Aus dem Bleistiftgebiet

Neue Bücher zu Lesespuren in Autorenbibliotheken

Von Stefan HöppnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Stefan Höppner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Was passiert beim Schreiben eines literarischen Textes? Seit einigen Jahren richtet sich die Aufmerksamkeit der Philologie so stark auf Manuskripte wie vielleicht seit dem 19. Jahrhundert nicht mehr. Dieses Interesse betrifft aber nicht nur die Papiere und Dateien selbst, aus denen sich dann vielleicht neue – und bessere – Editionen erstellen lassen, sondern auch darauf, was sich auf dieser Basis über den Prozess der Entstehung sagen lässt. Aber nicht nur das – auch, was man die Peripherie der „Schreibszene“ (Rüdiger Campe) nennen kann, gerät zunehmend in den Fokus: Schreibtische, Werkzeuge von der Feder bis zum Textverarbeitungsprogramm, aber auch die Büchersammlungen von Autorinnen und Autoren. Autorenbibliotheken bilden den geistigen Horizont der Kreativen ab, Widmungen in den Büchern zeigen ihre Netzwerke auf. Eines der großen Versprechen für die Forschung ist jedoch ein anderes: Aus Marginalien, Anstreichungen, Eselsohren und ähnlichem könne man nicht nur rekonstruieren, welche Texte rezipiert wurden (denn praktisch jede Bibliothek enthält auch ungelesene Texte), sondern auch, wie diese Rezeption wieder in die Niederschrift neuer Texte einfließe; Lesen und Schreiben greifen produktiv ineinander. Lesespurenforschung ist demnach Teil einer Schreibprozessforschung, wie sie zum Beispiel die in Frankreich entwickelte critique génétique betreibt. Dieser Befund trifft sicher zu, führt aber zu zwei Erkenntnisproblemen. Erstens: Wie lässt sich die unübersichtliche, notorisch schwer zu fassende Vielfalt von Schreibspuren in ein System bringen, das über den Einzelfall einer Bibliothek hinaus gilt? Und zweitens, im Umkehrschluss: wie kann man eine Ebene finden, in der sich die vielen Einzelfälle auf einen vergleichbaren Nenner bringen lassen?

Diesen Fragen widmen sich die beiden Bücher, die hier vorgestellt werden. Randkulturen: Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts wurde von Anke Jaspers und Andreas B. Kilcher herausgegeben und versammelt die Beiträge einer Zürcher Tagung zu diesem Thema; Manuel Bamerts Dissertation Stifte am Werk versucht auf der Länge einer Monographie eine genaue Typologie der stiftlichen Lesespur zu erstellen. Beide Bücher sind aus einem Projekt am Thomas-Mann-Archiv der ETH Zürich hervorgegangen, in dem die gesamte Nachlassbibliothek des Nobelpreisträgers auf solche Spuren untersucht wurde. Insgesamt wurden dabei mehr als 143.000 von ihnen erfasst. Die Ergebnisse dieses Mammutvorhabens sind seit einiger Zeit in einer hilfreichen und ansprechenden Online-Datenbank verfügbar – voll zugänglich sind allerdings nur die urheberrechtsfreien Bände, also diejenigen, deren Autorinnen oder Autoren seit mehr als 70 Jahren verschieden sind.

Jaspers und Kilcher situieren Randkulturen in einem größeren Kontext, nämlich einer Hinwendung der Philologie zum „Marginalen“, zu den „Rändern“ des Literarischen, die sie mit Jacques Derrida in Verbindung bringen – eben die genannte Peripherie des Schreibprozesses. Ihr Buch besteht aus drei großen Blöcken: Im ersten, theoretischen Teil geht es darum, das Wesen von Lese- bzw. Schreibspuren genauer zu erfassen, der zweite und dritte enthalten – wie der Untertitel des ganzen Bandes verrät – Fallstudien zu einzelnen Autorinnen und Autoren der Moderne. In der zweiten Sektion geht es besonders um eine „Praxeologie“ des Sammelns und Annotierens, wie also Autorinnen und Autoren ihre Büchersammlungen zusammenstellen und wie sie, den Stift in der Hand, mit ihren Büchern umgehen. Im dritten und letzten Part schließlich steht die „Poetologie“ des Annotierens im Vordergrund, welche Rolle also das Gelesene und Markierte im kreativen Prozess spielt.

Uwe Wirth, Magnus Wieland, Manuel Bamert und Mike Rottmann versuchen, von einer hermeneutischen Warte aus die Natur der Schreib-/Lesespur genauer zu erfassen. Dabei gelangen sie zu eigenständigen, aber unterschiedlichen Systematiken, wobei Wirth, Wieland und Rottmann eher von einer epistemologischen Warte aus vorgehen, während Bamert das Schreibgerät in den Vordergrund stellt und mit einer treffenden Neubildung von der „stiftlichen“ Natur der Lesespur spricht, die auch nicht-verbale Elemente wie An- und Unterstreichungen einschließt. Wirth schließt vor allem an Ansätze der französischen Literaturtheorie von Gérard Genette über Bruno Latour bis Roland Barthes an, bezieht sich aber auch auf die critique génétique zurück. In der Folge ordnet er die Spuren in den Entstehungszyklus des literarischen Textes ein, der von der Lektüre bis hin zur Publikation des neuen Textes reicht. Das ist für sich genommen einleuchtend, vernachlässigt aber, dass nicht alle Lektüren samt Spuren im Rahmen der literarischen Produktion stattfinden.

Magnus Wieland, der sich am Schweizer Literaturarchiv in Bern seit langem mit Autorenbibliotheken beschäftigt, liefert nicht nur einen kurzen Abriss der Annotationspraxen seit dem Mittelalter. Er erstellt auch eine Heuristik der Schreibspuren, ausgehend von der Stellung der Schreibenden zum Text, die sich in den Annotationen ausdrückt; „der fremde Text [dient] als Projektions- und Inskriptionsfläche, in die der Leser sich einschreibt“. Dies demonstriert Wieland anhand von fünf Exemplaren von Marcel Prousts Recherche aus fünf verschiedenen Autorenbibliotheken des Schweizer Literaturarchivs, von Rilke bis Dürrenmatt, in denen ganz unterschiedliche Lesehaltungen sichtbar werden.

Manuel Bamert stellt zunächst heraus, dass es auch unsichtbare Lektüren gibt, die keine Spuren in Form von Annotationen hinterlassen haben und dass die Strukturierung des Textes auf der Seite ebenfalls Einfluss auf die Art der Annotation hat. Im Folgenden wendet sich dem poetologischen Potenzial von Lesespuren zu. Bamert findet dafür den glücklichen Neologismus der ‚stiftlichen‘ Spur, die nicht immer sprachlicher Natur sein muss. Anhand von Beispielen aus Thomas Manns Bibliothek versucht er den spezifischen Verbund zwischen Text und Annotation genauer zu beschreiben. Dem soll aber anhand seiner Dissertation – siehe unten – genauer nachgegangen werden. Den ersten Part von Randkulturen schließt Mike Rottmann ab, der sich genauer mit der Rolle von Nietzsches Bibliothek und ihrer Kommentierung beschäftigt – ein Projekt mit vielen Beteiligten, das letztlich in die Website nietzschesource.org einfließen soll, dort aber noch nicht zu sehen ist. In deren Mittelpunkt steht aber nach dem Verständnis der Betreiber die kritische Nietzsche-Gesamtausgabe, wie sie Giorgio Colli und Mazzino Montinari erarbeitet haben. Demgegenüber wird „BibNietzsche“ von den Betreibern zwar nur ein Hilfscharakter zugestanden. Diese Ressource kann trotzdem wesentlich zum Verständnis von Nietzsches Texten beitragen. Rottmann macht den „Leser Nietzsche“ stark, dem ebenfalls Anerkennung gebührt.

Im zweiten Teil werden teils sehr unterschiedliche Autorenbibliotheken und die ebenso heterogenen Annotationen vorgestellt. Anke Jaspers stellt anhand von Thomas Manns Nachlassbibliothek heraus, wie unklar die Grenzen von Autorenbibliotheken sind und wie sehr die Festlegung, was zu einer Sammlung gehört und was nicht, von den sammelnden Personen und Institutionen abhängt. So befinden sich in der Zürcher Bibliothek auch Bände, die erst nach Manns Tod erschienen sind und solche, die zumindest zeitweise den Bibliotheken anderer Familienmitglieder angehört haben. Mann hinterließ Lesespuren in den Bänden seiner Frau und seiner Kinder, während letztere wiederum auch in seine schrieben. Caroline Jessen zeigt im nächsten Beitrag, wie der deutsch-jüdische Dichter und Philologe Karl Wolfskehl in seinen Annotationen drei Bücher über das Judentum zueinander in Beziehung setzt und damit Räume in weitere Texte in seiner Bibliothek hinein öffnet. Stephan Matthias geht den Lesespuren in den weit verstreuten Bänden von Stefan Zweigs Bibliothek nach, sucht sie in ein System zu bringen und zeigt, wie Zweigs Lektüren in einige ausgewählte Texte aus seiner Feder einflossen. Anna Busch demonstriert eindrucksvoll, wie das Fontane-Archiv in Potsdam Lesespuren in der Handbibliothek des Autors quantifiziert und die Daten in Zusammenarbeit mit dem Urban Complexity Lab der dortigen Fachhochschule visualisiert. Damit lassen sich Einsichten in Annotationsmuster gewinnen, die eine qualitative Untersuchung bei aller Präzision nicht leisten kann – ein gewichtiges Argument für den Einsatz der Digital Humanities in der Autorenbibliotheksforschung. Birgit Dahlke schließlich widmet sich Christa Wolfs Thomas Mann-Lektüren in ihrem letzten Roman, dem autobiographischen Stadt der Engel.

Der dritte und letzte Teil schließlich widmet sich dem poetologischen Potenzial von Lesespuren. Hier stehen weniger die Annotationen selbst im Mittelpunkt als die Texte, in denen sie verarbeitet werden. Drei der fünf Beiträge beschäftigen sich wiederum mit der Bibliothek Thomas Manns sowie je einer mit den Büchersammlungen Nietzsches und Erich Auerbachs – „Bücher aus Büchern“, wie Andreas B. Kilcher seinen Beitrag treffend nennt. Ihm geht es Manns Lektüren aus der Orientalistik, der Ägyptologie und Archäologie, die sich in der monumentalen Tetralogie Joseph und seine Brüder wiederfinden. Martina Schönbächler beschreibt den Genieästhetiker Detlev Spinell, Hauptfigur der Novelle Tristan (1903), als Gegensatz zum Autor Thomas Mann, der sich genau bewusst war, wieviel er den Lektüren der Texte anderer verdankte und für die meisten seiner Werke ein umfangreiches Quellenstudium betrieb. In Manns Annotationen sieht sie ein thematisches Netzwerk, das sich durch seine gesamte Bibliothek zieht und mit den wichtigsten Themenkomplexen in seinem eigenen Werk zusammenstimmt – von der Bestimmung des Künstlertums über das Verhältnis von Geschlecht und Sexualität bis zu dem, was eine deutsche Nationalidentität ausmachen könnte. Yahya Elsaghe geht speziell der Verwertung eines einzigen Bandes bei Thomas Mann nach, dem Buch Goethe und die Juden, das er 1925 vom Verfasser Heinrich Teweles erhalten hatte. Teweles zeichnete Goethes ambivalentes Verhältnis zum Judentum nach und wollte, wie Elsaghe argumentiert, den Dichter zugleich gegen eine Vereinnahmung durch einen völkischen Antisemitismus verteidigen, wie sie sich damals bereits abzeichnete. Manns Lektüre, die auch in diesem Fall von Annotationen begleitet ist, fließt dann in Lotte in Weimar (1939), am Rande aber auch in seine Goethe-Essays ein. Armin Thomas Müller rekonstruiert anhand von Nietzsches Jugendschriften aus Naumburg und Schulpforta dessen ‚virtuelle‘ Bibliothek – die von ihm gelesenen, aber nicht notwendig besessenen Bücher, denn von den letzteren ist in Nietzsches Nachlassbibliothek in der Weimarer Herzogin Anna Amalia Bibliothek nur wenig überliefert. Der Schwerpunkt liegt dabei auf seiner Rezeption von Texten der Klassischen Antike, die das Herzstück des Unterrichts in Schulpforta bildeten. Jane O. Newman widmet sich im letzten Beitrag dem Philologen Erich Auerbach als Leser und Annotator seiner eigenen Werke. Für Newman sind sie „Beleg für ein sich entwickelndes, vielleicht gar selbst-korrigierendes, jedoch niemals sich selbst-aufhebendes oder löschendes auktoriales Selbst“. Konkret geht es dabei um seine Lektüren der existenzialistischen Philosophie, die ihn während seiner Zeit als Professor in Marburg beeinflusste, mit der er sich aber später kritisch auseinandersetzte.

Randkulturen ist eine hochwertige Artikelsammlung. Sie bietet einen panoramischen Blick auf das Feld der Autorenbibliotheksforschung, wie es sich in den letzten Jahren etabliert hat. Dass dieser sich auf die Moderne beschränkt, ist einerseits schade, denn so kommt die historische Entwicklung der Phänomene Lesespur und Autorenbibliothek nicht recht in den Blick. Würde man etwa mittelalterliche und frühneuzeitliche Annotationspraxen und deren Funktionen einbeziehen, ergäbe sich ein noch komplexeres Bild. Andererseits haben Jaspers und Kilcher eine pragmatische und verständliche Entscheidung getroffen. Sie macht es möglich, einerseits Thomas Manns längst nicht ausgeforschte Bibliothek in den Mittelpunkt zu stellen und andererseits den Blick nicht ins Uferlose gehen zu lassen. Besonders hervorzuheben sind die Artikel im ersten Teil, die das Phänomen der Lesespur in den Griff zu bekommen versuchen, auch wenn sie jeweils einige wichtige Aspekte außer Acht lassen, oder besser, lassen müssen.

Diesen Mangel sucht Stifte am Werk, die ambitionierte Dissertation von Manuel Bamert, zu beheben. Wiederum Thomas Manns Bibliothek als Ausgangspunkt nehmend, versteht sie sich als „Grundlagenforschung“. Sie ist nichts weniger als der Versuch, eine befriedigende Typologie und Systematik der Lese- bzw. Schreibspur überhaupt zu erstellen. Das zeigen seine Leitfragen gleich auf der ersten Textseite: „Wie kann man diese Lesespuren möglichst genau beschreiben? Nach welchen Prinzipien werden sie hinterlassen? Was machen sie mit und aus dem gelesenen Text? Und vor allem: Wie und mit welchem Erkenntnisgewinn sind sie zu deuten?“ Um sie zu beantworten, teilt Bamert sein Buch in drei große Abschnitte: Phänomenologie, Epistemologie und Poetologie. Dass dies sehr grob der Einteilung von Randkulturen ähnelt, ist wohl kein Zufall. Sein Blick ist aber umfassender, da er die individuellen Zugänge der Beitragenden, die dort vorherrschen, auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen sucht.

Zunächst setzt sich Bamert mit der bereits existierenden Terminologie (Marginalie, Annotation, Notiz etc.) auseinander. An kursierenden Begriffen mangelt es der Forschung jedenfalls nicht. Doch obwohl sich die Forscherinnen und Forscher jeweils um eine klare Definition bemühen, sei ihre praktische Handhabung der Begriffe oft inkonsequent und widersprüchlich. Um dem abzuhelfen, bemüht sich Bamert um einen Neuansatz, wobei er vom durch Benjamin, Derrida und andere etablierten Begriff der ‚Spur‘ ausgeht und rückwirkend seinen eigenen Begriff der „stiftlichen Lesespur“ begründet. Auch hier steht die ‚Stiftlichkeit‘ im Mittelpunkt, bis hin zur Beschaffenheit der einzelnen Schreibwerkzeuge und der von ihnen jeweils ermöglichten Arbeitsweise. Letztlich gibt es für ihn nur zwei Kategorien, die Annotation und das Intrazerpt. Annotationen sind Spuren, „die erkennbaren Zeichen- oder Parazeichencharakter haben […] und sich auf demselben Medium wie der gelesene Text befinden“. Das umfasst auch An- und Unterstreichungen und natürlich die Marginalie. Die Abgrenzung zwischen den einzelnen Kategorien lässt sich für Bamert nicht immer trennscharf durchführen. Etwas Anderes ist nur das Intrazerpt. Das sind Notizen zum Text, die sich zwar im Buch, aber nicht direkt am Text befinden, etwa im Vorsatz oder auf unbedruckten Seiten. Die Komplexität der Spuren auf diese beiden Arten herunterzubrechen, ist ausgesprochen reduktionistisch, vor allem angesichts der umfangreichen Passagen, die Bamert dem Vokabular vorheriger Arbeiten widmet. Gewonnen wird dadurch nur etwas, wenn damit die Vielfalt der Spuren tatsächlich handhabbarer wird. Aber ist das der Fall? Zumindest für den Rest von Bamerts eigener Arbeit lautet die Antwort: Ja. Ob sich seine Vorschläge in der Autorenbibliotheksforschung insgesamt durchsetzen oder es nicht doch eine feinere Kategorisierung braucht, ist diskussionswürdig.

Im zweiten Teil, der der Epistemologie der Lesespur gewidmet ist, hebt Bamert vor allem auf den instrumentellen und körperlichen Aspekt der Schreibwerkzeuge ab. Lesen mit dem Stift ist für ihn ein Lesen auf ein Ziel hin, in der Regel zur Gewinnung von Information, weshalb sich tendenziell auch mehr Stiftspuren Manns in Sachtexten als in belletristischer Literatur finden. Wie groß dieses Lesepensum gewesen sein muss, zeigt sich in fast allen Romanen Manns. Das beginnt beim Zauberberg (1924), in dem Protagonist Hans Castorp ebenfalls mit dem Bleistift liest und annotiert (und Bleistifte ohnehin eine handlungstragende Rolle spielen), reicht über Joseph und seine Brüder (1933–1943) bis hin zum Doktor Faustus (1947) und dem essayistischen Werk. „In dieser Perspektive“, so Bamert, „wird die Lektüre mit dem Stift zur Medientechnik, die den dabei erkundeten Erfahrungsraum gleichzeitig strukturiert und limitiert.“ Eine solche Lektüre mit dem Stift richte die Autorin an sich selbst, auf ein Wiederlesen im Schreibprozess, für das die wichtigsten Stellen vormarkiert seien. Damit sei sie bereits „Dichtung im Entstehen“. Hier wird bereits die Grenze zum dritten Abschnitt überschritten, zur Poetologie der Lesespur. Auch hier zeigt Bamert plausibel, dass die Lektüre mit dem Stift bereits Teil eines Schreibprozesses ist, oder genauer: sein kann. Denn hier lässt sich entgegnen, dass längst nicht jede Lesespur einem neuen Text dienen soll (wobei meist nur eine Minderheit dieser Spuren überhaupt in ihn einfließt). Bücher können auch aus ganz anderen Büchern gelesen und annotiert werden. Eine an den Rand gekritzelte Telefonnummer in Friedrich Dürrenmatts Bibliothek ist poetologisch ebenso wenig produktiv wie Kinderzeichnungen von Goethes Enkeln in den Büchern ihres Großvaters.

Doch selbst wenn Lesespuren der Produktion eines neuen Textes dienen, sind sie in den meisten Autorenbibliotheken dünner gesät, als eine aufbrechende Forschung noch um die Jahrtausendwende gehofft hatte, und zudem oft nicht eindeutig in ihrer Bedeutung zu bestimmen. Darauf weist Bamert zu Recht hin. Tatsächlich lässt sich die genaue Bedeutung einer Spur oft nur dann erfassen, wenn man sie im Kontext anderer Quellen beleuchtet. Positiv gewendet, lässt sich an ihr aber zeigen, dass ein Text rezipiert und was an ihm für beachtenswert gehalten wurde. Die intellektuelle Bewegung des Lesers oder der Leserin übersetze sich in eine körperliche Bewegung, eine materielle Spur. Und schließlich modifiziert die stiftliche Lesespur den gelesenen Text: Gedruckter Text und Annotation ergeben ein Palimpsest, ein neues Gebilde, das Bamert „Text’“ nennt. Das gedruckte Einzelexemplar in der Autorenbibliothek, wird mit der Annotation zum unikalen Objekt, mehr Archivalie als serielles Produkt.

Manuel Bamert legt mit Stifte am Werk ein eindrucksvolles Buch vor, das eine wichtige Lücke in der Autorenbibliotheksforschung zu schließen sucht. Dass Bamert sich dabei (fast) allein auf die Bibliothek Thomas Manns bezieht, die er durch seine Projektarbeit genau kennt, stimmt zunächst skeptisch, was die Allgemeingültigkeit seiner Aussagen betrifft. Punktuell zieht er immerhin Vergleiche, nämlich mit der Nachlassbibliothek des mit Mann befreundeten Hermann Hesse. Solche Bedenken gegen eine Einseitigkeit erweisen sich aber schnell als unbegründet, denn Bamert zeigt, dass er die Forschung auch zum weiteren Themenfeld genau kennt und abwägend argumentiert. Trotzdem kann man fragen, ob sich seine Typologie nicht doch zu eng an den Befunden aus dem Thomas-Mann-Archiv argumentiert. Hier wäre ein stärkerer Vergleich mit Lesespuren in anderen Autorenbibliotheken willkommen gewesen, um die an sich überzeugenden Ergebnisse stärker auf ihre Allgemeingültigkeit zu prüfen. Man kann natürlich auch fragen, ob das den Rahmen einer Dissertation gesprengt hätte. Zudem ist sich Bamert des Problems durchaus bewusst, fordert er doch „historische Praxeologie des Annotierens“ ein, die es in dieser Form gleichwohl noch nicht gibt.

Randkulturen und Stifte am Werk sind wissenschaftliche Arbeiten, die das gleiche Thema behandeln, einander aber komplementieren. Während das erstere Buch eine große thematische und methodologische Breite aufweist, bleibt das zweite bei nur einem Zugang, vertieft ihn aber besonders. Beide Bücher haben gemein, dass sie hoffentlich weitere Forschungen anstoßen – auch und gerade, wenn das zur kritischen Überprüfung der an sich reichen und profunden Erkenntnisse führt. Sie sind zu günstigen Preisen zu haben, auch im kostenlosen Open Access verfügbar, und sollten in keiner buch- oder literaturwissenschaftlichen Bibliothek fehlen.

Titelbild

Anke Jaspers / Andreas B. Kilcher (Hg.): Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts.
Wallstein Verlag, Göttingen 2020.
400 Seiten , 29,90 EUR.
ISBN-13: 9783835336674

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Manuel Bamert: Stifte am Werk. Phänomenologie, Epistemologie und Poetologie von Lesespuren am Beispiel der Nachlassbibliothek Thomas Manns.
Wallstein Verlag, Göttingen 2021.
372 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783835350649

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