Auf Hölderlins Spuren

Thomas Knubben folgt dem Dichter auf einer Winterreise nach Bordeaux

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sind Sie ein Jakobspilger?“, wird er ab und zu gefragt. Einmal antwortet Thomas Knubben: „Nein, ich gehe weiter“ und erklärt: „Das ist geographisch zwar nicht ganz korrekt, stimmt aber trotzdem. Weil der Jakobsweg so nahe liegt, liegt auch das Ziel nahe. Meinen Weg kennt jedoch keiner, nicht einmal ich selbst, also ist er weiter.“

Von Stuttgart nach Bordeaux geht seine Reise, ausgerechnet im Winter. Zu Fuß. Immer mal wieder nach dem Weg suchend, über Bundesstraßen hinweg, durch Wiesen und verwirrende Gewerbegebiete und unter Autobahnen hindurch. Warum? Er ist Friedrich Hölderlin auf der Spur, der im Winter 1801 eine Hauslehrerstelle in Bordeaux angenommen hat, nachdem in Deutschland so vieles gescheitert ist. Diese Reise ist immer noch geheimnisumwittert. Man weiß, dass er in Bordeaux im Haus des Hamburger Konsuls und Weinhändlers Daniel Christoph Meyer herzlich empfangen wurde und dann ziemlich plötzlich wieder nach Hause lief. Seine Freunde in Deutschland waren entsetzt, als sie ihn wiedersahen: „Der traurigste Anblick, den ich während meines hiesigen Aufenthalts gehabt habe, war der von Hölderlin“, schrieb sein alter Freund Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, „seit dieser fatalen Reise ist er am Geist ganz zerrüttet […]. Sein Anblick war für mich erschütternd: er vernachlässigt sein Äußeres bis zum Ekelhaften und hat, da seine Reden weniger auf Verrückung hindeuten, ganz die äußeren Manieren, die in diesem Zustand sind, angenommen.“ Was passiert ist, weiß man nicht, und es gibt eine sehr auffällige Lücke von drei Wochen in Hölderlins Biografie, zwischen seiner Abreise von Straßburg und seinem Eintreffen in der schwäbischen Heimat.

„So unsicher die Hintergründe der Reise indes immer noch sind,“ schreibt Knubben, „so sehr eigen sind ihr doch schicksalhafte Züge. Ich will mich daher auf den Weg nach Bordeaux machen – im Winter, zu Fuß und allein – und will sehen, was mir Hölderlin auf dem Weg mitzuteilen hat“. Denn: „Wie lassen sich die Wahrnehmungen des Dichters nach so langer Zeit erfahrbar machen? Wie die vielen Lücken in der Überlieferung schließen? Durch eine Wiederholung der Reise! Indem man den Weg des Dichters noch einmal geht.“ Also geht er los:

Ich nehme meinen Wanderstab in die Hand, und wir gehen. Ohne den Haselnussstecken will ich es nicht tun. Wir brauchen uns gegenseitig. Ich halte ihn, dass er nicht umfällt. Er stützt mich, wenn’s den Berg hinauf und hinunter geht. Er gibt meinem Schritt Takt und Schwung. Und hilft gegen streunende Hunde sowie stiere Autolenker. Aber das lerne ich erst unterwegs.

Die Reise beginnt in Nürtingen, wo Hölderlin aufgewachsen ist, wo seine Mutter und seine Schwester lebten. Dort sieht Knubben die „berühmte Liste der Ausgaben“ ein, die die Mutter des Dichters begann, als dieser 14 Jahre alt war, und bis zu ihrem Tod fast 40 Jahre später führte. Alles ist penibel aufgeführt. Knubben stellt fest, dass Hölderlin eigentlich vermögend genug gewesen ist, um die freie Schriftstellerexistenz zu führen, die er sich immer gewünscht hatte. In Stuttgart geht er ins Hölderlin-Archiv der Württembergischen Landesbibliothek, dem „Gral“, in dem 2524 Handschriften aufbewahrt werden. Knubben lässt sich das Gedicht Andenken vorlegen und denkt über Leo von Seckendorf nach, der das Gedichtblatt auslieh, um den Text in einem Almanach zu veröffentlichen – inzwischen ist es verschollen. Hier und da „verbesserte“ Seckendorf das Gedicht, um „Sinn hineinzubringen“. Vielmehr Unsinn, inklusive einiger sinnentstellender Druckfehler.

Von Stuttgart geht er nach Tübingen, wird vor einem Mäusebussard gewarnt, der Spaziergänger attackiert, um seine Brut zu beschützen, kehrt in Dettenhausen in der „Alten Post“ ein, kommt nach Schönbuch in eine Wildruhezone, denkt in Bebenhausen an Hölderlins Freund Schelling. Trifft in Engelsfriedshalde seinen alten Professor, denkt im verregneten Stadtfriedhof an Wolf Biermann, der „nasse Füße [hatte], / Als ich Heines Grab gefunden“, nämlich auf dem Friedhof am Montmartre. Bei Hölderlins Begräbnis folgten hundert Studenten seinem Sarg, kein Professor, sondern sein späterer Biograf Christoph Theodor Schwab hielt die Trauerrede. Um 12 Uhr steht Knubben am Grab und macht seine vier Fotografien, in jede Himmelsrichtung eine – eines der Versprechen, die er sich gegeben hatte (ein anderes ist, in den Wirtschaften immer das Tagesgericht zu bestellen). Am Hölderlinturm sieht er das Graffito: „Dr Hölderlin isch net verruckt gwä.“

„Jeden Tag tut etwas anderes weh.“ Fußgelenke, Knie, Oberschenkel, Brustwirbel. Knubben wandert zur Wurmlinger Kapelle und berichtet, was Hölderlin, Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel und andere über die Französische Revolution dachten und schrieben, er geht im Nieselregen den Bühler Wald hinauf und trifft in Talheim den Besitzer eines Rinderstalls, der Vieh aus dem Limousin hat, just der Gegend, wo Knubben hinwill.

So geht es weiter, bis nach Bordeaux. Knubbens Buch ist eine locker geschriebene Mischung aus beobachtender und oft selbstironischer Reisebeschreibung, wissenschaftlichem Forschungsbericht und Erzählung von Hölderlins Leben und Schreiben. Ganz nebenbei erzählt Knubben eigentlich alles, was man wissen möchte, interpretiert viele Gedichte, ohne von oben herab belehrend zu sein. Schweift ab und lässt manchmal seinen Assoziationen freien Lauf, was auch sehr erhellend ist, weil er Hölderlin damit in einen sehr großen Zusammenhang einbettet. Er sammelt Indizien für seine Interpretation des plötzlichen Aufbruchs Hölderlins und seiner Rückreise nach Deutschland. An seinen Freund Casimir Ulrich Böhlendorff schreibt Hölderlin beim Abschied:

Und nun leb wohl, mein Teurer! Bis auf weiteres. Ich bin jetzt voller Abschieds. Ich habe lange nicht geweint. Aber es hat mich bittre Tränen gekostet, da ich mich entschloß, mein Vaterland noch jetzt zu verlassen, vielleicht auf immer. Denn was hab’ ich lieberes auf der Welt? Aber sie können mich nicht brauchen. Deutsch will und muß ich übrigens bleiben, und wenn mich die Herzens- und Nahrungsnoth nach Otaheiti triebe.

Ja, die „Herzensnot“. Denn nicht nur musste Hölderlin Geld verdienen und hat sich wie viele als Hauslehrer verdingt. Auch wurde seine Liebe zur verheirateten Susette Gontard aus Frankfurt bekannt, er musste das Haus verlassen, ihrer beider Liebe aber hörte nicht auf. Knubben weist nun nach, dass Hölderlin in Bordeaux Kontakt zu einem Cousin von Susette Gontard namens August Wilhelm Borkenstein hatte, der ihn sicherlich mit Nachrichten aus seiner Heimat versorgt hat. Vielleicht gab es sogar eine direkte Kommunikation mit ihr über diesen Weg. Auf diese Weise hat er bestimmt auch von ihrer Lungenkrankheit und ihrer schweren Depression erfahren und ist zurückgewandert, um ihr nah zu sein. Sie starb, geschwächt wie sie war, an den Röteln – am 22. Juni 1802. Am 7. Juni hatte Hölderlin Straßburg verlassen und ging bei Kehl über den Rhein, am 3. Juli schreibt sein Freund Christian Landauer, dass sich sein Zustand allmählich bessere und er ruhiger werde – da ist er schon ein paar Tage in Stuttgart.

Auch Knubben kann nicht beweisen, dass Hölderlin bei ihr war, für ihn ist entscheidend:

Die Eckmomente der persönlichen wie der dichterischen Existenz Hölderlins bleiben wohl unverrückt: die vertrackten familiären Verhältnisse, die Erfahrung des immer wiederkehrenden Scheiterns im Verständnis des bürgerlichen Wertekanons und die fortschreitende Krankheit, die freilich im Kontext des Frankreich-Aufenthalts einen ungeheuren Schub erfahren hat. Unverrückbar bleiben aber auch die großen Gedichte und die ureigenen Übertragungen aus dem Griechischen, die zwischen 1802 und 1806, also nach der Bordeaux-Reise und vor dem Einzug in den Turm zu Tübingen entstanden sind. In ihnen offenbart sich das wirkliche Geheimnis dieses Lebensabschnitts. Wie nur ist es diesem Flüchtling vor dem Herrn, diesem von der Mutter Getriebenen, von der Umwelt Verkannten, von der Krankheit Verfolgten möglich gewesen, sich noch einmal solche Gesänge abzuringen?

Die Reise nach Bordeaux ist für Knubben mit dem Forscher Günter Mieth eine „Totalerfahrung“: die Sonne, die Natur, die Konfrontation mit dem Winter, in dem er zu Fuß unterwegs war, das offene, gewaltige Meer, die Einblicke ins Innere der einst so gefeierten Revolution. „Sie mussten seine Vorstellungen von den Möglichkeiten der politischen Erneuerung in ihren Grundfesten erschüttern, und sie haben sie erschüttert.“

Hölderlin. Eine Winterreise. ist eine Neuauflage der Ausgabe von 2012, aber sie ist mit der freigiebigen Beigabe von Porträts, Bildern der Handlungsorte und Handschriften weit opulenter gestaltet und ein Fest für Hirn und Auge. Geschrieben in einer sicheren, sensiblen und persönlichen literarischen Wissenschaftsprosa, die man sonst nur angelsächsischen Gelehrten zutraut, die einem am Kamin sitzend ihr ganzes Wissen plaudernd ausbreiten, und die hierzulande nur wenige beherrschen.

Titelbild

Thomas Knubben: Hölderlin. Eine Winterreise.
Klöpfer, Narr Verlag, Tübingen 2019.
260 Seiten, 34,00 EUR.
ISBN-13: 9783749610099

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