Kritik an den Zangen des Patriarchats
Hildegard Kellers Biographie „Das Leben der Alfonsina Storni“ verbindet auf bewundernswerte Weise erzählerische Elemente mit einer essayistischen Art
Von Werner Jung
Nachdem Hildegard Elisabeth Keller, Germanistin und Hispanistin, langjährige Literaturkritikerin und Schriftstellerin, eine fünfbändige, von ihr selbst übersetzte und kommentierte (Auswahl-)Ausgabe der argentinischen Schriftstellerin italienisch-schweizerischer Herkunft Alfonsia Storni (1892–1938) herausgebracht hat, legt sie nun eine in vielen Jahren entstandene zweibändige Biographie der Autorin nach. Dabei schreibt sich Keller selbst in ihre Storni-Biographie hinein und erzählt in einem umfangreichen letzten Kapitel davon, wie sie die Argentinierin für sich entdeckt hat und fasziniert worden ist, um sich schließlich ebenso editorisch-philologisch, biographisch wie auch in anderen Medien (im Film etwa) für Storni zu engagieren. Entstanden ist ein exzellent geschriebenes (also gut lesbares) Werk, für das Keller nicht nur allen noch erreichbaren lebendigen Spuren der Autorin nachgegangen ist, sondern auch in Bibliotheken und Archiven der Schweiz, Italiens und Argentiniens recherchiert hat, um ein anschauliches Bild der argentinischen Schriftstellerin zu zeichnen, die sich – ohne dafür explizite Formulierungen zu verwenden – als feministische Autorin (avant la lettre) in einer vom Patriarchat und einem südamerikanischen ‚Machismo‘ dominierten Umwelt verstanden hat. So heißt es in einer aufschlussreichen poetologischen Vorbemerkung zur letzten zu Lebzeiten 1938 erschienenen Anthologie einmal über ihr Frühwerk, nämlich die vier Bände, die zwischen 1916 und 1920 erschienen sind:
In dieser Form konnte die Kritik an den immer noch süßen, aber schon erkalteten Zangen des Patriarchats weltweite Verbreitung erlangen. Ist ein Schreibstil aber an sein Ende gekommen, kann man nicht dorthin zurückkehren, bloß weil der kritische Tonfall von einst so viele Menschen begeistert hat. Sonst macht man sich zum Plagiat seiner selbst.
Keller versteht es, auf bewundernswerte Weise erzählerische Elemente mit einer essayistischen Art zu verbinden, denn ihre beiden Bücher enthalten – weit über das Biographische hinaus – noch zahllose Passagen, in denen Stornis Werk kontextualisiert und interpretiert wird, wie auch ganze Kapitel, in denen das Nachwirken bzw. unterschiedlichste Facetten der Rezeptionsgeschichte dokumentiert werden. Storni wird als südamerikanische Schriftstellerin präsentiert, die auf der Höhe ihrer Zeit war und für heutige Leserinnen und Leser durchaus wiederentdeckenswert ist. Sicherlich werden sich einige von Kellers eigener ‚Lesemotivation‘ anstecken lassen:
Alfonsina kann schreiben, mit lammfrommer Miene rotzfrech. Sie hat einen grandios schrägen Humor, ist gewitzt und nie aufgeblasen. Ihr Revier ist die Großstadt. Sie beschreibt urbane Lebensmuster, Konsumverhalten und Deformationen des Menschlichen. Sie ist eine der ersten „new women“ in lateinamerikanischen Medien. Sie ist Schauspieldozentin, Theaterautorin und Regisseurin, ebenso fantasievoll und progressiv wie zermürbt und fehl am Platz. Dass ihre Flamme so früh erstickt wurde, geht unter die Haut: Vergessen, verdrängt und entstellt – die Pionierin verdient Licht, Aufmerksamkeit und Wertschätzung.
Und ebendies uns Leserinnen und Lesern vermittelt zu haben, ist das Verdienst der Arbeiten Hildegard Kellers.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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