Unzeitgemäßes zur radikalen Geschichtlichkeit des Menschen

Fritz Peter Knapps Nachruf auf eine „Vergleichende mediävistische Literaturwissenschaft“

Von Jan Alexander van NahlRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Alexander van Nahl

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Fritz Peter Knapp hat nach seiner langen Universitätslaufbahn im letzten Jahrzehnt mit Grundlagen der europäischen Literatur des Mittelalters (2011) und der dreibändigen Blüte der europäischen Literatur des Hochmittelalters (2019) große Über- und Einblickswerke innerhalb der mediävistischen Literaturwissenschaft vorgelegt. Demgegenüber gibt sich das vorliegende Bändchen zunächst recht unscheinbar. Der Anspruch dieser Unternehmungen ist allerdings nicht ganz verschieden: Auf knapp 100 Seiten, unterteilt in ein knappes Dutzend lose verknüpfter Kapitel, unternimmt Knapp erneut einen Streifzug durch ausgewählte Texte, Theorien und Methoden, die das mediävistisch-literaturwissenschaftliche Arbeiten seit dem 19. Jahrhundert umgetrieben haben. Viele Grundsatzfragen werden dabei nochmals aufgeworfen, sei es zum Verhältnis von Literaturwissenschaft und Philologie, von Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft, von Antike, Mittelalter und Neuzeit. Dies geschieht mit Blick vor allem auf Forschungsgeschichten, aber auch unter Rückgriff auf mittelalterliche Erzählungen, deren „Gefühlsstärke und Wortkunst“ Knapp im letzten Teil des Buches anhand einiger Beispiele interpretatorische Aufmerksamkeit widmet.

Das Plädoyer des Bandes erschließt sich zunächst aus Vorbemerkung und Einleitung, in denen auf den prekären Status der Geisteswissenschaften im Allgemeinen sowie der mediävistischen Fächer im Speziellen verwiesen wird – auf diesen eigentümlichen Status eines sogenannten Mittelalters zwischen dem Vergessen anheimgefallener Vergangenheit und begeisterndem Kuriosum der Gegenwart. Überall scheint Zersplitterung zu drohen oder bereits erfolgt, Einheit als Leitwort von Europa und der Erforschung dessen historischer Dimension scheint im Untergang begriffen. So ähnlich versteht zumindest der Rezensent den Ausgangspunkt von Knapps Unterfangen.

Das sind zwar keine neuen Einsichten, aber auch keine, die man getrost als erledigt beiseiteschieben könnte. Knapp arbeitet hier gleichwohl nicht auf ein eingangs klar gestecktes Ziel hin, sondern er springt von Baustein zu Baustein, ohne überall Bezüge zu stiften. Er überlässt manches Mal vielmehr dem Leser die Sinnvollmachung des Gesagten vor den einleitenden Andeutungen.

Die Reihe Heidelberger Akademische Bibliothek ist nach eigener Aussage als wissenschaftliche Visitenkarte der Akademie-Mitglieder gedacht. Damit ist auch bereits gesagt, was dieser schmale Band nicht ist: Er ist keine allgemeine Einführung in eine vergleichende mediävistische Literaturwissenschaft. Er ist die dicht gewobene Auseinandersetzung des Verfassers mit den Erfahrungen seines persönlichen Gelehrtendaseins. Und damit ist wiederum gesagt, dass man ihm durchaus nicht überall zustimmen will und muss, dass seine Darlegung, wie jede andere auch, von kritisierbaren Thesen geleitet ist.

Vieles hat weiterhin seine Berechtigung, und Knapp schöpft aus seinem Jahrzehnte umfassenden Erfahrungsschatz als Literaturwissenschaftler, der ihm einen weiten Blick eröffnet, auch und gerade über Länder- und Sprachgrenzen hinweg. Dieser Blick scheint für ihn gleichwohl mit der letzten Jahrtausendwende zu enden, denn seine Bezüge zur Forschung sind wesentlich auf das späte 19. und dann das 20. Jahrhundert (und dort wiederum nur auf wenige Klassiker der Forschungsliteratur) beschränkt.

Tendenzen der letzten zwei Jahrzehnte finden sich hingegen allein in Form der Kritik am, so könnte man sagen, Forschungsparadigma, wie dem genannten Verhältnis von Literatur- und Kulturwissenschaft. Viel diskutierte und mittlerweile kritisierte Thesen der älteren Mediävistik bleiben dabei oft unhinterfragt stehen, augenfällig in Kernaussagen wie: „In vielem steht der mittelalterliche Mensch ohne Zweifel in der humanen Entwicklung dem urtümlichen Zustand noch näher als der heutige. Der entscheidende Sprung liegt zwischen Vormoderne und Moderne.“

Diesem absoluten Epochendenken mit einschneidenden Konsequenzen für ein diffuses Humanes widerspricht die jüngere Forschung zunehmend – es handelt sich um einen Teil der Forschungsgeschichte, mit erheblichen Nachwirkungen, aber eben nicht mehr um den unhinterfragten Stand der Dinge. Hier nun mit ‚richtig‘ und ‚falsch‘ operieren zu wollen, wäre müßig, aber das Mittelalter durch eine harte Zäsur vom heutigen Rezipienten abzuschneiden, ist bereits forschungspolitisch betrachtet kein optimistisch stimmendes Zwischenfazit. Immerhin geht es ja, dem Vorwort folgend, um die Schaffung eines Forums, auf dem die berühmt-berüchtigte Nützlichkeit sogenannter Fächer fruchtbar erörtert werden kann.

Das ist eine hoffnungsvolle Maxime. Und dieses Büchlein ist dementsprechend eine interessante Lektüre für den Fachleser. Dass es dabei eine breitere Öffentlichkeit anspricht, wie es die Heidelberger Akademische Bibliothek anstrebt, muss hingegen eher bezweifelt werden. Knapp schreibt attraktive Wissenschaftsprosa, verzichtet also auf terminologisches Geschwurbel, wie einige Mediävisten es offensichtlich als Teil ihrer wissenschaftlichen Visitenkarte verstehen. Trotzdem ist Knapps Argumentation so verdichtet, bleiben so viele Grundannahmen und Ausblicke auf wenige Worte konzentriert, dass sie den ‚durchschnittlichen‘ Leser in ihrer Bedeutung kaum erreichen werden. Es fehlt schlicht eine Anleitung, wenn etwa Knapp einleitend von einer radikalen Geschichtlichkeit des Menschen und der Traditionsgebundenheit menschlichen Erfahrens, Verstehens und Wissens spricht, für eine „theoretische Begründung“ dann aber schlicht auf die philosophische Hermeneutik Hans-Georg Gadamers verweist, „ohne nochmals näher darauf einzugehen“ – unwahrscheinlich, dass sich der durchschnittlich belesene Mittelalterfreund mit Gadamers Wahrheiten und Methoden auseinandergesetzt hat, wahrscheinlicher eher, dass jene gewünschte breite Öffentlichkeit auf diesem Weg rasch verloren geht.

Sicherlich ist das Erstellen einer derartigen Visitenkarte in konziser Buchform keine leichte Aufgabe. Knapps Beitrag war erst der zweite Band der Reihe, die mittlerweile immerhin fünf Bände umfasst. Nicht recht klar ist zudem, in welcher Weise einerseits die Akademie, andererseits der Verlag Knapp ihre Erwartungen angetragen haben. Ein etwas sorgfältigeres Lektorat hätte sicherlich nicht geschadet, es fallen viele Flüchtigkeitsfehler ins Auge (fehlende Leerzeichen, unterschiedlich geschriebene Namen, fehlende Einträge im Literaturverzeichnis …). Bemerkenswert ist nicht zuletzt, dass der Untertitel des Buches auf dem Cover anders verzeichnet ist als im Buch selbst: Außen wird in vorsichtigem Optimismus von einem Wegweiser zur kulturellen Einheit Europas vor tausend Jahren gesprochen, auf der ersten Seite ist es dann ein eher pessimistisch klingender Wegweiser zur verlorenen kulturellen Einheit Europas – darüber ließe sich weiter spekulieren.

Knapp selbst bezeichnet seine Überlegungen in Anlehnung an Nietzsche als unzeitgemäß. Damit hat er wohl recht. Es sind Überlegungen zu Grundfragen, die über die mediävistische Literaturwissenschaft hinausführen und dabei teils Altes verehren und Neues missachten, teils Altes begraben und Neues emporheben. Das ist persönlich und tendenziös, aber zugleich stimulierend und erfrischend und somit im Vergleich zu allerlei theorie- und terminologielastigen Kapriolen der aktuellen Mediävistik im besten Sinne unzeitgemäß. Hier könnte man nun schließen – würde Knapp sein 100-seitiges Plädoyer für eine gesamteuropäische Mediävistik nicht mit unverhohlenem Pessimismus beenden: Seine Visitenkarte versteht er als Nachruf auf die Idee einer solch grenzüberschreitenden Mediävistik, die „kaum eine Vergangenheit und noch weniger eine Zukunft hat“. Viel scheint er seinem (jüngeren) Kollegenkreis – der ja doch aller Rede vom Prekariat zum Trotz in vielen Dingen ungebrochen nach vorne blickt – nicht mehr zuzutrauen. Schade eigentlich.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Fritz Peter Knapp: Vergleichende mediävistische Literaturwissenschaft. Ein Wegweiser zur verlorenen kulturellen Einheit Europas vor tausend Jahren.
Alfred Kröner Verlag, Stuttgart 2020.
110 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783520900029

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