Alfred der Große

Alexander Kluy führt auf 100 Seiten ins Werk von Alfred Hitchcock ein

Von Wieland SchwanebeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Wieland Schwanebeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Das öffentliche wie auch akademische Interesse an Alfred Hitchcock ist ungebrochen. Im Jahrestakt erscheinen weiterhin neue Untersuchungen zum Werk des Großmeisters der Filmspannung, zudem wird der Nachlass vorbildlich verwaltet – soeben ist Psycho (1960) noch einmal in einer luxuriösen Aufmachung erschienen, die der schnoddrigen Low-Budget-Produktion eigentlich unangemessen ist, aber wer schon immer davon geträumt hat, Briefpapier mit „Bates Motel“-Aufdruck zu besitzen, sollte zugreifen. Der Reclam Verlag legt indessen in seiner „100 Seiten“-Reihe, die im Hosentaschenformat Wissen zu kulturellen und gesellschaftlichen Themen bündelt, ebenfalls einen Hitchcock-Band vor; er stammt von Alexander Kluy, der zuvor unter anderem Biografien von Joachim Ringelnatz und George Grosz veröffentlicht hat.

Kluy arbeitet die wichtigsten Stationen des Hitchcock’schen Schaffens in chronologischer Weise ab, vertieft dabei thematische Schwerpunkte wie Hitchcocks (selbst-)zerstörerische Männerfiguren und seine phänomenale Selbstvermarktung. Das Buch folgt jener Struktur, die viele Studien zum Thema auszeichnet – auf eine knappe Schilderung des biografischen Hintergrunds (inklusive der legendenbildenden Begebenheit auf der Polizeiwache) folgen Ausführungen zu Hitchcocks Lehrjahren in der Filmindustrie, zu den beiden durch ein Narrativ der Reifung und der steigenden Komplexität zusammengehaltenen Hauptschaffensphasen des Regisseurs in England (1924–1939) sowie in Hollywood (1940–1969), bevor das Buch mit dem Spätwerk ausklingt, das im Zeichen von Hitchcocks gesundheitlichem Niedergang und seiner Entkopplung vom Zeitgeist steht.

Dass Kluy in der relevanten Forschungsliteratur zu Hitchcock immens belesen ist, stellt sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche des Buchs dar. Er zitiert wichtige Hitchcock-Forscher wie Raymond Durgnat ebenso wie diverse Biografien und räumt auch den legendär unterhaltsamen Selbstauskünften Hitchcocks (v.a. den Gesprächen mit François Truffaut und Peter Bogdanovich) viel Platz ein. Das vermittelt ein durchaus repräsentatives Bild der wichtigsten Deutungsansätze zum Werk; zugleich werden aber auch die von Hitchcock selbst gestreuten Mythen fortgeschrieben, von denen sich die Forschung erst allmählich lösen konnte. Dass es etwa die Produzenten gewesen sein sollen, die Hitchcock das Happy End von Der Mieter (1927) aufgenötigt haben sollen, oder dass das Messer in der Duschszene von Psycho angeblich niemals den Körper berührt, gilt inzwischen als überholt. Auch der Bündelung aller Aufmerksamkeit auf die Person Hitchcocks zu Lasten all seiner Kreativpartner, die ein Ergebnis der im Frankreich der 1950er Jahre beginnenden Monumentalisierung des Regisseurs ist, stellt Kluy wenig entgegen – gewürdigt werden immerhin wichtige Personen wie Hitchcocks Frau Alma Reville, der Komponist Bernard Herrmann und der Autor James B. Allardice.

Am gewinnbringendsten und schlüssigsten liest sich diese unterhaltsame und eloquent geschriebene Werkschau, sobald die Filme selbst und nicht die Hitchcock-Mythen im Mittelpunkt stehen: Sehr geistreich und pointiert sind etwa Kluys knappe Interpretationen von Das Rettungsboot (1943) sowie Immer Ärger mit Harry (1955); anerkennenswert ist auch, dass er weniger bekannten Frühwerken wie Nummer Siebzehn (1932) und Riff-Piraten (1939) Aufmerksamkeit widmet und sich nicht ausschließlich auf die ,üblichen Verdächtigen‘ vom Schlage von Vertigo (1958) stürzt. Ein paar wenige faktische Ungenauigkeiten fallen angesichts der zugrundeliegenden Materialmenge kaum ins Gewicht – einmal verwechselt der Autor die beiden aus Österreich stammenden Exilschauspieler Walter Slezak und Oscar Homolka, einmal die beiden Spätwerke Frenzy (1972) und Familiengrab (1976) miteinander; die von ihm zitierte Statistik US-amerikanischer Kinobesucher für die Jahre 1946 und 1958 sollte um den Hinweis ergänzt werden, dass es sich nicht um die Zahlen für das Gesamtjahr handelt.

Ein paar andere Einschätzungen dürften Geschmackssache bleiben. Dass die von Tippi Hedren, Hauptdarstellerin in Die Vögel (1963) und Marnie (1964), geschilderte versuchte Vergewaltigung durch Hitchcock als ein „perverses Angebot“ durch den Regisseur abgetan wird, hat im Kontext einer für den institutionalisierten Sexismus Hollywoods sensibilisierten kulturellen Umgebung einen etwas bitteren Beigeschmack, zumal es zumindest unglücklich wirkt, Hedren im selben Atemzug auch noch als „limitiertes Schauspieltalent“ abzutun – für die Ansicht, dass Hedrens Leistung in Die Vögel zu den schauspielerischen Sternstunden im Werk von Hitchcock zählt, finden sich immerhin prominente Befürworter wie Camille Paglia.

Trotz dieser kleineren Vorbehalte stellt Kluys Werkmonografie eine durchaus gültige und Lust auf mehr machende Einführung in ein nach wie vor unerschöpfliches Gesamtwerk dar, das in der Filmgeschichte seinesgleichen sucht. Wie es mittlerweile zum Markenzeichen der „100 Seiten“-Reihe gehört, verfügt das Buch zudem über einige liebevoll kompilierte Infografiken (u.a. eine Checkliste der wichtigsten Hitchcock-Motive sowie eine Übersicht der von Hitchcock favorisierten Mordmethoden), die man bei der nächsten Wiederbegegnung mit dem Fremden im Zug (1951) oder dem Unsichtbaren Dritten (1959) griffbereit haben sollte.

Titelbild

Alexander Kluy: Alfred Hitchcock. 100 Seiten.
Reclam Verlag, Stuttgart 2019.
100 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783150204467

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch