Literarisches und historisches Lernen mit Mauerfall-Romanen

Gunhild Keuler zeigt das didaktische Potenzial von ‚Wendeliteratur‘ auf

Von Kirsten KumschliesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kirsten Kumschlies

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Endlich gibt es eine Monografie zum didaktischen Potenzial von Wendeliteratur! Gunhild Keuler nähert sich mit ihrer Dissertation Literatur zur ‚Wende‘ im Deutschunterricht einem Desiderat, das in der Forschung, insbesondere jener zur Kinder- und Jugendliteratur, die von der Geschichte der deutsch-deutschen Teilung, der friedlichen Revolution und der Wiedervereinigung erzählt, schon seit Langem beklagt wird. Bislang beschäftigen sich eher Einzelaufsätze oder Sammelbände mit dem Thema. Die Arbeit von Keuler ist die erste, die diese Lücke schließt. Ihr Anliegen ist groß, denn sie will „das besondere Potential von Literatur zur ‚Wende‘ und ihre facettenreichen Blicke auf die Ereignisse aufspüren und beschreiben“ und zudem „das literarische und historische (Lern-)Potential der Texte ausloten und Möglichkeiten ihres Einsatzes im Deutschunterricht erörtern.“ Den Begriff ‚Wende‘ setzt die Verfasserin aufgrund der vielfach formulierten Kritik an dieser Bezeichnung in einfache Anführungszeichen, hält aber an seiner Verwendung fest. Diesem Gebrauch folgt die vorliegende Rezension.

Im Zuge ihrer höchst lesenswerten Ausführungen entwickelt Keuler Auswahlkriterien für literarische Texte – sowohl im Bereich der Jugend- als auch der Allgemeinliteratur –, „die eine reflektierte Entscheidung für einen Text im Deutschunterricht ermöglichen“, und legt zudem sowohl eine Befragung von Deutschlehrkräften und deren Perspektive auf den Stellenwert von Wendeliteratur im Deutschunterricht als auch eine Auswertung von Lehrplänen zum Thema vor. Auf eine literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Diskussion, die KJL streng von Allgemeinliteratur trennt, folgt ein Teil, der literatur- und geschichtsdidaktische Perspektiven zu verbinden sucht, indem nach den Lernchancen literarischen und historischen Lernens gefragt wird. Anschließend analysiert die Autorin Literatur zur ‚Wende‘ im Kontext von Lehrplänen und curricularen Vorgaben und präsentiert daran anschließend die Ergebnisse einer kleinen, nicht-repräsentativen Fragenbogenerhebung an vier Gymnasien in Nordrhein-Westfalen aus dem Jahr 2013, an der 42 Deutschlehrkräfte teilgenommen haben. Als Ergebnisse hält sie hier unter anderem fest, „dass das Thema tendenziell für Schülerinnen und Schüler höherer Jahrgangsstufen gewählt wurde“ und auch, „dass verbindliche thematische Vorgaben einen deutlichen Einfluss darauf haben, dass das Thema ‚Wende‘ nicht thematisiert wird.“ In Anlehnung an die von Pfäfflin vorgelegten Auswahlkriterien zur Gegenwartsliteratur präsentiert Keuler anschließend ausführliche Kriterien, die die Textauswahl von Literatur zur ‚Wende‘ im Deutschunterricht unterstützen sollen, subsummiert unter den Punkten „Erinnerungskulturelles Potenzial (Figurengestaltung und -konzeption, Darstellung von Geschichte, Potenzial des Textes als Medium des kommunikativen Gedächtnisses), literaturästhetisches Potenzial, Bezug zur Gegenwart als Zugang zur Vergangenheit, Grundmuster menschlicher Erfahrungen, Exemplarität.“ Wünschenswert wäre eine Zusammenschau der Kriterien gewesen, was den Überblick insbesondere für Lehrkräfte, die Auswahlhilfen suchen, erleichtert hätte.

Den Abschluss des Bandes bilden zwei umfangreich dargelegte Unterrichtsreihen zu den Büchern Weggesperrt von Grit Poppe und Was zusammengehört von Markus Feldenkirchen, die die Verfasserin im ersten Fall in einer 8. Klasse und im zweiten in einer 11. Klasse hat durchführen  und von den Schülern evaluieren lassen.

Die Argumentation des Bandes ist schlüssig und überzeugend, allein deshalb, weil hier die erste systematische Erschließung des didaktischen Potenzials von Wendeliteratur vorliegt. Positiv hervorzuheben ist vor allem Keulers differenzierte Kritik an den von Carsten Gansel vor allem für frühe Mauerfall-Literatur aus den 1990er Jahren postulierten Stereotypen, die breit rezipiert und fast gleichsam stereotyp in Arbeiten zum Thema zitiert wurden; das sind im Besonderen: Täter-Opfer-Topos, Widerstandstopos und das Feindbild Lehrer/Eltern. Laut Keuler muss „der Frage nachgegangen werden, ob es sich dabei tatsächlich um stark vereinfachte und schematisierte sowie feststehende und weit verbreitete Vorstellungen handelt, um überhaupt von Stereotypen sprechen zu können.“ Sie schlägt vor, eher von „Zuspitzung in der Figurencharakteristik zu sprechen, um eine negative Konnotation bei der Beschreibung eines bestimmten Figurentyps zu vermeiden, auch wenn die Begriffswahl weniger wissenschaftlich ausfällt.“ Vor diesem Hintergrund kann sie zeigen, dass gerade neuere Texte zur ‚Wende‘ aus den Jahren 2004 bis 2014 diesem stereotypen Muster häufig nicht folgen. Ebenso gewinnbringend und schlüssig ist die Dreiteilung der KJL zur ‚Wende‘, die Keuler mit Blick auf die zentralen Handlungsmuster vornimmt: „a) Texte, die die Ereignisse unmittelbar vor und nach der Maueröffnung in den Vordergrund rücken sowie b) Texte, die über das Leben in der DDR in den letzten Jahren vor dem Mauerfall erzählen und die Umbruchsituation von 1989/1990 aufgreifen und c) Texte, die im wiedervereinigten Deutschland spielen und einen Bezug zur Zeit der ‚Wende’ aufweisen.“ Ergänzen ließe sich diese Systematisierung jedoch um eine weitere Kategorie: Jahrhundert-Geschichten, die einen großen historischen Bogen spannen und die Geschichte von den Weltkriegen über den Mauerbau bis hin zum Mauerfall rekonstruieren, wobei hier vor allem kinderliterarische Texte einzuordnen wären, etwa das Das Wende-Bilderbuch von Harriet Grundmann und Susanne Vogt, Das Wunder von Germausia von Beate Funke, Die Lisa sowie Hundert Jahre und ein Sommer von Klaus Kordon, letztes ist ein jugendliterarisches Beispiel.

Kritisch anzumerken ist, dass Keuler schlicht konstatiert, literarische Texte zur ‚Wende‘ hätten ein besonderes Potenzial für historisches und literarisches Lernen, was sie mit ihrer kleinen Stichprobe aber eigentlich nicht belegen kann. Sie hat lediglich Deutschlehrkräfte aus Nordrhein-Westfalen befragt und auch hier ihre Unterrichtsreihen durchgeführt – eine Kontrastierung mit einem Bundesland aus dem Osten bleibt aus. Verwunderlich ist zudem, warum einige im Anhang dokumentierte uneindeutige Schüleraussagen zu der Frage, ob der Roman Weggesperrt im Unterricht gelesen werden sollte, als positives Votum eingeordnet werden, beispielsweise: „Ja, ich finde schon, weil er schön ist und gut geschrieben ist. Aber so nötig finde ich es jetzt auch wieder nicht.“ oder „Ich finde einerseits schon, weil man ein bisschen mehr über die DDR und früher erfährt. Aber andererseits eher nein, weil es bestimmt Bücher gibt, die mehr darüber erzählen.“

Dass die Arbeit zudem hinter der aktuellen Forschungsdiskussion zurückbleibt, ist sicher dem langwierigen Prozess von der Promotion bis zur Publikation geschuldet, der den meisten Dissertationen zu eigen und den Verfassern nicht anzulasten ist, dennoch soll dieser Umstand hier nicht unerwähnt bleiben. Es sind insbesondere die Forschungsarbeiten von Carolin Führer, die sich sowohl empirisch mit den Umbruchprozessen für Deutschlehrkräfte im Osten nach der ‚Wende‘ als auch aus literaturwissenschaftlicher und -didaktischer Perspektive mit dem erinnerungskulturellen und didaktischem Potenzial von Wendeliteratur befassen, die in der Arbeit von Keuler unberücksichtigt bleiben. So spricht sie beispielsweise bei der literarischen Geschichtsdarstellung „vom Umgang mit historischen Fakten.“ Führer aber weist schon in einer ihrer frühesten Publikationen zum Thema, in ihrem Aufsatz  Dynamisierungen zeitgeschichtlichen Erzählens in aktuellen Kinder- und Jugendmedien, darauf hin, dass das Erinnerte nie unmittelbar den Fakten entspricht: Literatur und andere Medien können keine „historische ‚Wirklichkeit‘ ohne Verzerrung abbilden“, so heißt es dort überzeugend. Unklar bleibt zudem, warum Keuler auch bei eindeutig intermedialen Bezugnahmen, wie jenen in Grit Poppes Roman Weggesperrt auf den Film E.T., von Intertextualität spricht und auf Genette verweist statt von Intermedialität mit Bezug auf Rajewsky. Dass die Zeitschrift Praxis Deutsch von Keuler fälschlicherweise als rein literaturdidaktisch bezeichnet wird, der Roman Macht ihr eure Wende, ich bin verliebt Burkhard Spinnen statt korrekt Markus Burkhardt zugeschrieben wird und Der Zimmerspringbrunnen Peter Timm statt Jens Sparschuh, fällt nicht wirklich ins Gewicht, sei hier aber im Sinne des kritisch-akribischen Rezensenten-Blicks doch kurz erwähnt. Es sind Kleinigkeiten, die den Wert des lesenswerten Bandes zu einem wichtigen Thema nicht schmälern. Mit Keulers Dissertation ist der Gegenstand ‚Wendeliteratur‘ ein Stück weit mehr für Literaturwissenschaft- und didaktik erschlossen.

Titelbild

Gunhild Keuler: Literatur zur «Wende» im Deutschunterricht.
Peter Lang Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
382 Seiten, 59,95 EUR.
ISBN-13: 9783631724309

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