Ein Familiendrama voll Tragikomik und religiösem Fanatismus

Hermann Kestens wiederentdeckter Roman „Die fremden Götter“

Von Maximilian LippertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Lippert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Rede von „anderen“ oder „fremden Göttern“ gehört zum deuteronomistischen Sprachgebrauch. Dabei sind jene nicht-eigenen Gottheiten fester Bestandteil eines immer wiederkehrenden biblischen Geschichtsschemas. Dieses reicht vom Abfallen Israels vom Gott der Väter und der Anbetung neuer Götzen über die Bestrafung durch äußere Feinde sowie den Hilferuf bis hin zur Errettung durch charismatische Führer. In Hermann Kestens Roman Die fremden Götter stellt sich die Problematik jedoch etwas verzwickter dar. Auch hier geht es um die Abwendung vom väterlichen Glauben, die zum Anlass für einen Glaubens- und Generationenkrieg wird. Doch dadurch, dass Gott selbst nicht eingreift und der Konflikt ausschließlich zwischen Menschen abläuft, wird dieser enttranszendentalisiert und umso mehr psychologisiert. Die Geschichte endet schließlich tragisch und zeigt die fatalen Folgen von religiösem Fanatismus auf.

Die Konfliktlinien in dem Familiendrama verlaufen zwischen dem jüdischen Schreibwaren-Großhändler Walter Schott aus Nürnberg und seiner 17-jährigen Tochter Luise. Wie man durch Rückblenden erfährt, wurden die Eheleute Schott 1942 in Nizza, wohin sie sich vorerst abgesetzt hatten, aufgegriffen und in ein deutsches Konzentrationslager deportiert. Sie konnten jedoch ihre beiden Töchter bei einem Nachbarn verstecken, der sie später in einem katholischen Kloster in Avignon unterbringt.Dort überlebt Luise zusammen mit ihrer Schwester den Krieg und wird von den Ursulinerinnen zu einer frommen Katholikin erzogen. Auch die Eltern überleben auf wundersame Weise, woraufhin sich vor allem der Vater dem orthodoxen und praktizierenden Judentum zuwendet. So ist es gerade für den Vater kaum fassbar, dass seine älteste Tochter inbrünstig dem Katholizismus verfallen ist. Noch schwerer wiegt für ihn die vermeintliche Verirrung Luises, weil seine jüngste Tochter die Strapazen der Nachkriegszeit nicht überlebt. An dieser Stelle setzt der Roman ein, der im Nizza des Jahres 1947 spielt, wo auch Kesten selbst ab 1934 für einige Zeit gemeinsam mit Joseph Roth und Heinrich Mann ein Haus an der Promenade des Anglais gemietet hatte, auf welcher 2016 ein islamistischer Terrorist 86 Menschen tötete, 458 schwer verletzte.

Jene Promenade radelt Luise zu Beginn des Romans entlang. Sie ist auf dem Weg in die Katharinenkirche, um dort ihren Rosenkranz zu beten, wobei sie jedoch vom Vater, der seiner frommen Tochter auflauert, entdeckt wird. Im Folgenden wird dieser alles versuchen, um Luise wieder zurück zu ihrem ererbten Glauben zu bewegen. Hierzu lädt er den Sohn des hiesigen Hauptrabbiners, Théodore Bovin, zum Abendessen ein – doch anstatt die Tochter zu bekehren, verliebt sich der Philosophiestudent der Pariser Sorbonne in das attraktive Mädchen. Diese hat ihr Herz allerdings bereits dem fünf Jahre älteren atheistischen Fotografen Henri Matelotte geschenkt, der seinerseits den „frömmelnden Backfisch“ nur als einen Flirt ansieht. Der nächste Gast ist Schotts Schwager Emile Colombe, ein wechsellauniger Charakter, Lebemann und seit vier Jahren epikuräischer Buddhist, an dessen Beispiel Luise erkennen soll, wie viele Arten von Aberglauben es gibt.

Als schließlich auch dieser Plan fehlschlägt, greift der Vater zu drakonischen Mitteln, um die Tochter für den rechten Glauben zurückzugewinnen, nimmt sie aus der Schule und sperrt sie in ihr Zimmer ein, in der Hoffnung dass sie dort zur Besinnung kommen möge. Als er sie schließlich in einer orthodox-zionistischen Landschule bei Lyon unterbringen möchte, fassen Colombe und Bovin einen abenteuerlichen Plan zur Rettung von Luise. Hier gerät die Handlung aus den Fugen: Anstatt weiterhin Verblendung und Rigorismus, welche Deutschland in das Dritte Reich und die Welt in einen grausamen Krieg geführt haben, kritisch zu karikieren, lässt Kesten die Figuren im Folgenden zwischen Liebe, derber Erotik und Launenhaftigkeit spannungs- und temporeich hin- und hertaumeln. Am Ende steht dann doch wieder der Ausgangskonflikt im Fokus und führt zum Auseinanderbrechen der Familie Schott.

So tragisch das klingen mag, bleiben doch auch die komischen Elemente nicht auf der Strecke. Im unbeirrten Glauben, für das Richtige einzutreten, werden die Figuren blind gegenüber den Folgen ihres Handelns, verrennen sich in Dogmen und abstrakten Grundsätzen. Dabei unterhalten vor allem die drehbuchreifen Streitgespräche mit Screwball- und Slapstick-Elementen sowie jeder Menge Ironie und Wortwitz. So erinnern die Charaktere nicht selten an das Figurenarsenal der italienischen Commedia dell’Arte: an den alten, starrsinnigen Pantalone, an die jungen, verliebten Innamorati und den undurchschaubaren Arlecchino. Zumindest konterkarieren sie beständig die jeweiligen religiösen und weltanschaulichen Absolutheitsansprüche, die ihnen geradezu laborhaft zugeteilt sind. Den alten Schott bewegen erst die traumatischen Erfahrungen im KZ dazu, religiös zu werden, seine Frau ist lediglich um seinetwillen fromm und der christliche Eifer Luises wirkt oft weniger grundsätzlich, als er den Anschein erweckt. Der verliebte Rabbinersohn Théodore würde seinerseits für das Mädchen seiner Träume zum Katholizismus übertreten und der Buddhist Emile Colombe ist jederzeit bereit, die Prinzipien des Bodhisattva seinen fleischlichen Begierden zu opfern. Der Hauptrabbiner als geeignete humanistische Gegenfigur zum halsstarrigen, intoleranten Vater bleibt in der Geschichte nur Nebencharakter.

Walter Schott kann seiner Tochter keine triftigen Gründe nennen, warum sie ihren ererbten Glauben bewahren soll, dafür umso mehr subjektiv-emotionale Argumente: „Man hat uns zu Millionen massakriert, und die Christen haben zugesehen und weggeblickt und hingeblickt und dreimal am Tag gegessen und getrunken. […] Geh nicht in ihre Kirche, Luise; auch jene waren Christen.“ Das erste, was Luise wiederum zu ihren Eltern sagt, als sie diese nach dem Krieg wieder zu Gesicht bekommt, ist: „Ihr seid Juden, ihr habt Christum umgebracht. […] Und macht schnell, daß ihr Katholiken werdet. Denn wenn ihr nun plötzlich sterben müßt, kommt ihr in die Hölle. Ich aber werde in den Himmel kommen.“ Damit legt sie den Finger in die Wunde. Denn wer nicht an Jesus glaubt, werde nicht errettet werden, werde selbstverschuldete letzte Sinnlosigkeit und Gottesferne erfahren. Und auch im Judentum, wo das Jenseitige zwar eine weniger zentrale Rolle einnimmt, gilt doch meist Ähnliches.

Dementsprechend produzieren religiöse Ideologien herrische Sozialcharaktere, die ihre Lieben retten wollen und schließlich doch nur unterdrücken. Wie sie sich gleichzeitig selbst auf Erden zu Grunde richten und quälen, beweist der alte Schott eindrucksvoll, wenn er seiner Tochter gesteht: „Meine Leber schwillt und drückt. Ich beiße mir auf die Zunge. Meine Augen brennen mich. Ich kann dich nicht stärker lieben als Gott. Und ich fürchte mich auch vor ihm. Ich fürchte ihn mehr als den Tod.“ Es sind hingegen vielmehr die reflexiven Momente über Religion und Moral als Pendant zu den wenig scharfsinnigen Dialogen, die reich an gedanklicher Tiefe sind. So erkennt Théodore schließlich das Problematische, das nicht nur Obstination und Intoleranz, sondern ebenso dem Konstrukt der religiösen Toleranz innewohnt, womit Kestens Selbstbeschreibung seines Romans als „heiterer Vorschlag zur gegenseitigen Duldung“ für eine Quintessenz der Geschichte etwas zu kurz greift. Théodores Vater gibt ihm im Hinblick auf Religionskonflikte schließlich das passende Fazit: „Es gibt viele Arten, zu irren, mein Sohn.“

Die fremden Götter entstand 1948 in New York und erschien ein Jahr später beim Exilverlag Querido in Amsterdam, wurde jedoch seinerzeit kaum gelesen. Überhaupt ist das Werk des ehemaligen Präsidenten des PEN-Zentrums Deutschland und Träger des Georg-Büchner-Preises von 1974 nahezu in Vergessenheit geraten. In einer Zeit, in der der gesellschaftliche Diskurs durch interkulturelle Konflikte geprägt ist, lässt sich sein tragikomischer Roman in der Neuauflage des Schweizer Nimbus Verlags nun wiederentdecken. Albert M. Debrunner, der 2017 auch die erste umfassende Biografie über den Exilautor besorgt hat, schrieb ein Nachwort und druckt einen Briefwechsel Kestens mit dem Filmproduzenten Gerhard Born über die letztendlich gescheiterten Pläne einer Verfilmung des Romans ab. Das Projekt scheiterte unter anderem an „einer Abneigung gegen KZ-Atmosphaere“ beim deutschen Publikum, wie Kesten brieflich ausführt. Doch vielleicht war einfach die Zeit für einen Film, bei dem – um mit Born zu sprechen – „neben der Tragik oder dem Ernst so nah die Komik steht“, ohnehin noch nicht reif gewesen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Hermann Kesten: Die fremden Götter. Roman.
Herausgegeben und mit einem Fundstück versehen von Albert M. Debrunner.
Nimbus. Kunst und Bücher, Wädenswil 2018.
248 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783038500452

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