Keyn schöner Geist in dieser Zeit

Thilo Bock und Peter Wawerzinek lassen in ihrer Geistergeschichten-Sammlung eine tote Haushälterin wieder lebendig werden

Von Katharina HahnRSS-Newsfeed neuer Artikel von Katharina Hahn

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Erst ganz am Schluss des Buches, noch hinter Nachwort und Autorenverzeichnis, findet sich das runde schwarzweiß Foto der Frau, von der die vorangegangenen 150 Seiten handeln. Mit Brille und schlohweißem Haar blickt sie von der Seite in die Kamera, ein verschmitztes Grinsen auf den Lippen und die glimmende Zigarette zwischen die Finger der linken Hand geklemmt. Hannelore Keyn vereint so alle Attribute, die ihr innerhalb der Geschichten im wahrsten Sinne zugeschrieben wurden.

Das auffällig unauffällige Leben der Haushälterin Hannelore Keyn in der Villa Grassimo zu Wewelsfleth positioniert sich durch den Zusatz Geistergeschichten selbst im Bereich der phantastischen Literatur und ist gleichzeitig eine sprachgewaltige Liebeserklärung. Die beiden Autoren Thilo Bock und Peter Wawerzinek beschreiben darin ihre Erfahrungen als Stipendiaten des Alfred-Döblin-Hauses im schleswig-holsteinischen Dörfchen Wewelsfleth. Das Haus, auch bekannt als „Villa Grassimo“, bewohnte, wie der Name verrät, einst Günter Grass. Geknüpft an ein Stipendium für Schriftsteller schenkte er es schließlich dem Land Berlin mit dem Nutzungsvermerk: „Schreibasyl“. Der Nobelpreisträger geistert ebenso wie Frau Keyn, die unbestrittene Hauptfigur, als paranormale Erscheinung durch die Geschichten.

Mal erscheint er, in Anlehnung an seinen im Döblin-Haus entstandenen Roman Der Butt, als geschwätziger Fisch, mal tanzt er mit der Haushälterin in fröhlichem Gespensterreigen auf dem Dachboden oder taucht als nebulös-schwärmerische Randnotiz in ihren energetischen Monologen auf. All das wird abwechselnd von Bock und Wawerzinek in kurze Episoden verpackt und erzählerisch dicht beschrieben, bis an den Rand vollgepackt mit Anekdoten. Hannelore Keyn wird als „gute Seele des Dorfes“ oder gar „guter Geist des Hauses“, als eine ebenso zierliche wie resolute Frau, beschrieben. Fast so oft wie sie selbst wabert ihr Zigarettenrauch durch die Erzählung und dient vor allem als probates Mittel für ihre treffliche bis spitzzüngige Personenbeschreibung. „Der Zigarettenqualm riecht nach dem Rauch der Buschfeuer. Die ständige Lulle zwischen ihren Lippen, wirkt sie wie Keith Richards Großmutter, faltig wie eine uralte Echse im Gesicht.“ Berühmt für Buttermilchkuchen und alkoholhaltige Götterspeise, ist sie für die Schriftsteller schnell wie eine Ersatzmutter. Entsprechend reich angefüllt mit den Beobachtungen vieler ihrer „Stümpianten“ ist Bocks und Wawerzineks vergleichsweise dünnes Büchlein.

Die Geschichte der Autoren, rund um Ankunft und Leben im Haus, zwischen Keyn, Grass, dem Hausmeister und dem Handwerker, wird von grün hinterlegten Einschüben umrahmt. Darunter Auszüge aus Zeitungsartikeln oder eigenen Büchern der Stipendiaten, in denen das Wewelsflether Dorfleben Erwähnung findet, außerdem Schnipsel aus dem Erzählband Damals, hinterm Deich. Geschichten aus dem Alfred-Döblin-Haus und zitierte Wikipedia-Einträge. Diese unterschiedlichen Versatzstücke erfüllen innerhalb der Handlung gleich mehrere Zwecke. Zum einen unterfüttern sie aus weiteren verschiedenen und sich häufig wiederholenden Blickwinkeln das Bild, das sich der Leser nach und nach von der Haushälterin macht.  Zum anderen beglaubigen sie einzelne Ereignisse, auf die die Autoren in ihren Geistergeschichten Bezug nehmen. Wie Susanne Bax’ wunderschön atmosphärischen Fotografien des Hauses, die zwischen die Kapitel gestreut sind, verbürgen sie sich für die Wahrheit einer Geschichte, die durchgehend zwischen reiner Fiktion und dem, was auf einer wahren Begebenheit fußen könnte, oszilliert. In welcher Episode geht es um die „echte“ Hannelore Keyn und wo ist von ihrem Geist die Rede?

Gerade dieser Versuch, die wundersame Geschichte durch Fotos und „Zeugenaussagen“ anderer Autoren im realen Leben einzuordnen, macht ihren Charme aus. Der sperrige, weil teils plattdeutsche Lobgesang zweier Pfostenfiguren auf die Haushälterin wird getragen von den darauf folgenden Fotos eben jener Figuren. Egal wie unrealistisch die Szene auch sein mag, durch das anschließende Foto oder ein bestätigendes, grün hinterlegtes Textstück eines anderen Autors, gewinnt sie scheinbare Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig entsteht so ein dicht gewobenes Netz aus verworrenen Erzählsträngen, Sichtweisen und Beobachtungen, eine Geschichtensammlung als huldigendes Denkmal.

Dennoch wirkt es gelegentlich so, als hätten sich die Autoren mit ihrer Arbeit selbst ein wenig überfordert. Auch wenn die Versatzstückhaftigkeit dahingehend funktioniert, ein lebendiges Bild der verstorbenen Haushälterin zu entwerfen, ist sie oftmals der Struktur der Rahmenerzählung nicht zuträglich. An vielen Stellen wirken die Episoden nicht wie aus einem Guss, sondern als habe man versucht, zwei stilistisch völlig unabhängige Romane ineinander zu schustern. Vor allem Wawerzineks Geschichten hängen klar zusammen und bauen aufeinander auf. Deshalb hätten sie vermutlich in direkter Abfolge und ohne die davon losgelösten Einschübe Bocks besser funktioniert. Allerdings kann zu stringente und vom Verstand geleitete Erzählweise auch nicht die Absicht einer Sammlung sein, die den Untertitel Geistergeschichten trägt.

Stattdessen betrachtet sich der Text immer wieder selbstreferentiell. So betont beispielsweise der Geist der Haushälterin seine Begeisterung für die Erzählung, die von ihm berichtet. Schließlich helfe sie ihr dabei, nicht in Vergessenheit zu geraten. Also zieht, und das ist ein durchaus gelungener Kniff, das reale Buch seine Daseinsberechtigung aus Hannelore Keyns innerhalb der fiktionalen Handlung geäußertem Wunsch nach einem Vermächtnis. Damit werden konsequent Kunst und Leben ineinander verschränkt. Und zwar so, dass auch für einen unbeteiligten, weil nicht persönlich betroffenen Leser ein rührender Effekt entsteht.

Diesen Eindrucks, ein teils fiktionales, teils biografisches und gerade in seiner Kleinteiligkeit beeindruckendes Werk in den Händen zu halten, kann man sich nicht erwehren. Es fügt sich nahtlos in die phantastische Welt ein, die es selbst entwirft und durch Fotos und Bestätigungen von Zeitzeugen originalgetreu wiederzugeben scheint.

Titelbild

Peter Wawerzinek / Thilo Bock: Das auffällig unauffällige Leben der Haushälterin Hannelore Keyn in der Villa Gerassimo zu Wewelsfleth. Geistergeschichten.
Mit Fotografien von Susanne Bax und einem Nachwort von Jörg Feßmann.
Verbrecher Verlag, Berlin 2016.
160 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783957321954

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