Die intellektuelle Ästhetisierung der schwankenden Welt

Katharina Köller schreibt in ihrem Debütroman „Was ich im Wasser sah“ über eine strauchelnde Kämpferin, die sich an der Welt und sich selbst abarbeitet

Von Phillip HelmkeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Phillip Helmke

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Gezeichnet durch einen gewonnenen und doch entbehrungsreichen Kampf gegen den Brustkrebs, „das beißende und kneifende Schalentier“, kehrt eine junge Frau namens Klarissa von der unschwer als Wien zu erkennenden Großstadt in ihre Heimat zurück. Nach ihrer OP nimmt sie sich entschlossen vor, sich nichts mehr aufoktroyieren zu lassen und riegelt sich hermetisch ab, insbesondere gegen das gesellschaftlich etablierte Patriarchat.

Statt sich für – besonders durch männliche Ratgeber empfohlene – Brustimplantate zu entscheiden, lässt sie sich einen Oktopus auf die Brust tätowieren: ein hautnaher symbolischer Begleiter, der alle argwöhnischen Blicke abwehren soll und „Krebse fressen“ kann. Hier zeigt sich Katharina Köllers feiner Sinn für maritime Bilder, die die sinnliche Atmosphäre ihres Romans prägen: „So blieb ich über der Reling hängen und sah, dass der Bug wie ein Skalpell die dunkelblaue Haut des Meeres aufritzte.“

Alles, was die ehemalige Filmstudentin wahrnimmt, wird durch ihre Augen gefiltert, ästhetisiert und schließlich zum Kunstobjekt. Daraus macht sie selbst kein Geheimnis: „Ich sah durch die Kamera die Welt, das war das Einzige, was ich ihr abgewinnen konnte, Formen, Schatten, Bewegungen, Farben. Die Welt im ästhetisierten Mikrokosmos.“ Sie entwirft eine Art ‚Seelenlandschaft‘, die weniger romantisch als vielmehr das Symptom einer depressiven Wahrnehmung ist. Ihre betonte Distanz zur Außenwelt hängt damit eng zusammen: „ich in einem Aquarium, getrennt durch eine Glaswand von einer Welt, der man alle Farben genommen hatte.“

Mit der extremen Ästhetisierung geht eine Entfremdung von der realen Welt und sich selbst einher, die besonders durch die (Folgen der) Brustamputation existenzielle Ausmaße erreicht. Klarissas Veränderung „zu einem androgynen Wesen“ stellt ihre Normalität auf den Kopf. Analog zur schwindenden Verlässlichkeit von Identität, Normalität und Heimat „schwankt“ ihre Welt; ein allumspannendes Leitmotiv, dass das prekäre Lebensgefühl einer jungen Suchenden strukturiert: „Die Welt war ein schwankender Ozean.“

Zudem sind auf „Ei“, der im Klappentext beworbenen „magisch-realistischen Inselwelt“, die neoliberalen Zeichen der Zeit unverkennbar: Der Franchise-Konzern „SUNFISH“ und die Partnerfirma „STARFISH“, besonders auffällig durch ihre plakativen Markenlogos, haben die halbe Insel aufgekauft und viele „Ei-Heimische“ verdrängt. Ihre penetranten Kapitälchen treffen einen wahren Kern unserer Zeit und besitzen satirisches Potenzial, denkt man etwa an das emblematische Schweinelogo auf einem wohlbekannten Gebäude in Rheda-Wiedenbrück. Wohin das Auge sieht, schießen auf „Ei“ gläserne Windräder aus dem Boden wie „rotierende Blumen“, die im Geiste eines doppelmoralischen Greenwashings als ökologisch sinnvoll verkauft werden.

Dabei machen der Insel Landflucht und Stadtsterben zu schaffen. Es bleibt „eine Zahnlücke in der Stadt“, die kein Zufall ist, sondern eine logische Konsequenz von Gentrifizierung und der Monopolisierung pseudo-ökologisch agierender, einzig profitorientierter Unternehmen. Der schon von Christian Kracht in Faserland aufgeworfene Markenfetischismus tritt hier in verschärfter Spielart auf: Corporate Identity ist die einzige Identität, die übrigbleibt.

Nicht weniger hermetisch als Klarissas Wahrnehmung wirkt die titelgebende Parallelgeschichte, die ihr Übriges zur ohnehin schwer übersehbaren Komplexität des Romans tut. Klarissa durchlebt einen surrealen und assoziativen Traum über ihre (Halb-)Schwester Irina. Sie geht ein Treppenhaus zu einer Wohnung hinauf, aus der Wasser schwappt, watet durch Kaulquappen und Algen, es „klatscht“. Bis Klarissa zum Sofa durchdringt, auf dem Irina liegt, dauert es über dreihundert Seiten; ein Gang, bei dem auch geneigte Lesende ins Schwimmen kommen könnten. Irina präsentiert sich schließlich als schlangenartiges Seeungeheuer, das Bob, Irinas Freund, so heftig umschlingt, dass es „knackt“ bis er nicht mehr schreit. Irina ist das „Feen-Elfen-Monster aus dem Meer“, das „fremde, wunderschöne Mädchen, das kein Mädchen und kein Mensch war“.

Diese Charakterisierung wiederholt Klarissa frappierend häufig: Als „Flüchtlingskind“ an den Strand gespült und von Klarissas komplizierter Patchwork-Familie aufgenommen, besitzt Irina einen entsprechenden gesellschaftlichen Status. Interessanterweise beharrt Klarissa in ihrer Dauerschleife auf dem Pronomen „es“ für „das Mädchen“ Irina. Der sachliche Status, den unsere mehrheitsgesellschaftliche Sprache geflüchteten Menschen zuschreibt, wäre damit auf den Punkt gebracht: technisch und anonym, verbunden mit manchmal monströsen und manchmal exotischen Projektionen. Was genau Klarissa im Wasser sah, bleibt letztlich ebenso verschwommen wie die unterbewussten Erfahrungen im Leben, die unheimlich und grotesk, anziehend und anregend zugleich sein können, ohne je aufgeklärt – oder zumindest aufgeklart – zu werden.

Köllers Roman lebt insgesamt von seiner rhetorischen Vitalität, über weite Strecken lässt die stilistische Souveränität staunen. Manche intellektuelle Reflexion wirkt hingegen moralistisch, etwa wenn Klarissa patriarchale Strukturen, soziale Konstruktionen von Geschlechterrollen oder kapitalistische Auswüchse, menschgemachte Klimawandeleffekte, absurdes Konsumverhalten oder migrationspolitische Verfehlungen thematisiert und verurteilt. Zwar hängt alles mit allem zusammen, doch würden sich einige satirische, kluge und wirklich unterhaltsame Passagen freier entfalten, wenn der intellektuell gehobene Zeigefinger – perspektiviert, aber doch klar vernehmbar – hier und dort unterblieben wäre.

Der Vorwurf, die vermeintlich intellektuelle Leserschaft des Buches sei mit aufgeklärten und progressiven Leitgedanken d’accord, aber genau diejenigen einsichtslosen Reaktionären nähmen es auch nie nur in die Hand, traf 2016 schon Carolin Emcke, nachdem sie ihren lesenswerten Essay Gegen den Hass veröffentlichte. Adam Soboczynski von der Zeit ertappte sich während der Lektüre bei „pflichtschuldig nickender Zustimmung“, die punktuell auch Klarissa provoziert. Dabei sei jedoch Arroganz-präventiv eingeräumt, dass auch Intellektualität vor reaktionären Gedankenmutationen nicht zwangsläufig schützt, wie Geschichte und Gegenwart vielfach lehren.

Dass in Was ich im Wasser sah am Ende der Krebs eine Schicksalsdiagnose für die gesamte Familie, ja die gesamte Insel bedeutet, an der ein dubioses Großunternehmen eine starke Mitverantwortung trägt, ist die ebenso gelungene wie bittere Pointe des Romans. Mit diesem Zirkelschluss legt Köller den Finger in die Wunde der tatsächlichen Machtverhältnisse in einem raubtierkapitalistischen System: Souverän ist nicht das Volk, sondern das Geld – und wer diese Essenz nicht behalten will, wird durch „STARFISH“, „SUNFISH“ oder eine Sightseeing-Tour durch Rheda-Wiedenbrück unausweichlich daran erinnert…

Titelbild

Katharina Köller: Was ich im Wasser sah.
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt a. M. 2020.
320 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783627002794

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