Absonderliche Lebensläufe

Das Künstlerduo Almut Klotz und Reverend Christian Dabeler erzählt von „Tamara und Konsorten“

Von Rainer RönschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rainer Rönsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Almut Klotz und Reverend Christian Dabeler waren als Künstlerduo nicht nur in der Literatur, sondern auch in der Musik zu Hause. „Reverend“ ist kein Amtstitel des Autors und Herausgebers, sondern ein vom Orgelspiel herrührender Künstlername. Dabelers Lebensgefährtin Almut Klotz ist 2013 gestorben. Er bringt nun den 2008 erschienenen Erzählungsband „Tamara und Konsorten“ überarbeitet und ergänzt heraus. Die Geschichten wurden damals getrennt geschrieben, aber gemeinsam lektoriert. Sein „Nachwort zur Neuausgabe“ gibt wichtige Hinweise auf gesellschaftliche und literarische Tendenzen der „Nullerjahre“ und die Beschäftigung mit „nichtsozialen Figuren“, also Außenseitern, Einzelgängern, Sonderlingen, Antihelden. Das künstlerische Selbstverständnis von Klotz und Dabeler, mit Nichtintegrierbaren als Vorbildern, lässt Grenzüberschreitungen zu: Einige Figuren stehen nicht nur am Rande der Gesellschaft, sondern sind psychisch deformiert, kaltherzig oder gar mörderisch. Obwohl es sich bei dem Erzählungsband um eine Gemeinschaftsarbeit handelt, folgt diese Rezension der Zuordnung zu den Autoren in Dabelers „Editorischer Anmerkung“.

Stark beeindruckt Hate & Hyperbolic von Almut Klotz mit originellen musikalischen und literarischen Einfällen. Der Mixer der titelgebenden Band spielt jedem Musiker auf der Monitorbox dessen Lieblingsmischung ein, während im Zuschauerraum etwas anderes ankommt. Das fliegt auf, und die Band setzt einen drauf: Die Musiker machen ihre Bewegungen zu den eingespielten Stücken, hören und sehen auf den Monitoren aber, was sie wollen. Am Ende verlegt sich die Band auf Live-Karaoke. Ihr ehemaliger Mixer aber engagiert sich gegen die „verantwortungslose Verwendung von akustischen Signalen im öffentlichen Raum“.

Die Ich-Erzählerin in Über die Schreke fuhr einst mit dem Fahrrad zur Schule, lieber auf gefährlicher Bundesstraße als nahe an schreckeinflößenden Felsen und Tannen. Jeder Weg aber führte zum Bach Schreke, wo parallel zur Brücke ein Rohr lief, breit genug zum Darüberlaufen, wenn man den Abgrund ausblendete. Ein „Mädchenchor“ warnte die sich der Mutprobe unterziehenden Jungen davor, über den Rand der Böschung zu gehen. Ralf Sager, „Sagi“, hingegen versprach Geld bei Gelingen. Prägnant wird das geografische und sozialen Milieu dargestellt. Einen Sommer später pisst Sagi auf die Erzählerin, ohne dass sein Handeln begründet wird. Rächt er sich, weil sie dem „Mädchenchor“ angehörte? Nach Jahrzehnten kehrt die Erzählerin kurz in die Heimat zurück und bestellt Bier an einem Kiosk. Der Kioskbesitzer ist Sagi. Sie lässt das Bier nicht stehen, weil sie den Alkohol in dem Moment dringend braucht.

[[V+H]xF] : G = U: Schon wieder Pisse, diesmal im Namen, wozu das? Ein schönes Paar, sie heißen Paula und Pisse. Nach der Realschule wird sie zur Logopädin ausgebildet; er arbeitet in der Kreisstadt an einer Riesenerfindung. Auch stellt er Gleichungen für die Lebensqualität auf, doch Paula verliebt sich in Thorsten. Kurz vor Paulas Abschlussprüfung läuft ihr eine Katze nach. Die Augen und anderes erinnern sie an Pisse, weshalb die Katze dessen Namen erhält. Das Tier attackiert Thorsten, von dem sich Paula trennt, weil sie ihre große Liebe wiedergetroffen hat. Auch ein neuer Partner Paulas macht die Katze wütend, woraufhin Paula sie aussetzt. Dann bekommt sie Besuch: Pisse, mager und struppig. Er deutet auf etwas Unbenanntes und erinnert an seine Erfindung, wozu Paula lächelnd nickt. Hier entfaltet die nicht nur von Dabeler gerühmte Lakonie der Almut Klotz große Wirkung. Ungläubig fragt man sich, ob Pisse tatsächlich Menschen in Tiere verwandeln kann und wieder zurück. Paula jedenfalls ist froh, dass er wieder ein Mensch ist.

Der bisher unveröffentlichte Text Chantal wechselt abrupt die Erzählperspektive und die Schauplätze. Eine Ich-Erzählerin, die sich für die Supermarktkassiererin Chantal interessiert, verschwindet nach zweieinhalb Seiten und dem Satz „Meist fängt sie gleich an zu erzählen.“ Chantals gockelhafter Partner Adel will mit einem Slangwörterbuch „fett Kohle“ machen. Auf irgendeiner Party kommt das Gespräch auf Chantal, die als Kind mit einer Freundin eigene Theaterstücke im Wohnzimmer aufführte. Ein älterer Drehbuchautor spricht Chantal an, um für Szenen in einem Supermarkt zu recherchieren. Am Ende schwört Adel, dass er sein Wörterbuch irgendwo unterkriegen wird.

Bei den Erzählungen von Reverend Christian Dabeler sticht die Herman Brood Ballade heraus, in der Musik das Leben prägt. Ein junger Mann namens Mika erzählt einem älteren Mann die Story von Gene Vincent. Der US-amerikanische Rockabilly-Musiker sei auf der Landungsbrücke 6 von einem Freund gefragt worden, warum er beim Singen in den Himmel schaut. Die ruhige Antwort: „Da oben, ganz weit oben, leuchtet der Stern von Eddie.“ Die Reaktion des älteren Mannes wird zur überraschenden Pointe: „Das war übrigens auf Landungsbrücke 5.“ Mika denkt an Johnny aus St. Pauli, von dem er diese Geschichte hatte. Mit ihm war er bei einem Hermann-Brood-Konzert, danach verdiente Johnny in den einschlägigen Clubs als Musiker richtiges Geld. Für die Mitschüler mutierte er zum Arschloch. Er nahm Drogen und produzierte Porno-Hörspiele. Hermann Brood sprang (wie in Wirklichkeit) von einem Hoteldach. Mike hat Sehnsucht nach Johnny und all den anderen, die es immer ernst meinten.

Martin Knaller aus der Erzählung Der Idiot oder Eine Zwangsdeetablierung ist schon vom Namen her ein Idiot, keine originelle Erfindung. Knaller weiß alles besser und findet erfolgreiche Schriftsteller schlimmer als Stalin und Hitler zusammen. Ärzte scheuen ihn, weil sie spüren, dass er klüger ist als sie. Die Kinder seiner Bekannten bringt er mit Gruselgeschichten ins Bett und warnt sie vor ihren Eltern. „Die Kinder liebten Martin, denn sie hörten gern die Wahrheit.“ Als Hölderlin will er einen Kollegen vergewaltigen, der für ihn Goethe spielen muss. Nach einem neurochirurgischen Eindruck in Weißrussland wird er Literaturwissenschaftler und Leiter einer deutschsprachigen Bibliothek in den USA. Zwar ist Knaller ein Außenseiter, aber auch ein Fall für die Psychiatrie.

Zwei Erzählungen werden vom Herausgeber keinem Autor zugeordnet: Rosie und Tamara – Die schöne Witwe von Peter Lichtenstein. Die letztere und längste Erzählung des Buchs beginnt mit einem Interview und besteht ansonsten aus einem wortreichen Briefwechsel zwischen Tamara in Berlin und Tino in Hamburg im Jahre 2003. Tamara war dabei, als ein Freund beim Russischen Roulette umkam. Tino weiß von Tamaras Beinprothese durch seinen „vermaledeiten“ Cousin, nach dem sich Tamara zu seinem Ärger erkundigt. Tinos Ich-Bezogenheit zeigt sich an dem Satz: „Also, mich hat eine Frau kennengelernt.“ Er bezweifelt den Tod von Tamaras Lebensgefährten Peter Lichtenstein, und seine Straße hat plötzlich einen Knick. Breit erzählt wird von Azadeh, Tamaras persischer Untermieterin, und Tinos Freundin Marina. Skurill sind Tinos Erlebnisse in der womöglich gar nicht existierenden Redaktion von „Rasen und Hecke“ in Osnabrück. Nach langem Hin und Her stellt sich Tinos Cousin (oder aber ein heruntergekommener Mongole) in Tinos Wohnung ein. Tino bittet Tamara um Hilfe, und die kommt sofort – anrührende Mitmenschlichkeit in einem absurden Milieu.

Insgesamt überzeugt der Erzählungsband, dessen wichtigste Texte hier besprochen wurden, mit einem scharfen Blick auf Außenseiter, unerschöpflicher Fabulierlust und nicht zuletzt mit sprachlicher Musikalität. Nicht jede Figur wirkt sympathisch, doch literarisch ergiebiger als systemkonforme Aufsteiger sind Menschen am Rande der Gesellschaft allemal.

Titelbild

Almut Klotz / Reverend Christian Dabeler: Tamara und Konsorten. Erzählungen.
Verbrecher Verlag, Berlin 2023.
170 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783957325501

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