Kafka ist nicht kafkaesk

Was acht Autoren – trotzdem – aus einem Satz von Franz Kafka alles machen können

Von Michael BraunRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michael Braun

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kafka ist nicht kafkaesk. Zuletzt hat das der Münchner Medienwissenschaftler Oliver Jahraus in wünschenswerter Klarheit herausgestellt. Wenn Kafka erzählt, greift er dabei, möglicherweise ironisch, der Kunst der Interpretation vor, indem er uns gleich Deutungsmöglichkeiten ebenso wie Infragestellungen dieser Deutungen mitliefert. Etwa in der Parabel vom Türhüter aus dem Proceß-Roman oder in der wunderbaren Szene aus Steven Soderberghs Biopic Kafka (1991), wo die Zuhörer erstarren, als Kafka auf ihre Frage, worüber er gerade schreibe, antwortet: über einen Mann, der morgens erwacht und sich in ein ungeheures Ungeziefer verwandelt findet. Kafkaesk ist nicht etwa Kafkas Schreiben, kafkaesk ist vielmehr die Reaktion der Leser und der Interpreten, die ihren Kafka „in der Schnittmenge von populärer Kunstfigur und modernem Heiligen“ erzeugt hat. Soweit Oliver Jahraus.

Das Kafkaeske ist aber nicht von schlechten Eltern! Kafkaesk im besten Sinne kreativer Deutungen, die ihre Methode und ihr Werkzeug gleich mit auf den Prüfstand stellen, sind die in dem Band Wunsch, Indianer zu werden versammelten Kurzinterpretationen. Es sind Versuche über einen einzigen Satz von Kafka, genauer gesagt: Verständnisversuche, Lektürespuren, Problemnotizen, kafkaeske Reflexionen. Christoph König und Glenn C. Most haben dazu Literaturwissenschaftler und Autoren eingeladen. Ein Vorbild war Hubert Spiegels Sammlung über Kafkas Sätze (2009).

Diesmal ist es nur ein Satz: „Wenn man doch ein Indianer wäre, gleich bereit, und auf dem rennenden Pferde, schief in der Luft, immer wieder kurz erzitterte über dem zitternden Boden, bis man die Sporen ließ, denn es gab keine Sporen, bis man die Zügel wegwarf, denn es gab keine Zügel, und kaum das Land vor sich als glatt gemähte Heide sah, schon ohne Pferdehals und Pferdekopf.“ Der Satz stammt aus Kafkas Prosaband Betrachtung (1913, publiziert im Dezember 1912). Er kommt scheinbar einfach daher, doch er hat es in sich. Die Interpreten schreiben über die grammatischen und semantischen Tücken des Satzes, über seinen Bezug zum frühen Film und zur Beschleunigung der modernen Wahrnehmung, zum philosophischen Hintergrund, kulturhistorischen Kontext und zur Eigenlogik einer künstlerischen Imagination, die zügellos sein kann, wenn man ihr die Sporen gibt.

Ihre Besonderheit haben die Interpretationen darin, dass sie sich auf das kafkaeske Spiel mit dem Kafka-Satz einlassen und fast noch ergänzt werden könnten durch eine Parodie des Satzes und seines Interpretationsappells in der Art von „Ach, wenn man doch Kafka verstehen könnte, gleich bereit, mit der Wut des Verstehens und der Buchstäblichkeit der Metapher …“. Christoph König untersucht die tückische Erkenntniskritik des Wünschens, Christian Benne die Syntax der inneren Wahrnehmung. Glenn Most erklärt die Bildung der Fiktion aus der rhetorischen Figur des Anakoluths, Peter-André Alt erinnert daran, dass Kafka am 16. Oktober 1910 in Paris das Hippodrome de Longchamp besuchte. Heinrich Detering und Heinz Schlaffer beleuchten, mit unterschiedlicher Lichtstärke, die Nähe beziehungsweise Ferne Kafkas zu Karl May (der in dem Jahr starb, als der Text erschien). Und Daniel Kehlmann wie auch Dagmar Leupold gewinnen dem Satz jene imaginationslogische Größe ab, die schon Walter Benjamin in seinem Kafka-Essay (1934) als Übergang vom Geschehen ins Gestische gewürdigt hatte: die Rennbahn sei ein Theater und die kurzen Geschichten wie diese verlangten danach, als „Akte auf das Naturtheater von Oklahoma (Kafka schrieb in seinem Roman Der Verschollene: „Oklahama“) versetzt“ zu werden.

Ein erhellender, vergnüglicher und zur Fortsetzung einladender Band über einen der kürzesten – und rätselhaftesten – Wunschwerdegangssätze der deutschen Literatur.

Titelbild

Christoph König / Glenn W. Most (Hg.): Wunsch, Indianer zu werden. Versuche über einen Satz von Franz Kafka.
Wallstein Verlag, Göttingen 2019.
64 Seiten, 12,90 EUR.
ISBN-13: 9783835334014

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