Vergeben, aber nicht vergessen

In „Mama Penee“ kommt eine Herero Stimme zum Genozid in Namibia zu Wort

Von Julia AugartRSS-Newsfeed neuer Artikel von Julia Augart

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Jahohora Inaavinuise Petronella – später Mama Penee – erlebt als Elfjährige wie deutsche Soldaten ihre Eltern ermorden und Spaß daran haben. Darauf wartend, dass ihr nun das gleiche Schicksal widerfährt, bemerkt sie einen jungen Soldaten, der ihr signalisiert zu verschwinden. Damit realisiert sie, dass ihre Bestimmung eine andere ist – zu leben – und dass sie auch leben möchte.

Mit dieser Erinnerung steigt die Erzählung von Mama Penee im kolonialen Deutsch-Südwestafrika ein. Beim Völkermord an den Herero handelt es sich um den ersten Genozid des 20. Jahrhunderts, in dem schätzungsweise 80.000 bis 100.000 Menschen von deutschen Soldaten ermordet wurden; erst vor kurzem wurde er von der deutschen Regierung als Genozid anerkannt, das Versöhnungsabkommen wird noch immer von den deutschen und namibischen Regierungen verhandelt. Die Erzählung von Mama Penee schildert, wie das junge Mädchen monatelang durch das fast menschenleere Land wandert, sich von Beeren und Wurzeln ernährt, den deutschen Soldaten ausweicht und immer wieder dem Genozid begegnet: toten Männern, Frauen, Kindern…

Weitere Stationen im Leben von Mama Penee sind ihre Arbeit im Haushalt auf einer von Deutschen geführten Farm, ihre Hochzeit und ihre fünf Kinder, zu denen später noch die Enkelkinder hinzukommen. Durch die Erzählung hindurch, aber insbesondere in den Gesprächen mit den Enkelkindern wird deutlich, was für eine besondere und weise Frau Mama Penee war. So schützt sie sich vor möglichen Vergewaltigungen durch die deutschen Soldaten, indem sie sich mit Blättern einreibt, die einen Ausschlag verursachen.  Es wird erzählt, wie sie sich gegen ihren Ehemann durchsetzt, wenn es beispielsweise um die Namen ihrer Kinder geht, und sich später von ihm scheiden lässt. Ihre Kinder und Enkelkinder, die in der Schule zwar unterrichtet werden, aber nicht lernen, erzieht sie durch Beispiele, Erklärungen und Geschichten zu kritischen und kritisch denkenden Menschen – mit Fokus auf die eigene Geschichte und nicht die der Unterdrücker. Und dennoch kann sie Mitleid mit den deutschen Soldaten aufbringen, die nur aus Angst getötet haben, denn „Fear is never clever, but if you don’t control it, it will make you do terrible things.“ Auch das von den deutschen Kolonialherren aufgezwungene viktorianische Kleid, das ihr anfangs sehr fremd ist, wird letztlich – von den Herero als traditionelle Kleidung getragen – auch von ihr als eigene Tradition und nicht als Ausdruck kolonialer Unterdrückung anerkannt. Trotzdem bleibt sie kritisch und scheint damit fast wie ein Orakel, als sie vom ersten unabhängigen afrikanischen Staat hört.

„Of course, some of the educated blacks would like to have the same things that the whites have. …The whites have realised that when the educated Africans started to think like them, wishing for the same things that whites had, they could be given freedom as this won’t change white domination.”

Mama Penees Geschichte steht in der afrikanischen Tradition des „story tellings“, in der Erfahrungen, Traditionen und indigenes Wissen weitergegeben werden, aber auch die Ausbildung und Erziehung zum kritisch denkenden Menschen erfolgt. Neben ihrer eigenen Geschichte wird die Geschichte ihrer Ahnen, die Geschichte Namibias, der deutschen Kolonialherrschaft und des Genozids sowie der Apartheidzeit erzählt, in denen die Vergangenheit hinter sich gelassen, aber nicht vergessen wird. Ihre Geschichte und Geschichten wurden von ihrem Enkelsohn, dem Sohn ihrer einzigen Tochter, Uazuvaa Ewald Kapombo Katjivena, aus Erinnerungen und Notizen aufgeschrieben und veröffentlicht. Damit ergänzt und bereichert eine namibische, genauer gesagt eine Herero Stimme den oft sehr westlich dominierten Diskurs zum Genozid an den Herero in einem eigenen und charakteristischen Narrativ – dem Erzählen und Überliefern von Geschichten.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Uazuvara Ewald Kapombo Katjivena: Mama Penee. Transcending the Genocide.
University of Namibia Press, Windhoek 2020.
168 Seiten, 33,40 EUR.
ISBN-13: 9789991642512

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