Kennst du das Land, wo erst die Bücher brennen?

(1965)

Von Marcel Reich-RanickiRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcel Reich-Ranicki

Mein Freund mußte einfach lachen. Ich kann ihn verstehen. Denn was sich ereignet hat, ist lächerlich. Aber es tut mir leid, ich kann nicht mitlachen. „Nehmen Sie es nicht so ernst“ – sagte mein Freund –, „das sind doch Narren.“ Ja, gewiß. Aber ich nehme es trotzdem ernst. Denn ich habe Angst.

Hier die Fakten. Am Sonntag, dem 3. Oktober 1965, haben Mitglieder des evangelischen „Jugendbundes für Entschiedenes Christentum (EC) e.V.“ auf einem Scheiterhaufen am Düsseldorfer Rheinufer öffentlich Bücher verbrannt. Es handelte sich um einen Protest gegen die „Schmutz- und Schundliteratur“. Unter anderem wurden in die Flammen geworfen: der Gedichtband „Herz auf Taille“ von Erich Kästner sowie die Romane „Der Fall“ von Albert Camus, „Lolita“ von Vladimir Nabokov, „Die Blechtrommel“ von Günter Grass und „In einem Monat – in einem Jahr“ von Françoise Sagan. Während der Bücherhaufen loderte, sangen die Täter religiöse Lieder. Die Zahl der Teilnehmer betrug 30 bis 40. Keiner soll älter als 25 Jahre sein. Die Bücherverbrennung erfolgte – laut Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ vom 7. Oktober – „mit Erlaubnis der Ordnungsbehörden der Landeshauptstadt“.

In den nächsten Tagen brachte die Presse einige Stellungnahmen zu diesem Vorfall, doch nicht nur Proteste. So hat der Geschäftsführer des Deutschen Verbandes der Jugendbünde für Entschiedenes Christentum in Kassel – einer UPI-Meldung vom 8. Oktober zufolge – die Aktion teilweise gerechtfertigt und sah sich „nicht in der Lage zu erklären, ob sein Verband mehr als ein Vierteljahrhundert nach den Bücherverbrennungen der Nationalsozialisten prinzipiell gegen derartige Aktionen sei oder sie unter bestimmten Voraussetzungen billige“. Am nächsten Tag sagte dieser Geschäftsführer, er sei zwar „gegen das Verbrennen der Bücher“, doch handle es sich hier nur um seine „persönliche Meinung“. Dem Bundespfarrer der Jugendbünde für Entschiedenes Christentum war es wiederum „völlig unverständlich, daß zwischen der Aktion der Jugendgruppe und Bücherverbrennungen im ‚Dritten Reich‘ in verschiedenen Berichten Verbindungen hergestellt worden seien, da wohl niemand der an den damaligen Geschehnissen Beteiligten dabeigewesen sei“.

Die Logik ist überwältigend: Da das Alter der Täter diesmal weniger als 25 Jahre beträgt und seit den damaligen Bücherverbrennungen 32 Jahre vergangen sind, müssen es jetzt andere Personen sein. Der Bundespfarrer sei jedoch belehrt, daß man Untaten miteinander vergleichen kann und bisweilen muß, die nicht von denselben Menschen begangen wurden. Ferner haben zwar die Feuerleger gewechselt, doch nicht unbedingt ihre Opfer: Erich Kästners Gedichtband „Herz auf Taille“ (1928) gehörte schon im Jahre 1933 zu den Büchern, die in Deutschland öffentlich verbrannt wurden. Der Hinweis auf das jugendliche Alter der Teilnehmer kann mich ebenfalls nicht beruhigen. Ich glaube, daß es, beispielsweise, für einen Menschen, der gemordet wird, ziemlich gleichgültig ist, ob sein Mörder das fünfundzwanzigste Lebensjahr schon erreicht hat oder nicht.

Ich weiß: Der Unterschied zwischen den damaligen und den heutigen Vorfällen ist so gewaltig, daß eine Analogie im ersten Augenblick geradezu absurd erscheint. 1933 hatte der Staat die Aktion angeordnet und organisiert. An den vom Rundfunk übertragenen Veranstaltungen nahmen hohe Würdenträger und Universitätsprofessoren teil. In Berlin warf ein Reichsminister die Bücher eigenhändig in die Flammen. Jetzt war es wohl doch das Privatvergnügen einer Anzahl von Menschen, das offenbar ein Geistlicher angeregt hatte und das man vielleicht als eine „spontane Aktion“ bezeichnen kann. Kein Vertreter der Bundesbehörden oder einer Länderregierung denkt auch im entferntesten daran, sich mit den Düsseldorfer Brandstiftern zu solidarisieren. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland hat sich von der Bücherverbrennungsaktion – wie nicht anders zu erwarten war – eindeutig distanziert.

Worum geht es also? Etwa darum, daß wir in Deutschland Anlaß genug haben, besonders vorsichtig zu sein, und derartige Vorfälle eher überschätzen als ignorieren dürfen? Nein, nicht nur. Jene 30 oder 40 jungen Düsseldorfer, von denen die meisten wahrscheinlich nur irregeleitet wurden, wissen nicht einmal, daß ihre Untat ein Symptom ist, das mit Phänomenen zusammenhängt, von denen sie nichts verstehen.

Wenn hohe und höchste Repräsentanten des Staates es für angebracht halten, Intellektuelle, Schriftsteller zumal, öffentlich zu beschimpfen und wie eh und je von „entarteter Kunst“ und „zersetzendem“ Einfluß der zeitgenössischen deutschen Literatur zu sprechen, wenn manche sowohl weltliche als auch kirchliche Instanzen unter dem Vorwand der Bekämpfung des Obszönen und des Unsittlichen einen beträchtlichen Teil der Kunst und Literatur unserer Jahre zu diskreditieren versuchen, wenn große bundesrepublikanische Zeitungen ihre Leser gegen die Intellektuellen, vor allem die Schriftsteller, aufwiegeln – dann freilich darf man sich nicht wundern, daß Dummköpfe und Strolche meinen, es ginge schon los, es sei jetzt wieder an der Zeit, Bücher zu verbrennen.

Vermutlich haben die Düsseldorfer Pyrotechniker – um nur ein Beispiel anzuführen – von dem Leitartikel Hans Zehrers gegen die Intelligenz in der Bundesrepublik („Die Welt“ vom 25. September) nichts gehört. Und so ungeheuerliche Gedanken in diesem Artikel auch geäußert wurden, so wenig kann ich mir vorstellen, daß Zehrer Bücher im Feuer zu sehen wünscht. Aber solche Artikel tragen zu jenem höchst gefährlichen Klima in der Bundesrepublik bei, das seinen primitivsten und brutalsten Ausdruck eben in Bücherverbrennungen findet.

Vermutlich ist auch jenen jungen Düsseldorfern nicht bekannt, daß unweit der Stelle, an der sie ihren Scheiterhaufen errichtet haben, im Hause Bolkerstraße 10, einst der Dichter Heinrich Heine geboren wurde und daß zu seinen Jugendwerken eine Tragödie mit dem Titel „Almansor“ gehört. Der Held, Almansor ben Abdullah, sagt in der ersten Szene dieser Tragödie:

Wir hörten, daß der furchtbare Ximenes,
Inmitten auf dem Markte, zu Granada –
Mir starrt die Zung’ im Munde – den Koran
In eines Scheiterhaufens Flamme warf!

Hierauf erwidert der alte Hassan:

Das war ein Vorspiel nur, dort, wo man Bücher
Verbrennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.

Wie oft muß man in Deutschland an diese Verse erinnern? Wie oft muß gesagt werden, daß die Flammen, in denen Bücher aufgehen, immer von der Dunkelheit der Epoche zeugen? Wahrlich, unsere Generation hat hinreichend Gelegenheit gehabt, sich von der nun schon klassischen Reihenfolge zu überzeugen: Erst verbrennt man die Bücher, dann die Autoren und dann die Leser.

Natürlich, soweit sind wir nicht. Was sich am Düsseldorfer Rheinufer ereignet hat, ist, wie gesagt, lächerlich. Dem Vorfall kommt nicht mehr Bedeutung zu als, sagen wir, einem Schneeball. Aber: „Man darf nicht warten, bis aus dem Schneeball eine Lawine geworden ist. Man muß den rollenden Schneeball zertreten. Die Lawine hält keiner mehr auf. Sie ruht erst, wenn sie alles unter sich begraben hat.“ Diese Sätze stammen von einem deutschen Dichter, der 1933 dabei war, als auf dem Berliner Opernplatz seine Bücher verbrannt wurden – von Erich Kästner, dem Verfasser des Gedichts „Kennst du das Land, wo die Kanonen blühen?“ Das Gedicht findet sich in dem jetzt zum zweitenmal verbrannten Band „Herz auf Taille“.

Wehret den Anfängen. Den Anfängen? Nein, machen wir uns nichts vor. Es ist nicht ein Anfang, es ist eine Fortsetzung.

Hinweis der Redaktion: Der Beitrag ist zuerst erschienen in: Die Zeit, 15. Oktober 1965, und später mit geringfügigen, hier übernommenen Änderungen in Marcel Reich-Ranicki: Wer schreibt, provoziert. Kommentare und Pamphlete. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag 1993. S.180-183. Die erneute Veröffentlichung in literaturkritik.de erfolgt mit Genehmigung von Reich-Ranickis Erbin Carla Ranicki und seinem Nachlassverwalter.