Das Wiener Theater zwischen Verlachkomödie und rührendem Lustspiel

Christian Gottlob Klemms „Die Wohlthaten unter Anverwandten“ will erzieherisch wirken

Von Maximilian LippertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Lippert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das öffentliche Wiener Theater glich für Außenstehende bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts einem Refugium des primitiven Stehgreiftheaters. Es dominierte unangefochten die spezifische und virtuose Typenkomik der Altwiener Komödie mit ihren Verwechslungen, Verkleidungen, Übertölpelungen, mit derber Körperlichkeit und anstößigem Vokabular. Derlei Verlachkomödien stellten gesellschaftliches Fehlverhalten zur Schau und forderten das Publikum zum Spott über die Figuren auf. Zwar fungierte das Lustspiel insofern auch als ein Sittenkorrektiv, indem das schadenfrohe Lachen der Zuschauer gleichsam die Furcht vor der eigenen Betroffenheit beinhaltete und übertönte, doch der Unterhaltungszweck war schließlich maßgeblich.

Mit den Reformen unter Maria Theresia und Joseph II., die einen auf die Disziplinierung der Staatsbürger abzielenden gesellschaftlichen Transformationsprozess einleiteten, ließ sich jedoch in den 1760er Jahren allmählich auch auf den Wiener Bühnen die Tendenz beobachten, jenes Verlachtheater zugunsten einer Einfühlungsdramaturgie nach dem Vorbild Gottscheds, Lessings und Diderots in Verruf zu bringen.  Es entbrannte eine journalistische Debatte um den gesellschaftlichen Nutzen des Theaters, die als „Wiener Hanswurststreit“ in die Theatergeschichte eingegangen ist und an welcher neben österreichischen aufklärerischen Theaterreformern wie Joseph von Sonnenfels oder Franz von Heufeld auch der aus Sachsen zugewanderte Theatersekretär und Dramatiker Christian Gottlob Klemm partizipierte. In seiner Wochenschrift Der österreichische Patriot erhebt dieser die Schaubühne zur Tugendschule für den sittsamen und arbeitsamen Bürger, in welcher die Zuschauer „gerührt, und vielleicht auch gebessert werden“ sollen. In seiner Zeitschrift Dramaturgie, Litteratur und Sitten attestiert Klemm der Komödie den größten didaktischen Nutzen und schreibt, „daß sie mehr als jede andere Gattung des moralischen Unterrichts geschickt sey, die Menschen zu bessern: welches also der vornehmste Endzweck der guten Komödie ist“. In der Praxis bot den Dramatikern besonders jene rührende Komödie Möglichkeiten, tugendhafte und nachahmenswerte Charaktere auf die Bühne zu stellen, mit denen der bürgerliche Zuschauer sich identifizieren konnte. 

In einer späteren Ausgabe seines Journals widmet Klemm seinem Lustspiel Die Wohlthaten unter Anverwandten einen längeren Kommentar, um die erzieherische Wirkung des Stücks auf den Zuschauer zu erläutern. Und tatsächlich kommt Klemm in dieser Komödie aus dem Jahr 1769 seinen theoretischen Überlegungen besonders nahe. Schon in der Vorrede betont der Autor: „Das Laster verächtlich zu machen, ist, glaube ich, der vornehmste Endzweck der dramatischen Poesie.“ Zu diesem Zweck kontrastiert Klemm in den Wohlthaten unter Anverwandten sittsame und nachahmenswerte Figuren mit „niederträchtigen“ und „lasterhafte[n] Charaktere[n]“.

Der tugendhafte Freyenthal ist ohne eigenes Vergehen beim Landesherren angeschwärzt worden und hat so seine Anstellung am Hofe sowie in Folge dessen sein gesamtes Vermögen verloren. Damit ist er nun von den „Wohlthaten“ seines neureichen Schwagers Schlangenburg abhängig, welcher deshalb nun keine Gelegenheit auslässt, sein „edles, […] gutes Herz“ zu erwähnen und Freyenthal vorzuhalten, dass er ihn „mit Kleidern, Wäsche, Essen und Trinken, Quartier, Holz, Licht, Medicamenten, Doktor, Dinte, Feder, Papier, Siegellack, Federmesser, Streusand, Büchern, & cetera & cetera umsonst, gratis, ohne Heller und Pfennig versorget“. Freyenthals Tochter Sophie soll aufgrund der prekären finanziellen Lage ihres Vaters mit dem angeblichen Gelehrten Hasenohr vermählt werden, in dessen sächsischem Dialekt sich eine kleine Spitze gegen die zeitgenössischen Bestrebungen einer nationalen Sprechreform andeutet, während Schlangenburg seine eigene Tochter, die hochnäsige und eitle Klarisse, hingegen mit dem jungen Niethal verheiraten möchte. Dieser erkennt jedoch schnell die boshafte Art Klarissens und verliebt sich in Sophie, welche duldsam die Herabwürdigungen ihrer Cousine erträgt. Angesichts dieser unbeabsichtigten Wendung offenbart Schlangenburg der bereits versammelten Hochzeitsgesellschaft seinen selbstgerechten, niederträchtigen Charakter und verliert dabei sogar die Gunst Marnstocks, des naiven Erbonkels Niethals. Indem schließlich Freyenthals Freund Altorf, gerührt von der Sittsamkeit Sophies und der Liebe Niethals, das Mädchen als seine Erbin einsetzt, steht auch der Verlobung des frisch verliebten Paares nichts mehr im Wege. Dabei werden jedoch die Missstände am Ende der Komödie nicht gänzlich aufgelöst: Nicht nur dass Schlangenburg und seine Tochter auf ihren unmoralischen Standpunkten verharren, auch Freyenthals ungerechtfertigte Entlassung aus seinem Dienst bleibt bestehen, womit sich der glückliche Ausgang lediglich auf die private Sphäre der Familie beschränkt, die politisch-gesellschaftlichen Geschäfte des Hofes jedoch nicht antastet.

Der mokante Altorf fragt am Ende des Stücks, ob „der heutige Tag nicht eine gute Comödie geben“ solle. Und auch an anderen Stellen werden die dramentheoretischen Überlegungen Klemms im Lustspiel explizit von den Figuren verhandelt. Während der Dichter in der Besprechung seines Stücks Lessings bekannte Ausführungen über das Lachen in der Komödie aufgreift, in denen es heißt, das Lustspiel solle „durch Lachen bessern; aber nicht eben durch Verlachen“, thematisiert erneut Altorf gegenüber Freyenthal auf der Bühne jenes Verlachen, welches nicht zur moralischen Besserung beisteuern könne: „Bessern? Wer sagt denn, dass ich bessern will. Wer der Henker soll ausgewachsene und abgelebte Thoren bessern? Ich will lachen.“ Da Klemm später innerhalb der Gruppe der aufgeklärten Wiener Dramaturgen moderatere Positionen bezog, sich gegen eine zur Geschmackstyrannei ausartende Theaterkritik wandte und für eine ausgewogene Symbiose komischer und moralisch-didaktischer Elemente plädierte, ist es nur konsequent, dass er in den Wohlthaten unter Anverwandten gelegentlich auch auf gängige Stilmittel der Wiener Komödie zurückgreift und den rührenden Szenen regelmäßig komische Elemente untermischt. So treten auch typisch lächerliche Figuren wie der Heuchler Hasenohr auf. Zudem fallen die Figuren sich häufig gegenseitig ins Wort oder brechen ihre Rede mitten im Satz ab, um ihre eigentlichen Gedanken nicht preiszugeben. Marnstock und Schlangenburg wiederholen sich ihrerseits unentwegt: der eine, um sich auf sein angeblich „edles Herz“ zu berufen, der andere, um immer wieder verschiedenen mit unterschiedlichen Absichten auf ihn einredenden Figuren Recht zu geben. Zumeist überfordert mit der Situation, kapituliert der schrullige Onkel Niethals schließlich vor den Streitereien: „Ich gehe auch mit – denn wenn ich nicht gienge, so bliebe ich da. Ihr habt alle Recht.“ 

Die Wohlthaten unter Anverwandten feierte seine Premiere am 29. Mai 1769 im Kärntnertortheater. Mit weiteren Aufführungen in den Jahren 1771 und 1779 zählt das Lustspiel zu Klemms erfolgreicheren Stücken. Gleichwohl fielen die zeitgenössischen Kritiken nicht wohlwollend aus. So rügte Christian Adolph Klotz in der Deutschen Bibliothek der schönen Wissenschaften die Fabel als „mager“ und „schläfrig“. Und tatsächlich bleiben die Entwicklung der Handlungsstränge sowie die Konflikte überschaubar. Nicht zuletzt deshalb von der Fachöffentlichkeit bisher nur spärlich berücksichtigt, bieten Klemms Theaterstücke und Die Wohlthaten unter Anverwandten im Besonderen jedoch interessante Einsichten in die Versuche aufklärerischer österreichischer Dichter, ihre dramentheoretischen Entwürfe in die Theaterpraxis umzusetzen. Auch wenn sie sicherlich so manchem zeitgenössischen Theatertext in einigem nachstehen, sind sie doch aufschlussreiche literaturgeschichtliche Dokumente zur Entwicklung der Wiener Komödie im 18. Jahrhundert, deren literaturhistorischer Wert in der Anknüpfung an Lessing und das rührende Lustspiel liegt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Christian Gottlob Klemm: Die Wohlthaten unter Anverwandten. Ein Lustspiel in drey Aufzügen.
Mit einem Nachwort herausgegeben von Matthias Mansky.
Wehrhahn Verlag, Hannover 2019.
85 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783865257291

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch