindruck, dass sich Karausche mehr und mehr ‚einschreibt‘. Mit immer besser dosierter Sprachpoesie schildert sie das ‚Gewitter‘ im Kopf der Figuren und stellt literarisches Talent unter Beweis, das neugierig auf künftige Texte der Autorin macht.

Denn auch Der leere Platz ist allemal eine lohnende Lektüre. Einfühlsam, vielerorts düster, aber manchmal auch komisch und hoffnungsvoll zeigt Karausche mit ihrem Roman, dass psychisch Erkrankte und ihre Familien vor allem eines sind: relativ normale Menschen.

Anmerkung der Redaktion: Die Rezension gehört zu den studentischen Beiträgen, die im Rahmen eines Lehrprojekts im Sommersemester 2022 entstanden sind und gesammelt in der Oktoberausgabe 2022 erscheinen. 

Titelbild

Marion Karausche: Der leere Platz.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2021.
256 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958514

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