Neugierig auf sich und die Welt
In seinem neuesten Buch „Gebt mir etwas Zeit“ beschäftigt sich Hape Kerkeling mit der Geschichte seiner Vorfahren über rund 500 Jahre und kommt auf erstaunliche Dinge zu sprechen
Von Bernhard Judex
Die Erforschung der eigenen Ahnen mag nicht unbedingt jede und jeden gleichermaßen interessieren. Schließlich sucht man sich seine Familie auch nicht aus, sondern bekommt sie als unabdingbares Schicksal genetischer Verstrickung frei Haus geliefert – Umtausch ausgeschlossen. Doch genau das mag umgekehrt der Antrieb sein, sich mit der eigenen Geschichte genauer auseinanderzusetzen, um sich selbst besser kennen zu lernen und in bislang unbekanntes Terrain vorzudringen.
Hape Kerkeling tut in seinem neuesten Buch Gebt mir etwas Zeit. Meine Chronik der Ereignisse genau das – auf die für ihn charakteristische liebenswert amüsante, dabei äußerst kenntnisreiche Weise. Gewissermaßen als Fortsetzung der mit Der Junge muss an die frische Luft – Meine Kindheit und ich (2014) begonnenen Spurensuche, liest sich das über 350-seitige Werk nicht nur als autobiografische Genealogie, sondern zugleich als aufschlussreicher historisch-zeitgeschichtlicher Roman. Freilich wird man ihn nicht mit Thomas Manns Buddenbrooks oder Marcel Prousts À la recherche du temps perdu vergleichen wollen, orientiert sich doch Kerkeling in erster Linie an Fakten. Gebt mir etwas Zeit ist Biografie und Zeitgeschichte, aber auch ein Stück Poesie und Unterhaltungsliteratur auf hohem Niveau. Dank avancierter DNA-Forschung und dem Studium von Urkunden, Verträgen sowie historischem Material kommt der Autor zu faszinierenden Ergebnissen und entwickelt zudem ein auf unterschiedlichen Zeit- und Handlungsebenen angesiedeltes Panoptikum einer typisch mitteleuropäischen Familie der letzten fünfhundert Jahre.
Dass „der Deutsche ein polnischer Holländer aus Mailand mit französischen und schwedischen Großeltern aus Bern, einer jüdischen Tante aus Sankt Petersburg und einem serbischen Onkel aus Wien“ ist, kann quasi als Ausgangspunkt von Kerkelings Erkundungsgang in die historischen Tiefen und abenteuerlichen Wege seiner familiären Herkunft angesehen werden. Aufgrund der soziokulturellen Entwicklung ist unsere „Ahnenreihe kunterbunt europäisch“ (15) und nahezu jeder mit jedem verwandt, ja selbst afrikanische Wurzeln sind uns keineswegs fremd. Aus den herangezogenen Quellen rekonstruiert Kerkeling das Leben seiner Vorfahren und erzählt, dass er bereits als Kind anlässlich seiner ersten Reise in die Niederlande von Amsterdam fasziniert gewesen ist.
„Gebt mir etwas Zeit“ lautet die ins Deutsche übersetzte Inschrift auf einem Haus in der Herengracht, in dem 1667 der Hutmacher Cornelius Kerkeling gelebt hat. Die Kerkelings, auch als Kerkering, Kerkelingh und in einigen anderen Schreibweisen notiert, waren unter anderem erfolgreiche Kaufleute und Händler. Barend, einer der Vorfahren, war Schiffsbauer und heiratete die Tochter eines Werftbesitzers. Dieser äußerst anschaulich ausgeführte Erzählstrang führt uns in das sogenannte Goldene Zeitalter des expansiven holländischen Kolonialismus, oder besser, in das „Vergoldete Zeitalter“, wie es Kerkeling kritisch nennt, da der ökonomische Aufstieg des Landes und der eigenen Familie auf der Ausbeutung fremder Kulturen basierte.
Jede Erfolgsgeschichte hat ihre Schattenseite – dies trifft auch für die Patrizierfamilien Hollands im 16. und 17. Jahrhundert zu, als die Frage nach dem ‚rechten‘ Glauben tiefe Gräben zwischen Calvinisten und Katholiken zog. Mit Ende des Dreißigjährigen Kriegs 1648, der zugleich das Ende des Konflikts mit den spanischen Habsburgern und die Unabhängigkeit des Vereinigten Königreichs Niederlande vom Heiligen Römischen Reich bedeutete, herrschte zwar an sich Freiheit in der Religionsausübung, doch die Gebetshäuser der Katholiken, Mennoniten und Remonstranten durften nicht erkennbar sein. So fanden beispielsweise „Im Papagei“ in der Stadt an der Amstel nicht nur geheime Treffen statt, sondern auch die Hochzeit des von seinem wohlhabenden Vater Gerrit, einem überzeugten Calvinisten, verstoßenen Barend Kerkelingh mit der hübschen Neeltje, die ihrer Mutter auf dem Sterbebett versprochen hatte, niemals den katholischen Glauben zu wechseln.
Besonders berührend sind Kerkelings eigene Erfahrungen in den ‚wilden‘ und freizügigen 1980er-Jahren. Als TV-Moderator und Showmaster gerade erst entdeckt, verliebt er sich ausgerechnet in Amsterdam, der Stadt, wo seine väterlichen Vorfahren gelebt haben. Doch die anfangs glückliche Partnerschaft und das Partyleben der Schwulen- und Lesbenszene sowie die Toleranz der niederländischen Gesellschaft werden von AIDS, einer der bis heute gefährlichsten epidemischen Immunerkrankungen überschattet, die aufgrund ihrer raschen Verbreitung und zunächst fehlenden Therapiemöglichkeiten bis heute über 40 Millionen Todesopfer forderte. Hape Kerkelings Partner Duncan war eines von ihnen. Allein die Freimütigkeit und Offenheit, mit der der Autor den qualvollen, aber auch liebe- und respektvollen Abschied von seinem Partner schildert, ohne dabei ins Voyeuristische abzugleiten, macht dieses Buch so lesenswert.
Ein besonderes Geheimnis erschließt als dritter Erzählstrang die Abstammung von Kerkelings Großmutter mütterlicherseits, bei der er aufgewachsen ist. Dass er sich kaum weniger als diese für Nachrichten über die britischen Royals interessiert und die einschlägigen Illustrierten studiert hat, scheint offenbar ebenso wenig Zufall gewesen zu sein wie seine Verkleidung als niederländische Königin Beatrix, die er bei ihrem Staatsbesuch in Deutschland 1991 gekonnt imitiert hat. ‚Blaues Blut‘ und die Klatschgeschichten des europäischen Hochadels dürften es ihm angetan haben, vielleicht hatte dabei auch eine gewisse Ahnung mitgespielt.
Ebenso spannend wie die anderen Passagen von Gebt mir etwas Zeit entwickelt sich die Herkunft Berthas in der Nähe des mondänen Kurorts Marienbad. Hier kommt ein englischer Hochadeliger ins Spiel, dem, obwohl standesgemäß und einigermaßen glücklich verheiratet, nicht weniger als 55 außereheliche Beziehungen zugerechnet werden. Eine davon dürfte die mit Kerkelings Urgroßmutter Agnes gewesen sein, die als junges Mädchen in der berühmten Porzellanfabrik Haas und Czezjek gearbeitet hat und für die sich Albert Edward von Sachsen-Coburg, der 1901 als Edward VII. den britischen Thron bestieg, interessiert haben soll. Großmutter Bertha selbst, so Kerkeling, habe jedoch nie darüber gesprochen. Erst im fortgeschrittenen Alter, als sich Zeichen von Demenz bemerkbar gemacht haben, berichtete sie von geheimnisvollen Besuchen einer Kaiserin, bei der es sich, so Kerkeling, möglicherweise um Auguste Victoria, der Gemahlin von Wilhelm II., gehandelt haben könnte.
So abenteuerlich sich das liest, so sehr wird man in den Bann dieser anschaulich erzählten Familiengeschichte(n) hineingezogen. Egal, ob es das Amsterdam des 17. Jahrhunderts ist, die von Aufbruch geprägten 1980er Jahre oder Böhmen um 1900: Kerkeling vermag seine Leserschaft mit einer Mischung aus autobiografischen Details und geschichtlichen Stoffen, die er zu einer Erzählung verdichtet, immer wieder aufs Neue zu faszinieren. Er ist und bleibt erfrischend neugierig auf die Welt und auf sich selbst.
Wenngleich das meiste in diesem Buch authentisch ist und belegbar scheint (knapp 90 Nachweise im Anhang führen zumindest zum Großteil auf Internet- und Wikipedia-Seiten), eine exakte Nachprüfbarkeit der Chronologie dieser Familiengeschichte beansprucht es nicht. Allein der Untertitel „Meine Chronik der Ereignisse“ verweist augenzwinkernd auf die Subjektivität der Darstellung. Ob man sich Kerkelings Wahlspruch „Das Schönste kommt erst noch, wobei das Beste gerade erst begonnen hat“, anzuschließen vermag, bleibt dahingestellt. Eines aber gilt doch unhinterfragt: „Je mehr man in die Vergangenheit der eigenen Familie reist, desto mehr Baustellen und Fragezeichen tun sich […] auf.“ (17) Vielleicht haben Sie jetzt Lust darauf bekommen, sich mit der eigenen Genealogie und dem vielteiligen Familien-Puzzle intensiver zu beschäftigen. Bevor Sie das tun, sollten Sie aber unbedingt Hape Kerkeling gelesen haben – es zahlt sich in jedem Fall aus.
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