Antisemitismus auf der Mikroebene

Sven Felix Kellerhoff beschreibt das Schicksal eines kleinen Dorfes in der Reichspogromnacht

Von Magnus MünzingerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Magnus Münzinger und Silva SchreinerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Silva Schreiner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 „Sechs Millionen Menschen“, schlussfolgert der Historiker und Journalist Sven Felix Kellerhoff in seinem 2018 erschienenen Sachbuch, „mussten sterben, weil untergeordnete Dienststellen und Einzelpersonen sich die nationalsozialistische Maxime des Judenhasses zu eigen machten und sie mit aller Kraft so gründlich wie möglich umzusetzen versuchten.” 

Bereits 2008 befasste sich Kellerhoff mit der Thematik des Novemberpogroms 1938 – bekannt als Reichskristallnacht – in der Gemeinde Guntersblums, die bis dahin nur durch beliebte Weinfeste über die Region hinaus bekannt war. Sein in Die Welt erschienener Artikel berichtet über die zuvor entdeckten Fotografien des 10. Novembers 1938, auf denen mehrere Juden gepeinigt und verspottet durch die Straßen und Gassen des Ortes getrieben worden waren. Für Kellerhoff dient das kleine rheinhessische Weindorf als Beispiel für die zahlreichen Übergriffe, die sich zur Zeit der Pogromnacht im gesamten Reich ereignet hatten. Seine Darstellung verkörpert entsprechend einen Schnittpunkt von Mikro- und Makrogeschichte. Die Ereignisse in Guntersblum eignen sich hierfür hervorragend, da neben den Bildaufnahmen zahlreiche weitere Quellen zur Verfügung stehen, u.a.  Aussagen von Zeitzeugen. In insgesamt 13 Kapiteln mit emotional anmutenden Titeln wie „Erschrecken“ oder „Spannungen“ stellt Kellerhoff auf rund 200 Seiten exemplarisch dar, wie sich die Hitler-Ideologie bis auf die ländlichen Regionen auswirkte. 

Kellerhoff beginnt mit der historischen und geographischen Beschreibung des malerischen Weindorfs, das als gewöhnliche Gemeinde nach dem Ersten Weltkrieg unter französischer Administration stand. Er rollt die Thematik des aufkommenden Nationalsozialismus anhand der Entwicklungen im Dorf und der gesamten politischen Landschaft auf und verwebt die nationalen Ereignisse mit denen in Guntersblum. Zu großen Teilen anhand archivierter Ausgaben der örtlichen Lokalzeitung rekonstruiert Kellerhoff, wie das rechtsnationale Gedankengut, das mit der Machtergreifung der NSDAP in Deutschland schnell salonfähig wurde, mehr und mehr ins Dorfleben Einzug fand. Durch die Gründung der örtlichen Vertretung der NSDAP verschlimmerte sich die Ausgrenzung der jüdischen Bevölkerung, bis es schließlich zur Eskalation kam. Mithilfe zahlreicher Augenzeugenberichte und Bilder elaboriert Kellerhoff, was am 10. November 1938 auch in Guntersblum geschah: Früh morgens wurde die örtliche Synagoge verwüstet, jüdische Männer wurden vor das Rathaus gezerrt und mit den religiösen Gegenständen ihres Gebetshauses ausstaffiert und unter Schikane und Gewaltanwendung mehrere Stunden durch das Dorf getrieben. 

Nachdem die Nationalsozialisten bereits vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs Ermittlungen betrieben hatten, ausschließlich um herauszufinden, ob es während des Pogroms zu unerwünschten Plünderungen kam und nicht etwa, um die Unmenschlichkeiten des Zwangsmarsches zu sanktionieren, sorgten die Alliierten nach dem Krieg dafür, dass die Täter zur Verantwortung gezogen wurden, wenn sie diese auch eher milde bestraften. Der gnädige Umgang setzte sich laut Kellerhoff später mit der unzureichenden Aufarbeitung des dunklen Kapitels der Dorfgeschichte fort, dabei ließe sich anhand der Lokalgeschichte besonders gut die Verantwortung einzelner Personen bezüglich der Verbrechen des Dritten Reiches herausarbeiten. 

Das gesamte Buch hindurch gelingt es Kellerhoff hervorragend, mehrere Einzelpersonen mit einem gewissen Wiedererkennungswert darzustellen, ohne den wissenschaftlichen Faden zu verlieren. Dem Leser wird das weitere Schicksal der misshandelten Juden nicht vorenthalten, von denen einige ermordet wurden, andere wiederum unter tragischen Umständen ums Leben kamen. Einmal mehr wird ersichtlich, wie sich die makrogeschichtlichen Ereignisse auf die Mikroebene in Guntersblum auswirkten. Bedauerlicherweise wird dabei nur auf die Täter- und Opferrollen ausgiebig eingegangen, während die Perspektive des Großteils der Guntersblumer Bevölkerung, die an den Ereignissen der Pogromnacht nicht aktiv beteiligt war, weitgehend ausgelassen wird. 

Schlussendlich lassen der gut lesbare Schreibstil und die sorgfältige Quellenarbeit das Fazit zu, dass Kellerhoff eine treffliche Monographie in einem Bereich gelungen ist, der forschungstechnisch noch längst nicht vollständig abgedeckt ist. Dabei meistert er den Spagat, sowohl einem breiten Lesepublikum als auch den akademischen Ansprüchen gerecht zu werden. Besonders hervorzuheben ist, dass Kellerhoffs Ausarbeitung vor allem durch die vergleichsweise ausführliche Quellenlage einzigartig ist, obwohl an vielen Orten in ganz Deutschland Forschung zur lokalen Geschichte der Judenverfolgung betrieben wurde.

 

Quellen: Sven Felix Kellerhoff: „Öffentlich gedemütigt“, https://www.welt.de/welt_print/article2691915/Oeffentlich-gedemuetigt.html, zuletzt aufgerufen am 19.01.2020

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Sven Felix Kellerhoff: Ein ganz normales Pogrom. November 1938 in einem deutschen Dorf.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2018.
244 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783608981049

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