Wie frau heute feministisch kämpft und streitet

Gertraud Klemms Roman „Einzeller“ geht mit den heutigen Feminismen höchst feministisch ins Gericht

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auseinandersetzungen innerhalb der Frauenbewegung sind seit jeher gang und gäbe und wurden teils mit harten Bandagen ausgetragen. Auch traten zu den inhaltlichen Differenzen schon immer gelegentlich persönliche Animositäten. Wie es dabei heutzutage zugehen kann, hat Gertraud Klemm in ihrem Roman Einzeller literarisiert, in dem die drei schon nicht mehr ganz so jungen Feministinnen Simone, Eleonora und Maren eine WG in Wien gründen, der sie den sprechenden Namen Bienenstock geben.

Simone ist eine ehemalige, frühpensionierte Lehrerin, geht auf die Sechzig zu und ist durch ihr jahrzehntelanges feministisches Engagement zur öffentlichen Figur avanciert. Da konnte es nicht ausbleiben, dass sie einigen Hass auf sich gezogen hat. Das allerdings nicht nur von maskulinistischer Seite, sondern auch von woken queer- und transpolitischen Menschen, die ihre eigenen Aktivitäten als feministisch verstehen, nicht so aber das, was Simone sagt und tut. Der wiederum geht die „woke[] Erbsenzählerei“ der nachwachsenden Generation gehörig auf die Nerven. Überhaupt findet sie, dass der Feminismus „pseudoreligiös geworden“ sei. „Für ein Gendersternchen, Kopftuch oder Prostitution sieht man Frauen neuerdings in den feministischen Dschihad ziehen – immer gegen andere Frauen. Nur online, versteht sich. Dafür umso gnadenloser“, grummelt sie in sich hinein.

Sie und ihre Mitbewohnerin Eleonore kennen sich bereits seit den späten 1990er Jahren, seit etwa einem viertel Jahrhundert also, denn die Handlung spielt in der Gegenwart. Auf die Corona-Epidemie kann schon zurückgeblickt werden, dafür beunruhig nun Russlands Überfall auf die Ukraine die Menschen. Simone und Eleonore sind einander sehr vertraut und es wird allgemein angenommen, dass sie liiert sind. Tatsächlich aber pflegt Simone verborgen vor aller Öffentlichkeit noch immer – auch sexuellen – Kontakt zu einer ihrer zahlreichen Jugendaffären. Der Sohn eines Milchbauern hat sie als Jugendliche zunächst geschwängert und dann bei ihrem Schwangerschaftsabbruch unterstützt. Inzwischen hat er es in der Politik bis ganz nach oben gebracht, allerdings auf stockkonservativer Seite und ist zu einem Mann geworden, „der Frauen mit dem Körper richtig gut lieben und mit der Gesinnung richtig gut verachten kann“. Simone und ihre Jugendliebe haben zwar nie geheiratet, mit der Ehe hat sie es aber dennoch einmal probiert. Und Mutter ist sie auch geworden. Hannah, ihre inzwischen längst erwachsene Tochter, ist in dieser Beziehung in die mütterlichen Fußstapfen getreten und hat ebenfalls geheiratet, „obwohl Simone ihr vorgelebt hat, dass es nicht funktioniert“. Jetzt hat Hannah „einen Mann und ein Kind und erwartet ihr zweites. Jetzt ist es zu spät für alles“, fürchtet Simone.

Maren ist mit ihren 34 Jahren die jüngste der drei Gründerinnen des Bienenstocks und vor einigen Monaten Witwe geworden, wodurch sie all ihre sozialen Kontakte verlor. Doch nun hat sie in der WG ein Refugium gefunden, schläft mit Frauen, hat an einem Theater eine Anstellung als Kostümbildnerin bekommen und ist in der Hilfe für Geflüchtete sowie im Tier- und Klimaschutz aktiv.

Um sich zum Quintett zu vervollständigen, sucht das feministische Trio zwei jüngere Mitbewohnerinnen, die sich ebenfalls der guten Sache der Frauenrechte verschrieben haben, und finden sie in Flora und Lilly. Letztere ist etwa zwanzig Jahre alt und eine außerordentlich attraktive Studentin der Volkswirtschaft, die zwar kein „allzugroße[s] feministische[s] Engagement“ vorzuweisen hat, doch dafür theoretisch „auf dem nächsten Level“ agiert und über sämtliche angesagte Themen von Transrechten über Body Positivity bis hin zur Intersektionalität auf dem Laufenden ist. Dabei ist Lilly stets sehr darauf bedacht, nichts falsch zu machen oder auch nur zu sagen. „Missionieren“, wie es Simone und Flora ihrer Meinung nach tun, möchte sie aber nicht.

Flora ist die andere neue Mitbewohnerin, ein paar Jahre älter als Lilly und schon weit in der Welt herumgekommen, war sie doch unter anderem für NGOs in der Schweiz, in Mexiko und in den USA unterwegs. Auch ihr Jura-Studium hat die „sexpositive Lesbe“ bereits abgeschlossen und vertritt als Scheidungsanwältin die Interessen von Frauen, die die Nase voll haben von ihrem Mann und von der Ehe überhaupt. Von anderen erwartet sie „mindestens das Beste“ und nimmt dabei kein Blatt vor den Mund. Das alles lässt schon ahnen, dass sie „noch viel gesinnungstreuer“ ist als Lilly.

Die fünf Wohngenossinnen sind ebenso wie das gesamte Figurenkabinett erkennbar als Prototypen verschiedener sozialer Stände, Charaktere, politischer Haltungen und Ideologien angelegt. Dennoch hat die Autorin sie zugleich mit individuellen Persönlichkeiten und Eigenschaften ausgestattet. Simone und Lilly mehr als ihre drei Mitbewohnerinnen, diese mehr als die anderen Frauen. Und die anderen Frauen wiederum mehr als die Männer, zu denen etwa Lillys ebenso wohlsituierter wie stinkreaktionärer Vater zählt, der in seiner „übermännliche[n] Großkotzigkeit“ gerne über die „woke[n] Ökofaschistinnen“ lästert. Es fehle nur noch, dass sie „eine Ficksteuer“ einführen, hetzt er. Lillys durch die Welt streifender Freund Samu ist hingegen das gerade Gegenteil ihres Vaters. Der frühere Waldorfschüler ist ständig irgendwo auf der Welt als Sozial- und Ökoaktivist unterwegs. Sich selbst zu verwirklichen ist ihm allerdings wichtiger als Flugscham. Deshalb unternimmt er auch gerne einmal eine Flugreise ans andere Ende der Welt, um dort zu surfen. Sein Mitbewohner Aaron wiederum erweist sich als gewalttätiger Womanizer, mit dem Lilly in Samus Abwesenheit eine Affäre beginnt, die nicht ohne Folgen bleibt.

Die Handlung wird abwechselnd aus den Perspektiven von Simone und Lilly erzählt, ohne dass diese allerdings als Ich-Erzählerinnen auftreten. Der Wechsel der Erzählperspektive ist sinnvoll, denn in gewisser Weise handelt es sich bei den beiden Figuren um Antipodinnen. Er ermöglicht es den Lesenden nicht nur, mit der jeweilige Selbstwahrnehmung beider vertraut zu werden, sondern auch, zu erfahren, wie die eine die andere erlebt. Da die anderen WG-Bewohnerinnen ebenfalls nur aus den Perspektiven von Simone und Lilly geschildert werden, bleiben deren Charaktere in ihrer Tiefe unausgeleuchtet. Doch immerhin wird deutlich, wie unterschiedlich sie von Simone und Lilly wahrgenommen werden.

Schon bald nach dem Einzug der beiden jüngeren Feministinnen wird Simone von „der Halbritter“ angesprochen. Anders als die fünf Protagonistinnen wird die Agentin eines TV-Senders den Lesenden nicht mit dem Vor-, sondern ihrem Nachnamen vorgestellt. Da Simone schon öfter in verschiedenen Sendungen aufgetreten ist, kennen sich beide schon seit geraumer Zeit. Nun tritt sie mit einem Angebot in der Tasche an Simone heran und bietet ihr an, mit ihrer WG an einem neuen TV-Format teilzunehmen – natürlich unentgeltlich. Die Serie solle Big Sista heißen und sei als „anspruchsvoller, niveauvoll eingedampfter Spinn-off von Big Brother“ angelegt. Allerdings würden die Teilnehmerinnen weder eingesperrt, noch rausgeworfen. Stattdessen solle Big Sista „gepflegte Unterhaltung mit feministischem Grundtenor“ bieten. Neben dem Bienenstock sollen außerdem zwei weitere WGs mit von der Partie sein. In der einen wohnen drei „lebensfrohe[] Omas, topfit, völlig unpolitisch“. Die andere besteht aus einer Frau, einer Transfrau und drei sich als queer bezeichnenden Personen. Simone steht Halbritters TV-Konzept zwar skeptisch gegenüber, spricht aber dennoch mit ihrer WG über das Angebot und nach einigen Diskussionen nehmen die Frauen es an.

In den ersten drei der auf zwölf Sendungen angelegten Reihe werden die WGs jeweils für sich in ihrem Zuhause vorgestellt. In weiteren Sendungen diskutieren die WGs miteinander. In den letzten Sendungen werden sie jeweils von einer Überraschungsgästin besucht. Im Falle des Bienenstocks sind dies eine eloquente Islamkonvertitin, eine konservative Katholikin mit reichlich TV-Erfahrung und eine „dieser glücklichen, freiwilligen Sexarbeiter*innen“, die zudem noch eine Transfrau ist. Damit stehen die drei „Königsthemen“ auf dem Programm, bei denen sich Feministinnen „verlässlich in die Haare [geraten], dass es nur so raucht“, stöhnt Simone. Dabei sind ihr doch ganz andere Fragen wichtig, die drohende Verschärfung des Abtreibungsrechts etwa, die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen, die weibliche Genitalverstümmelung und die fortschreitende Beschneidung der Frauenrechte überhaupt. Jedenfalls zeigt sich schon in der ersten Sendung, dass die ganze Show auf Krawall angelegt ist und die Frauen erfolgreich aufeinandergehetzt werden. Inhaltlich reichen die Diskussionen der streitenden Feministinnen nicht besonders tief und hochtheoretisch sind sie schon gar nicht. Das sind sie in realen TV-Shows ebenfalls nicht, und in aller Regel wohl auch nicht bei den alltäglichen Küchentischgesprächen in WGs. Insofern ist das ziemlich realistisch.

Damit ist die Handlung lange nicht zu Ende erzählt, sondern befindet sich noch immer ganz am Anfang. Aber es soll hier nicht weiter gespoilert werden. Dafür sei noch kurz der Titel des Romans erläutert, der sich angesichts seines Themas nicht selbst erklärt: Statt sich zu einem Organismus zusammen zu tun, leben und kämpfen die Feministinnen wie Einzeller je für sich. Allerdings gibt es da einen bestimmten „primitive[n], dämliche[n], einzellige[n] Schleimpilz“, dem es durchaus gelingt, „wenn es darauf ankommt, zu einer Einheit zusammenzukriechen und sich zumindest kurz zu einem Fruchtkörper aufzubäumen“. Bleibt die Frage, ob die Feministinnen des Romans ebenfalls dazu imstande sind.

Mit dem aus ihren früheren Werken bekannten schwarzen Humor erzählt die Autorin also diesmal davon, wie sich junge Feministinnen heutzutage „wegen ein paar Sternchen den Schädel einschlagen, während die Demonstrantinnen immer grauer und weißer werden und ihre Rollatoren in Stellung bringen, um auf der Straße für den Erhalt der feministischen Vermächtnisse zu kämpfen“. Er ist also keineswegs einfach nur lustig. Im Gegenteil. Und gegen Ende hin wird er sogar ziemlich traurig.

Klemms feministischer Roman zur Lage des Feminismus empfiehlt sich nicht nur FeministInnen zur Lektüre, sondern auch Menschen, die es werden wollen – ja selbst jenen, die das ganz und gar nicht beabsichtigen. Denn es ist gut möglich, dass er in einigen Jahrzehnten als der zeitgenössische Roman zum Zustand des Feminismus in den 2020er Jahren gerühmt wird.

Titelbild

Gertraud Klemm: Einzeller.
Kremayr & Scheriau Verlag, Wien 2023.
312 Seiten , 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783218013826

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