Konsistente Absichten, Tagespolitik und Literatur

Daniel Kehlmann im Gespräch mit Heinrich Detering

Von Johann HolznerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Johann Holzner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Heinrich Detering bleibt stets vornehm-zurückhaltend; aber er stellt Daniel Kehlmann durchwegs scharfsinnige Fragen und konfrontiert ihn hartnäckig immer wieder mit wohlüberlegten Interpretationsansätzen, die zum Weiterdenken oder auch zum Widerspruch herausfordern: Was dabei herauskommt, ist ein höchst kultivierter Dialog über die Möglichkeiten und Grenzen der Literatur und über den zeitgenössischen Literaturbetrieb (keineswegs nur im deutschsprachigen Raum).

Es geht in diesem Dialog zuallererst einmal, das versteht sich, um das Werk von Kehlmann selbst: um Traditionen, an die er anknüpft, um sein Studium der Philosophie und seine Prägung durch das Theater, vor allem auch um „das Wiederklingen anderer Schriftsteller im eigenen Schreiben“. Kehlmann führt eine Reihe von Überlegungen weiter, die er schon in verschiedenen Vorträgen und Poetik-Vorlesungen ausgebreitet hat, zuletzt in den Frankfurter Vorlesungen – die unter dem Titel Kommt, Geister 2015 erschienen sind, er rückt jedoch auch mitunter von einzelnen markanten Standpunkten entschieden ab, die er nicht mehr so rigoros festgepflockt sehen will wie früher. Vor allem die notorische Distanz zu tagespolitischen Fragen hat er inzwischen aufgegeben. Er hält es zwar nach wie vor anders als Günter Grass (oder auch etliche Kolleginnen und Kollegen in Österreich) und meldet sich ganz und gar nicht unausgesetzt zu allem und jedem zu Wort, doch wenn es (ihm) darauf ankommt, Klartext zu reden, dann rechnet er ab, dann redet er neuerdings Deutsch.

In seiner Dankesrede anlässlich der Verleihung des Anton-Wildgans-Preises am 15.5.2019 im Haus der Industrie in Wien hat er denn auch zunächst noch einmal daran erinnert, dass er es eigentlich immer anders halten wollte. So wie seine Vorbilder Samuel Beckett, Jorge Luis Borges und Vladimir Nabokov nämlich, von denen man nie Statements zur Tagespolitik zu hören bekommen hätte. Aber in einer Phase, in der Österreich unter Kanzler Sebastian Kurz draußen in der Welt mittlerweile neben Donald Trumps Amerika, Viktor Orbáns Ungarn und Jair Bolsonaros Brasilien genannt werde, dürfe er nicht mehr länger schweigen. „Möchten Sie“, so wandte er sich also am 16.5.2019 in Der Standard an Sebastian Kurz,

wirklich der Mann sein, der das bewirkt hat, möchten Sie tatsächlich von künftigen Historikern beschrieben werden als jener Regierungschef, der einen das parlamentarische System, den Rechtsstaat und die Pressefreiheit offen verachtenden Innenminister ermöglicht und neben sich einen ehemaligen Neonazi als Vizekanzler geduldet hat? Wollen Sie die Farce nicht beenden?

Am 17.5.2019 sollte bekanntlich das berühmt-berüchtigte Ibiza-Video dieser Farce zack-zack-zack (© Heinz-Christian Strache) schon ein Ende bereiten. Gleichwohl, auch Kehlmanns Rede war in diesen Tagen in allen namhaften österreichischen Medien ein zentrales Thema.

Die Bedeutung des politischen Engagements beurteilt Kehlmann im Gespräch mit Detering also anders als früher. Aber nach wie vor gehört seine Sympathie in allererster Linie einer Literatur, die über formale Ansätze das Nachdenken über die denkbar schlimmsten und über leichtere Wendungen befördert, wie Ian McEwans Roman On Chesil Beach, in dem ein satanischer Autor-Erzähler akkurat und trocken aufweist, „wie teuflisch alles schiefgehen könnte und wie leicht es gewesen wäre, das Schiefgehen zu verhindern.“ Der Schriftsteller als Konstrukteur, der nicht von, sondern in einer bestimmten Zeit erzählt, ohne von einer längst festgelegten konsistenten Absicht sich treiben zu lassen, ist insofern weiterhin Kehlmanns Leitstern, und Leo Perutz demnach ein großer Lehrmeister, auch in dem Punkt, dass er, wann immer dies nötig wird, sich doch auch loszulösen vermag von seiner zunächst einmal exponierten Konstruktion.

Gelassen, oft sogar beinahe unsicher wirkt Kehlmann, sobald er auf seine eigenen Bücher zu sprechen kommt; ob es da um die Keimzelle des Romans Die Vermessung der Welt geht oder um den Zusammenhang zwischen Trump und Tyll oder auch um die viel kritisierte so genannte Salzburger Rede – in der Rückschau auf seine eigenen Arbeiten tendiert Kehlmann zu vorsichtigen, jedenfalls alles andere als arrogant-forschen Auslegungen. Die Literaturkritik könnte und sollte sich von derartigen Kommentaren gelegentlich wohl ohne weiteres eine Scheibe abschneiden. Wo er hin und wieder dann (auch in seinem Verständnis) doch zu weit geht, etwa wenn er die altehrwürdige Hypothese aufgreift, dass die dunklen Zeiten für den Künstler immer schon die besten gewesen wären, dort bremst er sich und schränkt er unverzüglich wieder ein: Das gelte nur, „wenn er [der Künstler] sie [die Zeiten] überlebt, und wenn er seine Arbeit machen kann.“ Mehrmals plädiert Kehlmann jedoch generell für eine größere Bescheidenheit in allen Kunstfragen: offen zu halten jedenfalls, was danach verlangt, und dort zurückzutreten, wo das geboten, wenn nicht ohnehin schon ganz unerlässlich scheint. Um das festzumachen: Kehlmann bewundert die Landschaftsbeschreibungen, die Adalbert Stifter und Marcel Proust geliefert haben, er selbst aber, räumt er ein, mache um derartige Schilderungen wenn möglich einen Bogen.

Dass er Thomas Mann schätzt, ist kein Geheimnis. Dass er aber auch den Autor des Romans Der veruntreute Himmel in die Riege der größten Romanciers des deutschsprachigen Raumes stellt, dürfte hingegen nicht nur die Franz-Werfel-Gemeinde überraschen. Auf Spuren, die er schon immer zu seinen Lieblingsautoren gelegt hat, weist er auch in diesen Gesprächen hin: unter anderem auf Alexander von Humboldts Ruderer im Dschungel (Mario, Gabriel, Julio und Carlos), auf John Updike, auf Robert Musils Mann ohne Eigenschaften. Was den Theaterbetrieb betrifft, so hält er weiterhin, allen Vorwürfen zum Trotz, er verteidige längst obsolete Regie-Auffassungen, an seiner bekannten Position fest; es sei doch nur in Deutschland zu beobachten, dass werkadäquate Inszenierungen gern als altmodisch verteufelt werden, überall sonst in der Welt, namentlich auch in New York, behalte das Prinzip der Werktreue unangefochten seine Gültigkeit.

In den 1990er Jahren, erzählt Kehlmann en passant, habe er in Wien Germanistik studiert, und dort hätte ein geradezu „erstickender Kleingeist“ geherrscht, vor allem in der Frage, was überholt und was Avantgarde sei. Nur die Schriften der Wiener Gruppe hätten etwas gegolten, alles andere sei als „konventionell und verstaubt“ in die letzten Nischen der Literaturgeschichte verbannt worden. Wendelin Schmidt-Dengler, den Kehlmann in diesem Zusammenhang als Lehrer zitiert, verdient indessen einen derartigen Nachruf nicht. Denn er war ein ausgewiesener Kenner der Literatur seit dem Humanismus, insbesondere auch der Literatur der Goethezeit sowie des 19. und 20. Jahrhunderts, nicht ganz zufällig schließlich auch Ehrenvorsitzender der Heimito von Doderer-Gesellschaft, und in seinen Vorlesungen kamen mitnichten nur H. C. Artmann, Ernst Jandl und Friederike Mayröcker zu Wort. Kehlmann dürfte etliche Lehrveranstaltungen Schmidt-Denglers versäumt oder verdrängt haben.

Am Ende vermittelt Kehlmann schließlich auch Einblicke in seine private Welt. Er äußert sich zu seinen Vorfahren wie auch zu dem wichtigsten Ereignis, das sein Leben und sein Schreiben und seine Perspektive auf die soziale Realität verändert habe: die Geburt seines Kindes. Die Erfahrung, für ein Kind und dessen Wohlergehen verantwortlich zu sein, diese Erfahrung hat, so Kehlmanns Bilanz, „die Themen, über die ich schreibe, und die Art, wie ich über die Welt und über das In-der-Welt-Sein denke, tiefgreifend verändert.“ Grundfragen und Zukunftsperspektiven des Sozialstaates beschäftigen ihn demzufolge mittlerweile ebenso wie Drachen, die man suchen muss, wo noch nie Drachen vermutet und gesehen worden sind.

Titelbild

Daniel Kehlmann: Der unsichtbare Drache. Ein Gespräch mit Heinrich Detering.
Kampa Verlag, Zürich 2019.
222 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783311140092

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