Das Ringen um Erinnerung

Warum Kazuo Ishiguro den Literaturnobelpreis 2017 verdient hat

Von Stefanie FrickeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefanie Fricke

Ein seltsamer Nebel liegt über dem frühmittelalterlichen England in Der begrabene Riese, Kazuo Ishiguros neuestem Werk (2015). Der Nebel lässt die Menschen vergessen, gute wie auch schlechte Erinnerungen entgleiten ihnen, und der Roman stellt die Frage, was besser ist: weiterzuleben in relativer Zufriedenheit ohne klares Wissen über die eigene Vergangenheit oder sich zu erinnern, auch wenn das vielleicht die Beziehung zur geliebten Ehefrau zerstört und Kelten und Angelsachsen sich aus Rache gegenseitig niedermetzeln werden.

Kazuo Ishiguro, dieser unerwartete, jedoch höchst würdige Nobelpreisträger des Jahres 2017, gibt keine Antwort auf diese Frage. Auch in seinen anderen Werken (ver)urteilt er nicht, sondern stellt lediglich immer wieder eindringlich dar, wie einfache Menschen mit persönlicher und politischer Schuld leben müssen. So in seinem zweiten Roman Der Maler der fließenden Welt (1986), in dem ein japanischer Künstler sein Talent in den Dienst des japanischen Nationalismus und Expansionismus stellt. Oder in dem 1989 mit dem Booker Prize ausgezeichneten Was vom Tage übrigblieb (glänzend verfilmt von James Ivory mit Anthony Hopkins und Emma Thompson), in dem ein englischer Butler bedingungslos einem englischen Lord dient, der mit den Nazis paktiert.

Ishiguros Figuren sind durchgehend keine Helden, die gegen die Umstände aufbegehren. Es sind Mitläufer die sich mit dem System arrangieren und versuchen, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Die Passivität der Figuren wird am deutlichsten in Alles, was wir geben mussten (2005), neben Was vom Tage übrigblieb der erfolgreichste Roman Ishiguros. Diese Dystopie spielt in einem alternativen Großbritannien, in dem die meisten Krankheiten ausgerottet wurden. Dies ist allerdings nur möglich, weil Klone als menschliche Ersatzteillager gezüchtet werden. Ishiguros Roman stellt das Aufwachsen einer Gruppe dieser Klone dar, unterläuft dabei jedoch geschickt die Erwartungen (und Hoffnungen) der Leser: Anders als in anderen Dystopien findet hier eine Rebellion der Hauptfiguren gegen das unmenschliche System nicht statt, wird nicht einmal in Erwägung gezogen. Das Ungeheuerliche ist hier so sehr Teil der Normalität und der eigenen Identität, dass die Figuren es ohne Widerstand als ihr Schicksal annehmen.

In ihrer Begründung für die Verleihung des Nobelpreises schreibt die Akademie, dass Ishiguro „in Romanen von starker emotionaler Wirkung den Abgrund in unserer vermeintlichen Verbundenheit mit der Welt aufgedeckt hat“. Das Ringen um Erinnerung, sei es persönliche oder auch nationale, ist das große verbindende Thema in seinen Werken. Ishiguro ist berühmt für seine unzuverlässigen Ich-Erzähler, die sich in mäandernden Rückblenden an ihre Vergangenheit erinnern und dabei versuchen, Sinn zu stiften und sich vor ihrer Schuld und der Unerträglichkeit der eigenen Existenz zu verstecken. Erzählt in ökonomisch klarer, präziser und eleganter Sprache blitzen unter der scheinbar ruhigen Oberfläche der geschilderten Alltagsereignisse immer wieder Abgründe, Verdrängtes und existenzielle Fragen auf.

Erinnerungen, und damit jegliche Realität und Identiät, sind in Ishiguros Texten immer subjektive Konstrukte. Auch wenn er häufig als realistischer Autor dargestellt wird, ist ihm ein einfacher Realismus fern – nicht umsonst beschreibt Sara Danius, die Sekretärin der Akademie, Ishiguros Stil als eine Mischung aus Jane Austen und Franz Kafka. Es ist dieses Kafkaeske, das Unterlaufen der scheinbaren ‚Realität‘ durch irreale Elemente, das in Deutschland meist unbeachtet bleibt, seit seinem Erstling Damals in Nagasaki (1982) jedoch in vielen Werken Ishiguros eine bestimmende Rolle spielt. Vermischt sich in diesem Roman, wie auch in Als wir Waisen waren (2001), realistisches Erzählen mit wohl dosierten surrealen Elementen, so gehorcht Ishiguros längster und sperrigster Roman, Die Ungetrösteten (1995), ganz der Logik von Träumen.

Ishiguro zeigt zudem keinerlei Berührungsängste mit populären Genres wie dem Science Fiction oder dem Fantastischen Roman, sondern nutzt deren Erzählmuster dafür, seine eigenen Geschichten zu transportieren. Die fantastisch-entrückten Räume von Alles, was wir geben mussten und Der begrabene Riese wählte er laut eigenen Aussagen vor allem, um  das Allgemeingültige, Universelle seiner Geschichten zu betonen.

Kazuo Ishiguro begreift sich dezidiert als internationalen Schriftsteller. 1954 in Nagasaki geboren, zogen seine Eltern 1960 nach England, wo Ishiguro aufwuchs und Philosophie, Anglistik und creative writing studierte. Erst 1989 kehrte er für einen Besuch nach Japan zurück. Ishiguro ist gleichermaßen von der japanischen wie auch der westlichen Kultur beeinflusst und schreibt für ein globales Publikum, vermeidet daher laut eigenen Aussagen sogar Sprachspiele und Motive, die in der Übersetzung verloren gehen würden oder nur einem geographisch begrenzten Publikum zugänglich wären.

Auch das für Ishiguro typische Spiel mit weltweit bekannten Klischees und Mythen trägt zur globalen Wirkung seiner Texte bei. Nachdem sich Ishiguro in seinen frühen Werken auf die imaginäre Rekonstruktion des Japans seiner Kindheit konzentriert hatte – wiederum unter Rückgriff auf Klischees wie die westliche Vorstellung über die vermeintliche Neigung der Japaner zum Selbstmord (in der Kurzgeschichte „A Family Supper“ von 1983 und den Romanen Damals in Nagasaki und Der Maler der fließenden Welt) –, wandte er sich mit Was vom Tage übrigblieb britischen Mythen zu. Diese werden dabei stets kritisch, zum Teil auch ironisch unterlaufen: In Der vergrabene Riese entpuppt sich der heldenhafte König Artus als knallharter Realpolitiker, der aus politischen Erwägungen einen Genozid verübt. Die Internatsidylle in Alles, was wir geben mussten dient zur Aufzucht und Indoktrination von Klonen. Und der englische Meisterdetektiv in Als wir Waisen waren glaubt in absurder Weise daran, dass er die Welt vor einem neuen Krieg retten kann, schafft es aber nicht einmal, seine vor Jahrzehnten verschwundenen Eltern zu finden.

Am deutlichsten wird die Dekonstruktion auch politisch höchst potenter Mythen in Was vom Tage übrigblieb, in dem Ishiguro mit der aus P.G. Woodhouse bekannten Figur des Butlers und den Charakteristika der country house novel spielt. Das Herrenhaus, das symbolisch für Großbritannien steht, ist in der Gegenwart des Romans, die am Beginn der Suez-Krise angesiedelt ist, längst in den Besitz eines Amerikaners übergegangen. Nostalgisch-konservative Vorstellungen von „Englishness“, die in TV-Serien und der britischen Tourismuswerbung propagiert und politisch instrumentalisiert werden, dekonstruiert Ishiguro durch seine Darstellung des Klassensystems und der Verstrickungen der englischen Oberklasse in Antisemitismus und Faschismus. Ein Autor, der die narrative Konstruktion von ‚Realität‘ thematisiert und die fatale Macht politischer Mythen demonstriert, ist wahrlich nicht die schlechteste Wahl für das Jahr 2017.