Kluges Fragen

Reflexionen zu Gesprächen mit Alexander Kluge

Von Joseph VoglRSS-Newsfeed neuer Artikel von Joseph Vogl

Vorbemerkungen der Redaktion

„Ich habe keine Lehre, aber ich führe ein Gespräch.“ Diesen Satz des jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (geb. 1878 in Wien, gest. 1965 in Jerusalem), der als eine Art Motto seiner „dialogischen Philosophie“ gelten kann, hatte der literaturwissenschaftliche Betreuer von Joseph Vogls Dissertation über Kafka an der Universität München, Walter Müller-Seidel, seinem 1965 erschienenen Buch „Probleme der literarischen Wertung“ als Motto vorangestellt. Der Satz könnte auch als Motto gelten für zahlreiche Publikationen des vor 90 Jahren, am 14. Februar 1932, geborenen Filmemachers, Fernsehproduzenten, Schriftstellers, Drehbuchautors, Philosophen und Rechtsanwalts Alexander Kluge. Der Freund von Jürgen Habermas, dessen Postulate einer „herrschaftsfreien Kommunikation“ und einer „intersubjektiven Wahrheit“ diesem Motto ebenfalls entsprachen, fand seit Mitte der 1990er Jahre Joseph Vogl als einen seiner öffentlichen Gesprächspartner. Die Fernsehgespräche zwischen beiden sind 2009 unter dem Titel „Soll und Haben“ auch in Buchform erschienen, weitere 2020 unter dem Titel „Senkblei der Geschichten“. Schon vorher hatte Joseph Vogl in der Zeitschrift „Maske und Kothurn“ (2007/1) seinen Vortrag vom 4.12.2004 an der Princeton University (wo er im Wechsel mit der HU Berlin als Professor tätig ist) mit Reflexionen zu den Gesprächen mit Alexander Kluge veröffentlicht. Dessen 90. Geburtstag ist ein Anlass, die Überlegungen in literaturkritik.de erneut (in einer etwas gekürzten Fassung) zu publizieren. Wir danken Joseph Vogl für die Genehmigung dazu.
Thomas Anz

 

Wenn ich jetzt ein paar kursorische, unsystematische Bemerkungen zu den „Fragen“ Alexander Kluges machen will, so ist damit eine ganz bestimmte Unterstellung verbunden, die Unterstellung nämlich, dass es etwas Besonderes mit diesen Fragen auf sich hat, dass sie eine gewisse Eigenart, einen gewissen Eigensinn behaupten, kurz: dass man mit ihnen, mit diesen Fragen, ein besonderes Ereignis in der Diskursökonomie bezeichnen kann.

Gibt es ein allgemeines Motiv, einen Grund oder Hintergrund für diese Frageformen (oder für spezifische Frageweisen überhaupt), so müsste man zunächst vielleicht zwei Dinge vermerken. Erstens bestimmen sich kulturelle Systeme durch eine eigenartige Balance, durch ein Verhältnis von Fragen und Antworten, Problemen und Lösungen, in denen eine unterschiedliche Gewichtung wirkt: eine Asymmetrie oder Verschiebung, die zu Ungunsten der Fragen und Probleme und zu Gunsten der Lösungen und Antworten ausfällt. Es scheint mir, als wäre die Funktion von Diskursen und Kommunikationen, die Welt der kulturellen und politischen Ordnungen vor allem von Antworten und Lösungen durchherrscht, als wäre man hier von Lösungen, Auskünften und Verwirklichungen umstellt. Das ganze – praktische und theoretische – Problem bestünde dann allerdings darin, angesichts all dessen, was sich wie selbstverständlich löst, vollzieht und realisiert, überhaupt die entsprechenden, zugrundeliegenden Fragen und Probleme zu finden. Es gibt hier stets einen Überschuss, ein Überangebot an Antworten, Lösungen, Realisierungen; und umgekehrt eine gewisse Not, exakt jene Posten, jene kritischen Punkte zu entziffern, jene knappen Problemstellungen, auf die all das antwortet und sich bezieht. Die Knappheit der Probleme und der Überschuss von Lösungen bestimmen den Zusammenhang einer Kultur.

Ein Zweites kommt hinzu und hängt offenbar damit zusammen. Wo immer man nämlich heute – und seit geraumer Zeit schon – mit Fragen zu tun hat (und es lässt sich keinesfalls leugnen, dass es eine gewisse Frage-Kultur, Frage-Konjunktur gibt) –, wo immer man also mit Fragen zu tun hat, dort sind diese Fragen meist zwangsläufig und vorhersehbar mit einem überschaubaren Bestand an Antworten verkettet. Die Wahrheitsspiele, die man uns anbietet, sind durch eine geradezu mechanische Verschränkung von Frage und Antwort definiert, genremäßig, könnte man sagen. Man muss dabei wohl an das Quiz, das Ratespiel, den Fragebogen, die Umfrage, die Befragungen allgemein, die Marktforschung, den Talk, das allgemeine Erhebungswesen denken. Hier gilt eine endlose Fabrikationen von Fragen, die zugleich ihre Antworten programmieren. Das jedenfalls scheint ein sehr effizientes Steuerungs- und Regierungsmittel zu sein, genauer: Teil einer glücklichen Ordnung, die zwischen Wünschen und Neigungen einerseits, wünschbaren Möglichkeiten andererseits vermittelt. Das Abfragen programmierbarer Antworten: das schafft jene Formate und jene versöhnlichen Milieus, in denen sich allgemeine Stimmungen mit Abstimmungen konvertieren.

Wollte man ein Emblem für diese neuere Lage finden, könnte man auf Kafkas Proceß-Roman verweisen, auf eine beiläufige, fast unscheinbare Figur in diesem Roman. Dabei handelt es sich um Folgendes. Josef K. hat sich gerade ein zweites Mal in den Gerichtskanzleien eingefunden und dabei in den stickigen Dachböden verlaufen. Er verspürt – in der drückenden Hitze – ein leichtes Unwohlsein, dann eine Übelkeit, die sich zu einem Schwindel- und Schwächeanfall, schließlich fast zu einer Ohnmacht steigert. Und gerade hier, an dieser Stelle und in diesem kritischen Augenblick, tritt ein junger Mann auf den Plan, adrett und elegant, der als besonderer Funktionär des Gerichts, als Beamter mit besonderem Aufgabenbereich vorgestellt wird. Es handelt sich um einen, den man „Auskunftgeber“ nennt. Und über ihn heißt es: „[…] dieser Herr also ist der Auskunftgeber. Er gibt den wartenden Parteien alle Auskünfte, die sie brauchen, und da unser Gerichtswesen in der Bevölkerung nicht sehr bekannt ist, werden viele Auskünfte verlangt. Er weiß auf alle Fragen eine Antwort, Sie können ihn, wenn Sie einmal Lust dazu haben, daraufhin erproben. Das ist aber nicht sein einziger Vorzug, sein zweiter Vorzug ist seine elegante Kleidung.“[1] Diese geschmeidige Figur wäre ein Emblem also in folgender Hinsicht. Während Josef K. am Rande einer Hölle ungestellter und unbestimmter Fragen steht, am Rande der Prozess- und Gerichtswelt, während schon sein Körper zu einem Korpus undeutlicher, indefiniter Fragen wird, zum Symptom nämlich – begegnet man hier, begegnet Josef K. hier einem eleganten, wohlbekleideten Auskunftswesen: mit schnellen, probaten, ebenso tröstlichen wie konsequenzlosen Antworten, die sich wie ein Paravent vor das stickige, unübersichtliche Milieu ungekannter Problemlagen stellen.

Wahrscheinlich hat man es, wenn man sich mit Alexander Kluges „Fragen“ beschäftigt – mit den Fragen seiner Literatur und seiner Kinofilme, vor allem aber mit den Frageweisen in den Fernseh-Magazinen –, mit einer schwierigen Gattungsbestimmung zu tun, mit einer gewissen Uneindeutigkeit des Genres. Denn einerseits lässt sich hier eine Geste erkennen, die mit keiner der handelsüblichen Formen koinzidiert, nicht mit Vernehmung oder Verhör, nicht mit Unterhaltung oder Dialog, nicht mit Talk oder Plauderei. All das wird nur fallweise und ironisch herbeizitiert, ergibt aber keine verlässliche Regel dafür, wie man zu bestimmten Fragen und von diesen Fragen wiederum zu den Antworten gerät. Andererseits aber muss man dabei durchaus ein Echo und ein Element dessen erkennen, was man ‚Interview‘ nennt oder genannt hat, Interview in einem ersten und anfänglichen Sinn. Denn das Interview ist ja nicht nur – als bestimmte Fragetechnik – aus den amerikanischen Polizeiberichten des 19. Jahrhunderts hervorgegangen[2]; es hat seine Praxis auch einem entrevue oder einem entrevoir zu verdanken, einem Zusammen-Treffen, dessen Dramaturgie eben durch das ‚Inter‘, durch das ‚Dazwischen‘ hervorgebracht wird. In diesem Sinne organisiert sich das Interview um eine Naht oder eine Bruchstelle herum und folgt einem Verlauf, in dem sich das ‚Zusammen‘ einer Begegnung um die Infragestellung eben dieses ‚Zusammen‘ verdoppelt. Das Ereignis des Interviews liegt im Dazwischen, in diesem Dazwischen aber steht der Zusammenhang selbst auf dem Spiel.

Wenn die Montage im Film – wie Kluge mit anderen einmal bemerkt hat – eine „Theorie des Zusammenhangs“ ist, wenn sich an Schnitt und Montage die Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit des Zusammenhangs entscheidet, wenn hier darüber entschieden wird, wie, ob und in welcher Hinsicht etwas zusammenhält, so lässt sich im Interview, in seiner Frageform wohl ein unmittelbares Pendant dazu erkennen. Das wäre zugleich eine erste These: Die Frage bedeutet für den Verlauf und die Ökonomie des Diskurses, was Schnitt und Montage für den filmischen Zusammenhang sind. Hier vollzieht sich eine elementare symbolische Operation, hier vollzieht sich die Operation des Zusammenfügens oder Zusammenbringens, des symbállein; und hier steht zugleich das Diabolische auf dem Spiel: der Bruch, die Naht, die Lücke, die irgendein Teufel lässt. Und das heißt: Die Frage formuliert ebenso wie Schnitt und Montage eine Haltbedingung, in ihr wird zunächst ein Anhalten artikuliert. Alle Fragen – wie jede Montage – gehen darum auf die Gabi-Teichert-Frage in der Patriotin zurück: „Die meiste Zeit ist Gabi Teichert verwirrt. Das ist eine Frage des Zusammenhangs.“ Wenn es also in Kluges Fragen wirklich eine Strategie oder eine konsequente Geste gibt, so zielt sie auf die Unterbrechung, auf die fragwürdige Fortsetzung der diskursiven Operation. Werden Kluges Fernsehgespräche durch die Frage, die Frageform hervorgebracht, so gewinnt diese ihre strategische Bedeutung durch ein Prinzip der Verästelung. Sie verschmilzt mit dem Montageprinzip überhaupt, mit der Intervention eines Dazwischen, das sich nicht nur zwischen Frager und Befragtem, zwischen den Sätzen und zwischen den Bildern, sondern auch zwischen Bild und Text, Bild und Ton, Text und Ton manifestiert.[3] Die Frage: das ist zunächst jene kleine Gewaltsamkeit, die sich gegen die „Gewalt des Zusammenhangs“ richtet.

Kluges Fragen sind darum, so würde ich gern behaupten, mit einer Problematisierung verbunden, die sich nicht durch Antworten abgelten und auflösen lässt. Ihre Dimension ist so angelegt, dass sie dem Abklatsch erhältlicher, möglicher oder wahrscheinlicher Antworten entgeht. Sie sind nicht der neutrale Doppelgänger eines möglichen Antwortsatzes, sie ersparen sich eine Befriedigung, die in der Kompensation der Fragen durch die Antworten liegt. Sie zielen nicht nur auf Antworten, die man nicht kennt, sondern mehr noch: sie greifen auch jene Figur des Gemeinsinns oder gesunden Menschenverstands an, die sich an einem unterstellten gemeinsamen Wissen orientiert. Man kann hier durchaus – und das wäre ein zweiter Aspekt – eine gewisse Dialektik reklamieren, eine diakeltische Methode; diese Dialektik aber installiert keine Maschine der Synthesen und Lösungen, sondern zunächst eine Kunst der Probleme und Fragen. Wenn Kluge in diesem Zusammenhang einmal vom Vollzug eines „unvermuteten Denkens“ gesprochen hat, so lässt sich hier die Verwandtschaft zu einer Methode der Differenzierung und der Dramatisierung erkennen, mit der man auch anderswo ein dogmatisches Bild des Denkens zu durchkreuzen versuchte, ein Bild des Denkens, das sich durch das bloße Abfragen der Doxa, der Lehre oder Meinung, des gleichmäßig verteilten und jedermann zugänglichen Wissens behauptet. So heißt es bei Gilles Deleuze, in Differenz und Wiederholung: „Man muß damit aufhören, die Probleme und Fragen als Abklatsch der entsprechenden Sätze zu begreifen, die ihnen als Antworten dienen oder dienen können. […] Die Dialektik ist die Kunst der Probleme und Fragen […]. Aber die Dialektik verliert ihre eigentliche Kraft […], wenn sie sich mit dem Abklatsch der Probleme von den [Antwort-]Sätzen begnügt“.[4]

Lösungen sind immer schon gegeben; Probleme aber müssen erarbeitet, erfunden, stimuliert, konstruiert werden. Im Zentrum der Klugeschen Frage oder Problematisierung steht also zunächst etwas, das man ein ‚komplexes Thema‘ nennen könnte, eine problematische Konstellation. Zum Beispiel: „Hier gibt es den Ausdruck ‚verdickte Gegenwart‘. Was ist das?“; oder: „Da gibt es ein Pressebild, da sind Sie zu sehen mit einem Totenkopf in der Hand […]. Was soll das heißen“. Ein komplexes Thema wird nicht nur unvermittelt und gewissermaßen zusammenhangslos eingespielt (als ein bloßes „da gibt es“), es zeichnet sich dadurch aus, dass es auf einen heterogenen und komplexen Sachverhalt verweist, der selbst eine Perplexität provoziert, also eine im wörtlichen Sinn vielfältige, vielfach gefaltete und damit unübersichtliche Angelegenheit repräsentiert. Wenn man also die Gegenstände von Kluges Fragen – ganz allgemein – mit einem ‚komplexen Thema‘ umschreiben könnte, so bedeutet das wenigstens zweierlei. Denn einerseits wird damit die problematische oder frag-würdige Struktur als Teil jener Objekte und Sachverhalte begriffen, denen die Frage gilt. Mit der Frage wird die Frageform, die Unübersichtlichkeit des Gegenstands selbst virulent. Gegenstände und Wesen, Ereignisse und Begriffe müssen damit als ebenso viele Lösungen von Problemen verstanden werden, die sie umschließen. Sie existieren als Lösungen und Antworten, tragen aber zugleich die Zeichen jener Probleme und Fragen, deren Realisierung sie selbst wiederum sind. In dieser Hinsicht ist die Frage keine subjektive oder meinungshafte Bestimmung, keine äußerliche Bezugnahme, sondern Teil einer objektiven Struktur. Die Instanz der Fragen und Probleme verwurzelt in den Dingen selbst. Man könnte das durchaus eine marxistische Wendung der Frageform nennen, wenn man mit Marx in jeder sozialen oder historischen Verwirklichung eine bestimmte Problemlösung konstatieren und entziffern will. Vor allem aber gilt auch hier eine Ironie, eine interrogative Ironie. Diese Ironie besteht darin, die Dinge und Wesen, die Begriffe und Ereignisse als ebenso viele Antworten auf verborgene Fragen zu behandeln, als ebenso viele Fälle für Probleme, die zu lösen sind.

Andererseits aber ist mit diesem komplexen Thema, mit diesem besonderen Spiel von Frage und Antwort auch eine Operation gemeint, die nicht mit realistischen Unterstellungen, mit der Funktionsweise der Wiedererkennung funktioniert. Kann man die Form eines allgemeinen Realismus darin erkennen, dass er Begriffe mit Anschauungen und diese wiederum mit Gefühlen verknüpft, dass er also sinnlich-intelligible Einheiten produziert, so stellt der problematische Kern der Frage diese passgenaue Zuordnung zur Disposition. Die Frage zielt damit auf jene Erscheinungsform ihres Gegenstands, der eine nicht-realistische, nicht-naturalistische und – wenn man so will – nicht-narrative Präsentationsweise verlangt. Das scheint mir der Spieleinsatz der immer wiederkehrenden Fragen bzw. Aufforderungen bei Kluge zu sein: „Beschreiben Sie einmal…“; oder: „wenn Sie mir das einmal beschreiben…“; usw. Die Aufforderung zur Beschreibung, die Frage nach einer Beschreibung appelliert an eine analytische Wahrnehmung, in der man sich der hypothetischen Existenz des Beschriebenen nähert. So heißt es einmal mit einer Serie von Fragen in einem Gespräch mit Heiner Müller: „Beschreib mal deine Mutter, wie sah sie aus? – Ist sie groß? – Welche Augenfarbe hat sie? – Wie spricht deine Mutter – schnell, langsam? Erzählt sie? Ist sie wortkarg?“ – Wenn es hier um eine Art Beschreibungstotalität geht, so wird gerade dadurch das Bild der Mutter vom Mütterlichen separiert und eine Anstrengung abverlangt, im Vollzug der Beschreibung die reflexhafte Zuordnung von Bild, Begriff und Affekt in eine gleichsam pointillistische Konstellation aufzulösen. Die Frage nach der Beschreibung fragt nach Gegenständen, die ihr Gegebensein ebenso wie ihre intuitive Gewissheit verlieren und in Schwebe geraten. Man könnte dies auch ein Programm gegen Einfühlung nennen; jedenfalls eine Operation, mit der die Dinge des Wissens, des Empfindens und der Intuition aus ihrem gemeinsamen Passepartout herausbrechen und kein Immer-schon-Gewusstes, kein Immer-schon-Gefühltes, kein Immer-schon-Gesehenes, kein Immer-schon-Erinnertes mehr sind.

Die Frage ist also mit der Fragwürdigkeit des Zusammenhangs wie mit der unhaltbaren Einheit ihrer Gegenstände verknüpft; und das hat sein Gegenstück in der Frageform selbst, die mit ihrer Grammatik und Semantik eine gewisse Reichweite, einen gewissen Aktionsradius beansprucht. Und das ist der dritte Aspekt, den ich hier ansprechen möchte. Denn so sehr immer wieder „Was ist“-Fragen bei Kluge intervenieren (etwa: „Was ist ein Rhizom?“ oder „Was ist ein Nekromantiker?“), so wenig wird damit auf eine Substanz oder ein Wesen abgezielt, auf etwas, das gleichsam unwandelbar und wie ein verborgener Kern hinter den Worten, Begriffen und Sachen steckt. Viel eher geht es dabei um Definitionen im strengen Sinn, um jenes Definieren, Abgrenzen, Zuschneiden und Isolieren, um ein Unterscheidungsvermögen also, mit dem der erfragte Gegenstand im Vollzug der Bestimmung hervorgebracht wird. Die Frage „Was ist?“ löst eine Dynamik aus, die das scheinbar Essentielle der Aktivität des Formens und Verformens unterwirft.

Es ist darum nur konsequent, wenn die Frage „Was ist?“ stets von anderen Fragen und Frageformen getragen, überholt und durchkreuzt wird, von Fragen, die nicht auf das Wesen, sondern aufs Unwesentliche, nicht auf Hauptsachen, sondern auf die Nebensächlichkeiten gerichtet sind. Die Frage „Was ist?“ wird von den Fragen nach den Umständen und nach dem Umherstehenden ergänzt; genauer: sie findet in den Umstandsfragen erst ihren eigentlichen Sinn. Man mag dabei an kriminalistische Lehrbücher denken, die sich an die Faustregel der W-Fragen halten: „Wer, was, wo, womit, warum, wie und wann“.[5] Es ist hier jedenfalls ein Eventualismus im Spiel, der mit seinen Fragen die Sachverhalte in die Unruhe des Ereignishaften verwandelt und sich auf das bezieht, was tatsächlich, vielleicht oder möglicherweise der Fall ist. Gegen die Frage nach dem Wesen wird hier eine Vielstimmigkeit von Fragen präsentiert, die sich auf das Akzidens, auf das Mannigfaltige und schlicht auf das „Ereignis“ beziehen.[6]

Wenn es etwa um die große Demonstration am 4. November 1989 auf dem Alexanderplatz in Berlin geht, so lautet die Frage: „Wie sieht das genau aus? / Ist es ein Abend oder ist das nachmittags gewesen am Alexanderplatz? / Waren da auch Musikkapellen dabei? Und wo sind die Pissoirs? / Wie sieht der Himmel aus?“[7] Einerseits wird damit das Ereignis in eine unabgeschlossene Serie von Ansichten transformiert, es zerfällt in eine Ansammlung von Einzelheiten, in denen die hierarchische Unterordnung von Haupt- und Nebensachen einem losen und additiven Verbund von „dies und das“ weichen muss. Auf der anderen Seite aber liegt das Ereignishafte von Sachlagen gerade in diesem losen und fluktuierenden Verbund. Das Licht des Tages, die Farbe des Himmels und vielleicht die Songs einer Kapelle – all das sind keine beiläufigen Merkmale dessen, was passiert, sondern gerade als Akzidenzen aktiv, wirksam und effizient mitten im Ereignis selbst. Man könnte also sagen: Kluges Fragen zielen – mit einem unschönen Wort ausgedrückt – auf die ‚Ereignishaftmachung‘ von Dingen, Sachlagen und Begriffen.

Vor diesem Hintergrund kann man in der oft reklamierten Mäeutik Kluges wohl keine sokratische oder platonische Wendung erkennen, keinen Weg zu einem eingeborenen, allseits zugänglichen und vielleicht nur umständehalber verhinderten Wissen. Als „Provokation von Eigenbewegung“ – wie Kluge das selbst genannt hat – ist die mäeutische Frageform vielmehr Teil jener Ereignishaftmachung, die mit der Art der Antworten die Produktionsbedingungen von Antworten überhaupt einschließt. Und diese sind zunächst ganz unmittelbar technischer, d.h. medientechnischer Natur. Denn das Defilée von talking heads und gerahmten Gesichtern, das Kluge in seinen Magazinen mit naher oder halbnaher Einstellung präsentiert, hält an einem Grundriss und an einem gleichbleibenden Arrangement fest, das die fundamentale Asymmetrie von Frage und Antwort nur leicht und von Fall zu Fall variiert. Während das Gesicht der Frage oder des Fragers als eine unsichtbare Pantomime stets außerhalb des Bildfeldes bleibt, wird das Bild selbst von etwas bestimmt, das man die Taten und Leiden des Gesichts nennen könnte: reflektierende Schicht, Ausdrucksmaterie und Einschreibefläche zugleich. Das Off der Frage koinzidiert mit einem Gesicht, das nun zum Schauplatz eines Mikrodramas, des Ringens, des Ungleichgewichts und der Nahtstelle von Frage und Antwort wird. Man könnte darin die List einer technischen Vernunft erkennen: Das imperative Mandat der Frage, ihre Unausweichlichkeit, ihre kleine Gewaltsamkeit wird vom Befrager auf die apathische Präsenz der Kamera übertragen, die nicht nur die Antwort, die Bewegung und den Ausdruck des Antwortens, sondern die Ankunft und den Effekt des Fragens registriert.

Während also die Frage als reine und unsichtbare Stimme wirksam wird, gerät das Gesicht der Antwort zu einer Agentur und zu einem Umschlagplatz, von dem aus sich die Frage-Effekte, die andere Seite des Fragens organisieren. Und dies ist der vierte und letzte Punkt, um den es mir geht. So wird die Antwort oder Auskunft zunächst in ein komplexes Verweissystem integriert, das ausgehend vom Gesicht eine Verteilung des semiotischen Materials über Stimme, Ton, Schriftzüge, Text und Bildkommentar installiert und damit eine ebenso differenzierte wie distanzierte Lektüre bzw. Entzifferung herausfordert. Die diskursive, technische und ästhetische Asymmetrie zwischen Frage und Antwort – eine Asymmetrie, deren Spieleinsatz eben das Problematische und Unvermutete ist – übersetzt sich damit in ein ungleichgewichtiges Selbstverhältnis der Antwortinstanz. Denn durch diese Verstreuung von Aussagen, Zeichen und Spuren wird einerseits das Gesicht denaturiert, die Person entpersönlicht, der Diskurs versachlicht und die gesamte Darstellung ‚episch‘ gebrochen. Aus der intimen und personalen Einheit von Stimme und Person werden Aussagen und Argumente entlassen, die das sprechende Ich überschreiten und eine anonyme, unpersönliche Aussageinstanz einführen. Andererseits aber bleibt das sprechende Gesicht im Visier der statischen Kamera und damit in einer Art visueller Geiselhaft gefangen. Und das bedeutet: Während Argumente und Aussagen aus der sprechenden Person entlassen und freigesetzt werden, wird umgekehrt die Person nicht aus dem Gesagten entlassen und bleibt haftbar für das, was hier geschieht.

Dies scheint mir eine zentrale Wendung im Spiel zwischen Antwort und Frage bei Kluge zu sein, eine Wendung, durch die sich die befragte Person allmählich zur Figur eines Zeugen transformiert. Während sie einerseits ein bestimmtes Wissen und eine Auskunftslage autorisiert, wird sie umgekehrt von diesem Wissen und dieser Auskunftslage in die Pflicht genommen und beansprucht. In dieser Hinsicht ist sie kein bloßer ‚Auskunftsgeber‘ mehr, weder Experte noch Erzähler oder Urheber. Sie wird vielmehr auf die Position eines Boten der eigenen Nachricht verpflichtet, sie wird zu einem sichtbaren Augenzeugen dessen, worüber sie spricht. Dies ist das elementare Ereignis, das durch Kluges Fragen hervorgebracht wird: Auf der Instanz der Antwort wird ein Zeuge und Kundiger produziert, ein histos im alten Sinn, einer, der sich selbst als das Material von historia, von Geschichte und Geschichten präsentiert. Das berichtete Ereignis und das Ereignis des Berichts, der Gegenstand der Antwort und die Antwort als Gegenstand überlagern sich hier, greifen ineinander und gewinnen damit die Dichte eines historischen Falls. In der Macht der Gefühle hat Kluge dieses Problem der Zeugenschaft mit der Frage nach der Konstruktion von Geschichte verknüpft. Dort sagt ein „vorsitzender Richter“ zum vernommenen Zeugen: „Es wäre gut für Sie, wenn sie die Verwirrung auf den Tatzeitpunkt legen, nicht gut ist es, wenn Sie die Verwirrung in den Zeitpunkt Ihrer jetzigen Aussage einbringen.“ Gerade mit dieser doppelten und doppelt möglichen Verwirrung aber ist das historische Substrat bezeichnet, in dem sich der Gegenstand von Auskünften mit dem Ereignis der Auskunft selbst unmittelbar verschränkt.

Im Zentrum von Kluges Fragen steht also die Sondierung und Konstruktion eines historischen Felds. Die Frage nach dem Zusammenhang, die problematische Natur von Sachlagen, die Ereignishaftmachung und schließlich die Herstellung von Zeugenschaft – all das hat seinen Rahmen und seinen gemeinsamen Referenzbereich im Gebiet des historischen Wissens. Dabei ist nicht zu übersehen, wie das historische Wissen gerade durch jene referentielle Verwirrung zwischen Aussagen und Aussage-Ereignissen hervorgebracht wird. Das bedeutet, dass sich diese Geschichte und ihr Zusammenhang nie als Reservat von Daten und Tatsachen, sondern stets als ein im Werden begriffenes Geschehen präsentiert. Wenn Kluge immer wieder die Elementarereignisse der deutschen Geschichte rekapituliert bzw. rekapitulieren lässt, wenn er Geschichte archäologisch, d.h. in der Gleichzeitigkeit von Schichten und Ablagerungen adressiert, wenn er Geschichte als Geschichtserfahrung, diese aber als Problem ihrer Wiederkehr verhandelt, so gilt all diese Wiederholungsarbeit – und die Frage danach – einer Konstellation, in der Handelnde und Leidende, materielle und immaterielle Sachverhalte, Szenen und Beobachter nie aufgehört haben, miteinander, ineinander und gegeneinander zu wirken. Die Geschichte ist damit Ort des Problematischen schlechthin: Schauplatz von Fällen, von Verwirklichungen und Lösungen, die zwangläufig für die unverwirklichten Möglichkeiten einstehen und zeugen müssen. Die Geschichte selbst ist ein Feld von Lösungen, deren Probleme und Fragen weiterhin insistieren.

Das fortgesetzte Interview, das Kluges Fragen verfolgen, nimmt hier den Charakter einer Reportage an, man könnte vielleicht sagen, den Charakter einer „Ideenreportage“. Dieses Genre hat Michel Foucault einmal erfunden und beansprucht, als es darum ging, am Beispiel der iranischen Revolution zu erfahren, was das Ereignis dieser Revolution eigentlich sei. Es ging dabei um die Entwicklung einer Frageform, die das Problematische und Ereignishafte der Geschichte gegen die Monotonie der historischen Bilanz stellt. Foucault schrieb 1978: „[…] in der heutigen Welt wimmelt es von Ideen, die entstehen, sich bewegen, verschwinden oder wieder auftauchen und den Menschen wie den Dingen Stöße versetzen. […] Es gibt in der Welt weit mehr Ideen, als die Intellektuellen sich träumen lassen. Und diese Ideen sind aktiver, hartnäckiger und leidenschaftlicher, als die Politiker sich vorzustellen vermögen. Es gilt, der Geburt der Ideen beizuwohnen und ihre explosive Kraft zu erleben, und dies nicht in den Büchern, in denen sie vorgestellt werden, sondern in den Ereignissen, in denen sich ihre Kraft zeigt, und in den Kämpfen, die gegen oder für sie geführt werden.“[8]

An Gesten und Untersuchungsprogramme dieser Art scheint die Praxis von Kluges Fragen anzuschließen. Was hier aufgerufen wird und zur Sprache kommt, ist nicht nur ein historischer Möglichkeitssinn, sondern der Appell an ein nicht-disziplinäres und undiszipliniertes Wissen, in dem sich das Finden historischer Realität mit den historischen Real-Erfindungen verkettet. Daran scheint sich der Parcours von Kluges Fragen auszurichten, ein Parcours, den ich mit diesen Bemerkungen zu skizzieren versuchte: erstens mit einer Frageform, die wie die Montage den Zusammenhang im Augenblick des Entstehens oder Zerfalls markiert; zweitens mit einem komplexen Thema als Gegenstand, das die Figur des Problems in den Dingen und Ereignissen, den Sachverhalten und Begriffen selbst lokalisiert; drittens mit Frageweisen, die sich auf Umstände und Neben-Sachen bezieht und damit das Fällige und Ereignishafte selbst zu gewinnen versucht; und viertens schließlich mit der Produktion von Figuren, die nur insofern sprechen, denken oder phantasieren, als sie selbst zum Boten oder Zeugen ihres Sprechens, Denkens, Phantasierens gemacht werden.

Vielleicht verlangt der Auftrag des Fragens in der Welt voller Antworten und Lösungen eine beharrliche Arbeit und gleicht dabei jener Ausdauer, mit der einmal Kafkas Landvermesser das Schloß umkreist hat; und vielleicht ist es auch der Auftrag jenes Kafkaschen Landarztes, der statt Antworten und Lösungen vor allem Fragen hinterlässt. Es heißt dort[9]: „So sind die Leute in meiner Gegend. Immer das Unmögliche vom Arzt verlangen. Den alten Glauben haben sie verloren; der Pfarrer sitzt zu Hause und zerzupft die Messgewänder, eines nach dem anderen; aber der Arzt soll alles leisten mit seiner zarten chirurgischen Hand.“

Anmerkungen

[1] Franz Kafka, Der Proceß, Kritische Ausgabe, hg. v. Malcolm Pasley, Frankfurt/M. 1990, 102.

[2] Michael Haller, Das Interview. Ein Handbuch für Journalisten, Konstanz 1997, 23.

[3] Einige Anregungen zu diesen Überlegungen verdanken sich der unveröffentlichten Magisterarbeit von Alexander Biedermann, „Medientheoretische Überlegungen zu Alexander Kluges Fernsehpraxis“ (Leipzig 2005).

[4] Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, 203.

[5] Vgl. etwa Hans Groß, Die Erforschung des Sachverhalts strafbarer Handlungen. Ein Leitfaden für Beamte des Polizei- und Sicherheitsdienstes, München u.a. 41918, 23.

[6] Vgl. Deleuze, Differenz und Wiederholung, 239-240.

[7] Alexander Kluge / Heiner Müller, Ich schulde der Welt einen Toten. Gespräche, Hamburg 1995, 55-57.

[8] Michel Foucault, Die „Ideenreportagen“, in: Dits et Ecrits. Schriften, Bd. 3, Frankfurt/M. 2003, 886.

[9] Frank Kafka, Ein Landarzt, in: Drucke zu Lebzeiten. Kritische Ausgabe, hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerhard Koch u. Gerhard Neumann, Frankfurt/M. 1994, 258-259.