Ein Roman, der keine Ruhe gibt

Andreas Brandtner und Volker Kaukoreit haben einen Band mit Erläuterungen und Dokumenten zu Marlen Haushofers Roman „Die Wand“ herausgegeben

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Just in den Tagen, in denen die Verfilmung von Marlen Haushofers Klassiker „Die Wand“ in den Kinos anlief, brachte der Reclam Verlag ein Bändchen mit „Erläuterungen und Dokumenten“ zum Roman selbst auf den Markt. In dem von Andreas Brandtner und Volker Kaukoreit herausgegebenen Buch kommen mit Julian Pölsler und Martina Gedeck auch der Regisseur und die Hauptdarstellerin des Films zu Wort.

Eröffnet aber wird der Band mit der Rubrik „Kommentar, Wort- und Sacherklärungen“. Hier werden etwa medizinische Begriffe wie Hypochonder erläutert, in Hinblick auf das im Roman eine gewisse Rolle spielenden „Jagdhauses“ über Biografisches aus Haushofers Leben informiert, historisches über Karl VI. dargelegt oder anlässlich der Sekunden, welche die namenlose Protagonistin zwischen Blitz und Donner zählt, Physikalisches über Licht- und Schallgeschwindigkeit erklärt. Zudem werden regional gebräuchliche Begriffe wie Erdäpfel, Stadel, Jause, Kasten oder Keusche erläutert. Auch erfährt man Philosophiegeschichtliches über die Stoa, Ornithologisches über den Kleiber und woher Haushofer ihr Wissen über Pflanzen bezog. All das mag seine Berechtigung haben, dennoch hätte vielleicht auf den einen oder anderen Kommentar verzichtet werden können. „Mädchenhandel“, wird man etwa unterrichtet, „ist ein gängiges Thema der (trivialen) Kriminalliteratur. Selbstverständlich taucht es auch in sogenannten Groschenheften auf.“ Wenn dies selbstverständlich ist, wieso wird es dann überhaupt erwähnt und auch noch mit der Abbildung des Umschlags eines solchen Heftes belegt? Unkommentiert bleiben hingegen die Namen der Haustiere mit ihren auch geschlechtlichen Konnotationen wie etwa des Hundes Luchs und der Katze Perle. Mitgeteilt wird nur, dass Bella, der Namen der Kuh, „die Schöne“ bedeutet; offenbar, weil es sich um ein Fremdwort handelt.

Dem Kommentar- und Erläuterungsteil schließen sich „Statements von Marlen Haushofer“ an. Zu den herangezogenen Selbstzeugnissen der Autorin zählen bis dahin unveröffentlichte Briefe, aus denen man etwa erfährt, wie wichtig es ihr war, dass „das, was ich über Tiere u[nd] Pflanzen schreibe, auch sti[mm]t“. Man könne „da gar nicht genau genug sein.“ Die Prioritätensetzung der Autorin und Hausfrau wird deutlich, wenn sie erklärt „Nebenbei“, also neben der Arbeit an dem Roman, „muß natürlich der Haushalt weiterlaufen.“ Und in einem Interview aus dem Jahr 1968 klärt sie darüber auf, was es mit der ominösen Wand im Buch auf sich hat: „Jene Wand, die ich meine, ist eigentlich ein seelischer Zustand, der nach außen plötzlich sichtbar wird.“ Ansonsten sticht ins Auge, dass sich Haushofers GesprächspartnerInnen der vier in den Band aufgenommenen Interviews besonders für den autobiografischen Anteil des Romans interessieren. Nach seiner künstlerischen Gestaltung hat hingegen nicht eine(r) gefragt.

Den Selbstzeugnissen schließt sich ein Abriss der „Entstehungs- Veröffentlichungs- und Verbreitungsgeschichte“ an, wobei insbesondere die „Entstehungsgeschichte“, soweit es die Quellen zulassen, konzis nachvollzogen wird. Allerdings war eine „auch nur halbwegs erschöpfende Rekonstruktion der Textgenese“ aufgrund der misslichen Quellenlage nicht möglich, wie die Brandtner und Kaukoreit beklagen.

Dem literarhistorischen Abriss folgen meist auszugsweise abgedruckte Dokumente aus der „Rezeptionsgeschichte“, die sich hier in „Feuilletonkritik“, „Forschungsliteratur“ und „Vermischte Stimmen“ aufspaltet. Jedem dieser drei Teile haben die Herausgeber eine „Vorbemerkung“ vorangestellt, in der sie etwa darlegen, dass Haushofers Roman „ein ausgesprochen vielschichtiges und somit vielen Interpretationsansätzen offenstehendes Buch“ ist, das bei seiner Veröffentlichung im Jahr 1963 auf eine „recht gespaltene Feuilletonkritik“ stieß. Die Dokumente bestätigen dies. I. L. etwa attestiert Haushofer 1964 „echt weibliche Gründlichkeit“, die dazu geführt habe, dass der Autorin die „Einzelschilderungen der Jahreszeiten […] unnötig zu breit gerieten“. Haushofers Schriftstellerkollege Oskar Jan Tauschinski bescheinigt der Protagonistin des Romans wenige Jahre darauf einen „urmütterlichen Instinkt“. Die wohl härteste und sicherlich abwegigste Kritik aber ereilte Haushofer erst postum. Die Literaturkritikerin Karin Fleischanderl rückte die Autorin 2003 in die Nähe des Nationalsozialismus, indem sie ihr und dem Roman „Menschenfeindlichkeit gepaart mit Naturverherrlichung und idealisierte Mütterlichkeit“ bescheinigt, um die suggestive Frage „gab es das nicht schon einmal?“ anzuschließen. „Ahnungslos“ zeige sich Haushofer, „und das gut zwanzig Jahre nachdem sich eine reale Katastrophe ereignet hatte“. Die Literaturwissenschaftlerin Daniel Strigl widersprach ihr umgehend: Fleischanderl tue Haushofer „Gewalt an“.

Dem muss wenig hinzugefügt werden. Daher sei nur noch angemerkt, dass die anhaltende Beschäftigung und die Vielfalt der Interpretationen – auch der verfehltesten – von der Qualität eines Romans zeugen, der auch ein halbes Jahrhundert nach seinem Erscheinen noch immer keine Ruhe geben will.

Titelbild

Volker Kaukoreit / Andreas Brandtner: Marlen Haushofer. Die Wand. Erläuterungen.
Reclam Verlag, Ditzingen 2012.
145 Seiten, 4,80 EUR.
ISBN-13: 9783150160732

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