Begeisterung und Verzweiflung

Marta Kijowska begibt sich auf die Spuren der Nobelpreisträgerin Wysława Szymborska

Von Stephan WoltingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stephan Wolting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Zum 100. Geburtstag der Nobelpreisträgerin Wysława Szymborska sind gerade auf Deutsch drei Werke erschienen: Zum einen die Gesammelten Gedichte, zum anderen ihre Rezensionen in der Literaturzeitschrift Zycie literackie (dt. Literarisches Leben, wo sie von 1953 bis 1981 sie ständige Mitarbeiterin war) “Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln”. Zum Dritten nun die Biografie von Marta Kijowska.

Die Autorin und Journalistin Marta Kijowska lebt in München und ist durch ihre Features bekannt geworden, insbesondere zu Themen der polnischen Kultur, Literatur und Geschichte. Sie ist außerdem Sachbuchautorin und literarische Übersetzerin aus dem Polnischen ins Deutsche und hat Biografien über Andrzej Szczypiorki, Stanisław Jeryz Lec und Jan Karski geschrieben.

Bei diesem Buch über Wysława Szymborska handelt es sich um eine der besten Biographien, die ich überhaupt gelesen habe. Warum ist es so ein ausgezeichnetes Werk? Was ist das Außergewöhnliche daran? Zunächst einmal sei hervorgehoben, dass, wie die Verfasserin betont, eine Biografie über Szymborska sehr schwierig zu schreiben ist. Weil die Nobelpreisträgerin eher als öffentlichkeitsscheu galt und in der Regel nicht gerne über sich gesprochen hat. Zu einem geschlagenen Wort wurde quasi: „Ich habe alles in meinen Gedichten gesagt.“ Wie ist Kijowska gelungen, überhaupt eine Biographie über diese Autorin zu schreiben?

Zunächst einmal hat sie, und das ist sie sicher ganz im Sinne der Nobelpreisträgerin, auf jede spekulative mythologisierende Einschätzung des Lebens der Preisträgerin, auch im Sinne von Überbietungstopoi, verzichtet. Man könnte hier das schöne Zitat des Sozialpsychologen Harald Welzer über den eigenen potentiellen Nekrolog anführen: „Die oder der einzige, die oder der den Nekrolog nicht lesen wird, ist die oder der Tote selbst.“ In diesem Falle könnte man sagen, die Einzige, die die Biografie nicht lesen wird, ist die Autorin selbst. Zugleich bin ich der Meinung, dass sie mit dieser Biografie sehr einverstanden gewesen wäre, eine Autorin, die ansonsten sehr kritisch gewesen ist, was ja auch ihre Rezensionen und Sätze wie „Sie sollten dringend den Kugelschreiber wechseln…” deutlich machen. Hier tritt neben ihrer Strenge auch der Humor Szymborskas zutage.

In der Biografie wird betont, dass Szymborska in erster Linie Lyrikerin war. Und was ihr Urteil dazu betraf, war sie eine strenge Richterin, nicht zuletzt deshalb, weil sie die Lyrik oder das Lyrische nicht nur als Schreib-, sondern als Lebenshaltung verstand.

Bemerkenswerterweise changiert die Biografie zwischen zwei Sätzen von ihr, die sie selbst geprägt hat. Der erste Satz heißt: „Ich weiß nicht.” Und der zweite Satz lautet wie der Titel eines Gedichts und zugleich der Biographie „Nichts kommt zweimal vor”, woraus später ein in Polen sehr bekannt gewordener Schlager der Sängerin Łucia Prus wurde, der vom Turm der Krakauer Marien-Kirche am Rynek von einem Trompeter an ihrem Todestag gespielt wurde. Die ersten Zeilen dieses Gedichts lauten:

Nichts kommt zweimal vor.
Auch wenn es uns anders schiene.
Wir kommen untrainiert zur Welt.
Und sterben ohne Routine.

Mit einer geschickten Chronologie und bewusst subjektiver Färbung bringt Kijowska die Autorin auf unvergleichliche Art näher: Eine eigentlich relativ unspektakuläre Lebensgeschichte wird so spannend erzählt, dass man bei der Lektüre nicht innehalten möchte. Sie bringt die Facetten von Szymborskas Leben auf die entscheidenden Punkte: Ihre kleine Wohnung zum Beispiel, die sie lange bewohnte und die von ihr liebevoll „Schublade” genannt wurde, ihr Faible für Kitsch, Dinge, mit denen sie sich umgab, Fotos, Bilder, ihre Freude an Limericks, an den zum Teil auch einfachen lustigen Formen. Es wird von ihrer Begeisterung für Woody Allen und Ella Fitzgerald berichtet, aber auch ihre Beziehungen zu den Lebenspartnern, die nicht immer von Glück geprägt waren, vor allen zu dem Literaten und Chefredakteur Adam Włodek (1922–1986), oder die ebenfalls langjährige  Beziehung zu dem verheirateten Journalisten und Theaterkritiker Jan Pawel Gawlik (1924–2017), aber schließlich auch ihre doch sehr glückliche Beziehung zu Kornel Filipowicz (1913–1990), mit dem sie 22 Jahre bis zu seinem Tod zusammen war, ohne jemals eine eigene gemeinsame Wohnung gehabt zu haben.

Mit Filipowicz, der sich politisch vor der Wende stark für die Solidarność engagierte (bis zu seinem Tod am 28.02.1990) ist schon ein erstes Stichwort bezüglich ihrer politischen Haltung gegeben. Szymborska entwickelte, am Anfang wie sie schreibt, wie so viele eine Begeisterung für den Sozialismus. In späteren Zeiten setzte sie sich im sozialistischen Polen für politisch verfolgte Künstler*innen und Autor*innen ein, arbeitete für Untergrundzeitungen wie die Krakauer Zeitschrift “Pismo” (dt. Schreiben) und der Breslauer literarischen Monatsschrift „Odra”, die von ihrer Freundin Urzsula Kozieł herausgegeben wurde, bekam zeitweilig Schreibverbot, unterschrieb Petitionen, protestierte, und war doch im strengen Sinne keine politische Schriftstellerin. Auch wenn sie später mit der Solidarność sympathisierte und auch deren Literaturpreis erhielt, trat sie ihr nie offiziell bei. Sie hat es einmal so schön wie traurig zugleich im Zusammenhang mit der Rettung von vier Kleinkindern, wobei die Retterin selbst starb, ausgedrückt, wie es so ihre Art war: „So viel wissen wir über uns selbst, / wie viel wir geprüft wurden.” (Schweigeminute für Ludwika Wawrzyńska).

Wie weiter aus der Biografie hervorgeht, war sie eine sehr soziale Frau, wobei sich dieses Soziale immer nur auf kleinere Gruppen bezog, auf Freunde, mit denen sie zusammen war und zusammenkam. Es machte ihr Spaß, geistreiche und lustige Bemerkungen in kleiner Runde zum Besten zu geben. Berühmt wurden auch ihre selbstgestalteten Postkarten-Collagen, die sie an ausgewählte Freunde schickte. Was sie nicht mochte, war, vor größeren Gruppen aufzutreten oder zu größeren Veranstaltungen zu gehen, selbst dann noch, als sie mit dem Nobelpreis ausgezeichnet worden war. Gegenüber allem, was sie in der Öffentlichkeit berühmt gemacht hätte oder berühmt machen sollte, entwickelte sie immer eine große Skepsis, weshalb sie von “vor und nach der Tragödie des Nobelpreises” sprach.  Sie war der Meinung, solche „Öffentlichkeitsarbeit” halte sie nur davon ab, sich um ihr Werk zu kümmern. Von daher war sie nicht eine in heutigem Sinne zu verstehende mediale Autorin, was in der Biografie sehr deutlich zum Vorschein kommt. Dennoch pflegte sie viele “fachbezogene Bekanntschaften” und Freundschaften zum Beispiel zu Czesław Milosz oder zu Zbigniew Herbert. Dabei empfand sie sich nie als Konkurrentin, sondern unterstützte das, was ihrer Meinung nach gute Literatur war, und hierin sah sie neben dem eigenen Schreiben vor allem ihre Aufgabe.

Szymborska interessierte sich für viele andere Bereiche wie die Mathematik, die Astronomie, die Biologie, die Verhaltensforschung usw., die sie dann auch für ihr Werk, vor allen Dingen für ihre Gedichte, nutzen konnte. Vieles machte sie zum Gegenstand ihres Schreibens, ihren Alltag, den sie dann mit ihrer gewissen Art von Lebensklugheit, Humor und Lakonie verarbeitete, selbst den Tod. Die Nachricht ihres baldigen Ablebens (sie war starke Raucherin und starb an Lungenkrebs) nahm sie sehr gefasst auf, wie in dem Gedicht Ich bedenke die Welt geschrieben: “Das Leid / kann unseren Körper nicht entstellen. / Der Tod / kommt, wenn wir schlafen.”. Sie hatte sich wohl schon mit ihrem Ende abgefunden, zuvor bereits einige Anläufe genommen, ihr Testament zu schreiben.

Als Kornel Filipowicz gestorben war, schrieb sie in Gedenken an ihn das Gedicht Katze in der leeren Wohnung. Neben den Themen des Alltags waren es später vor allem Themen, die mit dem Leben, mit dem Tod, mit Krankheit zu tun hatten, verbunden auf der anderen Seite mit scheinbar ganz kleinen, unbedeutenden Dingen; sie ging dabei sehr phänomenologisch vor, sie hob immer das Besondere, das Eigentliche hervor.

Erwähnung findet in der Biographie eine Geschichte, die als symptomatisch für ihren spezifischen Humor gelten kann. Vorausgeschickt werden muss: Zwar ist sie am 02. Juli 1923 in Prowent, einem heutigen Ortsteil von Kórnik in der Nähe von Poznań geboren, verbrachte aber seit dem 6. Lebensjahr ihr gesamtes Leben mehr oder weniger in Krakau und setzte sich dort für Angelegenheiten der Kultur vor Ort ein. In Krakau lernte sie auch, eigentlich relativ spät, Karl Dedecius, den bedeutenden Übersetzer der polnischen Literatur ins Deutsche (nicht zuletzt ihrer Lyrik) im Mai 1991 auf einer KSZE-Tagung zum Thema Europäisches Kulturerbe kennen. Sie zeigte ihm zusammen mit ihrem Mann eine Villa, nämlich die Villa Decius, benannt nach einem Elsässer Jost Ludwig Dietz alias Jodocus Ludovicus Decius, Sekretär am Hofe Sigismund des Alten, der ihm die Villa schenkte, die dieser dann zu einem „Treffpunkt der berühmtesten Humanisten Europas im 15. und 16. Jahrhundert“ machte. Zur Zeit des Sozialismus wurde sie als Krankenhaus genutzt. Dedecius versuchte dann auf dem Kongress dafür zu plädieren, diese Villa zu einem Kulturzentrum umzubauen. Szymborska schließlich erfand eine schöne Geschichte dazu, dass dieser Decius ein Vorfahre von Dedecius sei, der zudem noch mit einer Rotermund verheiratet gewesen sein soll, einer ihrer Vorfahren. Auf diese Weise “belegt” sie ein gemeinsames Verwandtschaftsverhältnis. Se non e vero se buon trovato.

Nicht erfunden ist ihre schon erwähnte Begeisterung für einige wenige Künstlerinnen oder öffentliche Personen, von denen einige wiederum auch sie schätzten. Woody Allen war von ihren Gedichten sehr beeindruckt, sie hat ihn aber nie kennengelernt. Den ehemaligen tschechischen Präsidenten Vaclav Havel („Wir bräuchten einen Doppelgänger von Ihnen.”), war der einzige von ihnen, den sie einmal in Krakow traf. Denn sie liebte keine weiten Reisen, selbst nicht in der Zeit nach dem Nobelpreis. Allein fuhr sie wie schon zuvor regelmäßig in ihr Haus nach Zakopane, ansonsten reiste sie maximal in Europa. Insbesondere Überseereisen liebte sie nicht, was auch damit zusammenhing, dass man auf Flügen nicht rauchen durfte.

Allerdings reiste sie relativ gern nach Italien und war begeistert von dem Land, wo ihr lyrisches Werk großen Erfolg verzeichnete, im Gegensatz zu Frankreich, wiewohl sie sehr gut französisch sprach und auch ins Französische übersetzte. In Italien lernte sie Umberto Eco kennen: Sie umarmten sich, obwohl sie sich noch nie gesehen hatten und sie Menschen in der Regel nicht gern umarmte oder ihnen nahekam. Sie fuhr zudem des Öfteren nach Deutschland, hatte einige Auftritte auf Buchmessen, etwa auf der Frankfurter Buchmesse zusammen mit Milosz, nachdem beide den Nobelpreis erhalten hatten. Mit ihm befreundet, wurde sie oft als sein literarisches Pendant angesehen, was sie aber ablehnte.

In der Biografie wird auch deutlich, dass Szymborska sich nie als Nationalistin verstanden hat. Ihr Freund Adam Zagajewski hat sie als “Patriotin eines offenen, toleranten und multinationalen Polens” gewürdigt. Diese ganzen geschilderten Einzelheiten machen diese Biografie zu einem einzigartigen Werk, dem man möglichst viele Leser*innen wünschen möchte, weil es trotz nur spärlich vorhandener Dokumente sehr genau Auskunft über das Leben dieser großen Dichterin.

Das Buch beschließt ein fiktives Gespräch mit ihren Gefährtinnen und Gefährten im Geiste nach ihrem Tod in ihrem Haus, womit nicht nur ihrer gedacht wird, sondern auch ihrer Freude und daran, die fiktionale mit der realen Ebene zu verbinden, wie es etwa in dem Gedicht Eindrücke aus dem Theater anklingt: „Für mich ist das Wichtigste in einer Tragödie der sechste Aufzug: Die Auferstehung vom Schlachtfeld der Bühne (…)“

Ein kleiner Widerspruch im Leben der Wysława Szymborskas sei abschließend noch erwähnt: Zum einen wurde davon berichtet, dass sie ein Gedicht immer erst aufschrieb, wenn sie es komplett im Kopf, „oft mit Beginn der Dunkelheit”, vor sich sah, zum anderen bezeichnete sie u. a. den Papierkorb als ihr wichtigstes Arbeitsmittel.

Titelbild

Marta Kijowska: Nichts kommt zweimal vor. Wisława Szymborska.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2023.
316 Seiten , 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783895611933

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