Mit dem Moped in Vietnam auf der Suche nach der verlorenen Tochter

In Doris Knechts Roman „weg“ müssen unfreiwillig wiedervereinte Elternteile ihre psychisch auffällige Tochter finden

Von Anna Christina KöbrichRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anna Christina Köbrich

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Doris Knecht, Verfasserin beliebter Kolumnen, Romane, Erzählungen und Kurzgeschichten, ist eine österreichische Erfolgsautorin: Der erste Roman Gruber geht wird 2011 für den Deutschen Buchpreis nominiert, vier Jahre später läuft die Verfilmung in den österreichischen Kinos an. Ihr zweiter Roman, Besser, wird 2013 mit dem Buchpreis der Stiftung Ravensburger ausgezeichnet, der dritte Roman, Wald, wird von der Kritik hoch gelobt, der vierte, Alles über Beziehungen, schafft es auf die Longlist für den Österreichischen Buchpreis 2017 und im Jahre 2018 erhält Knecht den Buchpreis der Wiener Wirtschaft. Mit weg erscheint 2019 ihr fünfter Roman – wie auch seine Vorgänger – bei Rowohlt Berlin. 

Weg und über keinen medialen Kanal erreichbar ist die 23-jährige Lotte, Studentin der Theaterwissenschaften in Berlin. Vater Georg, Wirt eines St. Pöltener Landgasthofs, und Mutter Heidi, Mitarbeiterin eines Blumenladens, sind beinahe so lange getrennt, wie die bei ihrer Mutter im kleinbürgerlichen Rebenborn aufgewachsene Charlotte alt ist. Bevor Heidi Südostasien als ungefähren Aufenthaltsort der Tochter ausfindig machen kann und die getrennten Elternteile durch Vietnam und Kambodscha fahren, um Lotte zu finden, lernt man ihre Lebensumstände und Beziehungen kennen: Während der naturverbundene Georg mit Partnerin Lea und den drei gemeinsamen Kindern auf ihrem Familiengasthof ansässig ist, lebt die kontrollaffine Heidi mit Sohn Lukas alleine im Reihenhaus, Partner Martin nimmt sich eine Auszeit vom Familienleben. Als problematisch betrachtet werden Tochter Lotte und ihr Verschwinden vor allem wegen deren psychischer Konstitution: Selbstregulationsprobleme von Kindheit an, ein Psychiatrieaufenthalt nach zunehmenden Schwierigkeiten und anhaltendem Haschischkonsum im Teenageralter, dazu die Diagnose „substanzinduzierte Psychose“ – eine dauerhafte Behandlung durch Medikamente ist notwendig. 

Die Tochter selbst kommt im Roman nicht zu Wort, erzählt wird überwiegend in erlebter Rede in der dritten Person, wechselnd meist aus den Perspektiven von Georg und Heidi, ab und zu mischt sich eine auktoriale Erzählinstanz ein. Dabei werden die in den Köpfen getrennt lebender Eltern sitzenden LeserInnen in kurzen Sätzen rasant durch ein unbequemes Buch getrieben. 

Unbequem wird weg vor allem durch die schonungslose Gestaltung einer von Hilflosigkeit und Dialogblockaden geprägten Mutter-Tochter-Beziehung, die in Mutter Heidis vertrauensarmer Haltung gegenüber ihrer Tochter Charlotte gipfelt. Berichtet wird von schambehafteten gemeinsamen Therapeutenbesuchen, vielen Hoffnungen und Enttäuschungen. Die Mutter sucht die Tochter zwar beim Führen eines geregelten Alltags mit allen Kräften zu unterstützen, kann ihren fortwährenden Sorgen und dem unaufhörlichen Normalitätsstreben jedoch nicht entkommen, wodurch die Figur insgesamt eindimensional wirkt. Heidi bringt der entlaufenen Tochter wenig Vertrauen entgegen und flüchtet sich in Aktionismus: „Sie musste da was tun. Wenn sie nichts tat, käme es zur Katastrophe. Es war sehr unwahrscheinlich, dass Charlotte zur Besinnung kommen würde.“ Besonders drastisch zeigt sich die Haltung der Mutter während Charlottes Teenagerzeit: „Heidi schrie und weinte und drohte, verbat und verbot, erpresste und zwang. Das half auch nichts; Charlotte reagierte mit stumpfer Kälte.“ Die Stimme der pubertierenden Tochter darf dagegen nur durch Vater Georgs Rückblenden hindurchklingen: „[I]ch halte diese Arschmutter nicht mehr aus, dieses Kleinbürgerleben, dieses Haus, diese Biederkeit, zum Kotzen!“ 

Die aufgeladene Beziehungsgeschichte wird mit einem Roadtrip von Ho-Chi-Minh-Stadt über Phnom penh, Battambang und Siem Reap nach Shianoukville verflochten. Als die Tochter gegen Ende des Romans im Süden Kambodschas auf einer Insel gefunden wird, beginnt Heidi ansatzweise den Umgang mit Lottes psychischer Verfassung in der Vergangenheit zu hinterfragen. Viel Raum wird dem Innehalten leider nicht gewährt, es gerät oberflächlich und der Roman schließt – unvermittelt – mit dem Anklang eines Happy Ends. Der sorgenvolle Ton und die stete Anspannung dürfen dennoch nicht verschwinden, Heidi erklärt: 

Sie kann genau sagen, an welchem Punkt ihr Kind steht innerhalb der persönlichen Skala […]. Bis fünf ist alles einigermaßen okay, ab sechs merkt man leichte Veränderungen, eine Fahrigkeit, ab sieben wird es schwierig, dann akut. Jetzt sieht sie sie bei einer Sechs, oder Sechskommafünf.

Ein Funken mehr innere Flexibilität wäre dieser Mutterfigur zu wünschen. Dass die ProtagonistInnen sind, wie sie sind, und nicht anders können, wird eingangs in Verbindung mit einem Moped, das im Roman als Motiv noch mehrfach wiederkehren soll, angekündigt: Verspielt werden 15 Varianten aufgeführt, wie ein bis vier Personen auf einem Moped fahren können, doch: „Wie man auf einem Moped fährt: kommt darauf an, wo man geboren wurde, wie man lebt und wer man ist.“ Und so bringt das Moped die innerlich nicht ganz so beweglichen Protagonisten Georg und Heidi quer durch Südostasien, die Sitzkonstellationen variieren, letztlich soll durch die Wiederholung des Motivs am Ende des mit Sorge und Angst überfrachteten Romans noch Harmonie zwischen Mutter und Tochter suggeriert werden: „Die Frau vorne gibt ein bisschen Gas, die Frau hinten lacht. Das Moped fährt schneller. Die Frau vorne lacht jetzt auch.“

Zwischen all den häufig leidvollen Gedanken der ProtagonistInnen überrascht die lebendige Zeichnung des Sehnsuchtsortes Südostasien: Pulsierende Städte, eindrucksvolle Strände und Landstriche werden von Armut und Müllbergen durchkreuzt. Die realistisch anmutenden Schilderungen regen neben der Frage nach einem angemessenen, entstigmatisierenden Umgang mit psychischen Beeinträchtigungen auch zum Nachdenken über Umweltverschmutzung und Massentourismus an. Als eindringliches, rasant geschriebenes Buch dürfte weg sich zumindest bei LeserInnen mit einer Vorliebe für unbequeme Stoffe und diffizile Beziehungsgeschichten einer Beliebtheit erfreuen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Doris Knecht: weg.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2019.
301 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100380

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