„Drei können ein Geheimnis wahren, wenn zwei tot sind“

Gerhard Köpfs cleverer Roman „Palmengrenzen“ über die Mafia im Allgäu

Von Günter HelmesRSS-Newsfeed neuer Artikel von Günter Helmes

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Name Gerhard Köpf dürfte einem in die Millionen gehenden Publikum nur einmal, im Zusammenhang nämlich mit dem mit dem Bayerischen Filmpreis ausgezeichneten Fernsehfilm Wallers letzter Gang (1988) nach Motiven seines Romans Die Strecke (1985) begegnet sein. Singuläre Begegnungen solcher sich zudem nur auf den Vor- oder Abspann beschränkenden Art sind freilich ebenso vage wie flüchtig, zudem liegt diese Jahrzehnte zurück.

An dieser ein größeres, doch im Verhältnis zum Medium Fernsehen ungleich kleineres Publikum erreichenden, dafür auf Vertrautheit zielenden Stelle ist Köpf in den vergangenen Jahren hingegen bereits mehrfach besprochen und als „großer Erzähler“ (Klaus Hübner über Als Gottes Atem leiser ging) und „repräsentative[r] Autor[] seiner Generation“ gewürdigt worden, zuletzt 2018 vom gerade zitierten Friedrich Voit, als im Zusammenhang mit Köpfs 70. Geburtstag dessen gefeierter Romanerstling Innerfern (1983) wieder aufgelegt wurde und der auf diesen schon im Titel Bezug nehmende Roman Außerfern erschien.

Sowohl Voit (vgl. auch dessen Rezension des Romans Das Dorf der 13 Dörfer) als auch Hübner (vgl. auch dessen Rezension der Novelle Ein alter Herr) sind dabei in akzentsicherer Kürze und Sorgfalt auch auf die markante, obendrein von einschlägiger literaturwissenschaftlicher und medizinisch-psychiatrischer Arbeit geprägte Biographie des Schriftstellers Gerhard Köpf eingegangen, dazu auf die Themen-, Formen-, Verlags- und Rezeptionsgeschichte seines erzählerischen und essayistischen Werkes sowie auf einzelne dieser von ihnen nicht eigens rezensierten Werke selbst. Schon deshalb wäre es, zumindest für Köpf-‚Neulinge‘, auch mit Blick auf den hier zur Rede stehenden, Corona-bedingt erst jüngst erschienenen Roman Palmengrenzen gewiss von Gewinn, diese Beiträge Voits und Hübners etwa der literarhistorischen Einordnung halber vorab zu Rate zu ziehen.

Was Voit für Außerfern u.a. festgehalten und willkommen geheißen hat – „vielgestaltige Lektüre“, „variantenreiche[s] narrative[s] Spiel“ –, charakterisiert auch den Roman Palmengrenzen. Den verbindet mit Außerfern wie mit anderen früheren Romanen darüber hinaus einiges mehr: u.a. als wesentlicher Handlungsraum das gern als „alphornverblasene[] Bärenmarkenidylle“ daherkommende bzw. verspottete Allgäu einschließlich des imaginierten „letzte[n] Paradies[es] der CSU“, des von Hitler „1935“ höchst persönlich zum „Heilklimatische[n] Kurort“ und damit zum Bad erhobenen Thulsern, dazu eine detektivischen Leserinteressen reichlich Nahrung bietende, ausgefuchste Mischung aus facts, fiction und metafiktionalen Leckerbissen sowie, zum dritten, Invektiven gegenüber dem Vatikan, dem Allgäu, bayerischen Staatsministerien und Institutionen und dem mafiösen „Intrigantenstadel“ Kultur- und Wissenschaftsbetrieb.

Diesem Kultur- und Wissenschaftsbetrieb ist hier neben weiteren gelegentlichen Anwürfen sogar ein ganzes Kapitel gewidmet. Das handelt von den Zuständen in einer Deutschen Akademie in Rom mit dem köstlichen Namen „Casa Nuvole“, der bzw. dem eine nicht minder schon durch die Namensgebung verspöttelte Dottoressa Cotello vorsteht – eine Form der Satire, die Köpf auch an anderen Stellen praktiziert, wenn er bspw. den calabresischen Herkunftsort etlicher, gelinde gesagt problematischer, Romanfiguren Campodivespe nennt, einen liebestollen Schriftsteller Cavaletti heißen lässt oder einem aus Eifersucht gewalttätigen Barpianisten den Nachnamen Caldoni gibt. Ein Blick auf die penibel angegebene Adresse der Casa Nuvole legt es im Übrigen mehr als nahe, dass hier die Villa Massimo ‚porträtiert‘ werden soll.

Die angesprochene, für Köpf charakteristische Mischung insbesondere aus facts und fiction trägt zusammen mit seiner einnehmenden, sich in weitläufigem Wortschatz, verschiedenen Stillagen und rhetorischem Reichtum niederschlagenden Sprachkunst und einer ausgeklügelten Texttektonik zu dessen Meisterschaft bei, ebenso abwechslungsreich wie unterhaltsam wie zum ernsten Bedenken animierend von allerdings Gewichtigem zu erzählen – hier (wie vermutlich bereits gemutmaßt) von der Mafia und deren Verbindung mit dem Allgäu nämlich. Diese Verbindung wird zugleich als tief-, flach- und herzwurzelnd und damit als nahezu allumfassend behauptet. ‚Palmen‘, so die zentrale Aussage des Romans, wachsen längst auch schon nördlich der Alpen und gedeihen dort nirgendwo so gut wie eben im „lodenversiegelte[n]“ Allgäu, diesem „Club Méditerranée der Mafia“ (Protagonist), der zunächst deren „erholsames Rückzugsgebiet“ gewesen ist und jetzt deren „effiziente Operationsbasis“ (Herausgeber) darstellt.

Dem dem Roman nachgestellten (und satztechnisch unbefriedigendem) Inhaltverzeichnis zufolge besteht Palmengrenzen aus einem Prolog des Herausgebers und 16 thematische Titel tragenden Kapiteln zwischen 5 und 29 Seiten Länge. Diese bilden den Binnentext und damit den Großteil der Romanhandlung und wurden dem Herausgeber nach von dem mit ihm seit Jahrzehnten eng befreundeten, freilich toten weil ermordeten Protagonisten geschrieben. Nicht erwähnt werden hingegen die vom Herausgeber zwischen die recte gesetzten Kapitel platzierten, kursivierten und abweichend gelayouteten Texte „Aus dem Sammelordner“, die zwischen wenige Zeilen und einer halben Seite lang sind. Es handelt sich dabei um Auszüge aus dem Forschungsprojekt „Henkersmahlzeit“ des Protagonisten, zu dem er von einer „Silenziosi-Stiftung für europäische Kultur- und Rechtsgeschichte“ – ein weiterer Sprachgag Köpfs, dem der Protagonist selbst freilich etwas unglaubwürdig auf den Leim geht – den Auftrag erhalten hat.

Über Prolog und Kapitel des Binnentextes hinaus wird im Inhaltsverzeichnis hingegen ein (vierseitiger) Nachweis aufgeführt, der bei näherem Hinsehen gut vierzig Texte (und Viscontis Il Gattopardo) von teils international renommierten AutorInnen alphabetisch auflistet – Romane, Sach- und Fachbücher, Zeitungsartikel und Internetbeiträge zu Themen wie Mafia, organisiertes Verbrechen, Pharmazeutika und Henkersmahlzeit –, die in den Roman als „Quelle[]“, „Zitat[]“ oder „Anregung[]“ eingeflossen sind.

Dieser Nachweis steht – wie die alternierenden Romankapitel und Sammelordner-Texte – in einem eigenartigen, doch nicht wie dort kommentierend-interpretierenden Spannungsverhältnis zu den dem Roman vorangestellten Feststellungen des Autors Gerhard Köpf, der Roman sei „kein Tatsachenbericht, sondern ein Werk der Fiktion“, „Personen und Orte“ seien „erfunden“ und „jede Ähnlichkeit mit Lebenden oder Verstorbenen“ gegebenenfalls „rein zufällig“. Das trifft sicherlich auf den Herausgeber, auf den (an der Biographie des Autors freilich partizipierenden; Stichwort: Honorarprofessur an der Gerhard-Mercator-Universität Duisburg) Protagonisten, andere Handlungsträger, den einen oder anderen Ort und überhaupt auf das Handlungsgeschehen als solches zu.

Andererseits aber werden diese imaginierten Bausteine in der Vorbemerkung des Herausgebers und der Erzählung des Protagonisten (und mittelbar über dessen Sammelordner-Texte) ausgesprochen massiv, direkt und akribisch mit vorwiegend den Quellen entnommenem Faktualem diverser Art enggeführt – Personen, Orte, Institutionen, Ereignisse, Entwicklungen, Lokale, Zahlen, Statistiken, Zitate, Zugverbindungen etc. Das führt dazu, dass „nach den Regeln der Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit“ (Aristoteles) mögliches und in diesem Sinne nachgeahmtes Geschehen hier als tatsächlich und der Roman trotz der wohl auch Schutz heischenden captatio benevolentiae des Autors als Berichterstattung erscheint. Zu dieser Täuschung trägt zudem wesentlich bei, dass es sich bei dem Binnentext um „Aufzeichnungen“ handelt, in die zahlreiche Elemente des Erlebnisberichts, des Rapports, des Protokolls und des Dokuments eingeflossen sind.

„Viele wussten, wer er war, aber richtig gekannt hat ihn kaum einer.“ So anspielungsreich eröffnet der nicht von ungefähr „Schneekugeln der Marke Rosebud“ sammelnde Herausgeber seinen Prolog. Bei diesem handelt es sich um einen „wertekonservativen“ Apotheker, der wie der Protagonist, der so oder so liebend mehrfach mit Italien verbandelte und habilitierte Notar Bruno Ziegler, pensioniert, jenseits der 70, „verwitwet und ohne Nachkommen“ ist. In diesem Prolog geht es wohl aus legitimistischen und identifikatorischen Gründen intra- (Herausgeber) wie extradiegetischer (Autor) Art auch um die dichte Alltagsnähe und die hohe „geistige[] Verbundenheit“ zwischen dem Herausgeber und Ziegler, die dazu geführt hat, dass man sich „wechselseitig  als Nachlassverwalter“ eingesetzt hat, sowie um ein Einsamkeit, Enttäuschung und Erinnerung umkreisendes Bedenken des Alters. Vor allem aber geht es um das blutige Schicksal Bruno Zieglers und dessen Aufklärung.

Bruno Ziegler nämlich ist nächtens im zur Reinigung „hinter dem Ostbahnhof“ in München abgestellten „Eurocity EC 82“ mit einem „Augenschuss“ tot aufgefunden worden. Dieser „Augenschuss“ wurde ihm, aus Mailand bzw. aus Bologna kommend, in der letzten halben Stunde seiner Reise „zwischen Rosenheim und München“ verpasst. „Offensichtlich handelte es sich um eine Hinrichtung.“ An der Aufklärung dieser „Hinrichtung“, insbesondere an des Herausgebers These, die Mafia sei für diese verantwortlich, zeigen aber weder Polizei noch Staatsanwaltschaft noch die bayerische Landespolitik wirkliches Interesse. Letztere behauptet vielmehr sogar, nirgendwo sei die Innere Sicherheit höher als in Bayern, doch gilt für den Herausgeber in diesem wie in anderen Fällen zweierlei: „Wer glaubt schon der Politik?“ und – dabei Leonardo Sciascia und einer bereits von diesem bereits in den 1980er Jahren vertretenen These folgend – „Die Staatsmacht wird zum Schutzschild der Mafia“.

Der Herausgeber jedenfalls will sich nicht mit dem Tod „meines besten Freundes und langjährigen Weggefährten“ abfinden und übergibt von daher „mit ausdrücklicher Zustimmung der Staatsanwaltschaft“ dem Leser jene über 200 Seiten umfassenden „Aufzeichnungen“, die bei Zieglers Leiche gefunden wurden und die dieser – auch hier wären Bedenken fiktionstechnischer Art anzumelden – erst während besagter Zugfahrt und den letzten Sätzen nach bis kurz vor seiner Ermordung geschrieben haben will. Mit dieser Veröffentlichung geht für den Herausgeber die Hoffnung einher, „etwas zur Aufklärung des scheußlichen Verbrechens beitragen zu können“, etwa dadurch, dass sich Zeugen melden: „Sollten Sie also etwas wissen“, spricht der Herausgeber den Leser sogar direkt an, „so bitte ich Sie inständig, sich zu melden.“

Die auch an Situations- und Figurenkomik nicht sparenden „Aufzeichnungen“ Bruno Zieglers selbst liefern dem Leser Vielerlei: Neben sachbuchartigen Passagen und Kapiteln, die bspw. von der Geschichte und dem Ehrenkodex der Mafia, der Psyche und der Typologie von Mafiosi, von realen Mafia-Hochburgen wie Erfurt und Duisburg und spektakulären dortigen Vorkommnissen in der jüngeren Vergangenheit, aber auch von regionalem Brauchtum („Klausentreiben“) oder von Aspekten der Medienlandschaft („Radio Sant’Angelo“) handeln, wird salopp in meist ironischem oder satirischem, zuweilen aber auch sarkastischen und zynischen Ton die Geschichte des aus dem calabresischen Campodivespe stammenden, sich in den 1950er Jahren in Bad Thulsern niederlassenden Antonio Sidara und dann insbesondere diejenige seines mit einer Allgäuer Zuckerbäckerin gezeugten Sohnes erzählt – der trägt, nomen non est omen, den schönen Vornamen Aniello.

Aniello Sidara übernimmt in jungen Jahren ein „besonders bei Touristen beliebte[s]“, bis dato zwei unter Mafia-Verdacht stehenden sizilianischen Familien gehörendes Café, gibt sich mit diesem aber keineswegs zufrieden, sondern baut sich nach und nach mit ‚innovativen‘ Methoden ein in seinem „Grand Hotel Garibaldi“ lokalisiertes, vielarmiges Imperium auf. In die Fänge dieses Imperiums, das nach guter Mafia-Sitte mit auferlegten Pflichten in übergeordnete, internationale Strukturen eingebettet ist, geraten sukzessive nicht nur bspw. lokale, regionale und überregionale Politiker, Verwaltungsfachleute, Unternehmer und Kirchenmänner, sondern mit diesen auch Bereiche wie Tourismus, Abfallwirtschaft, Migrationsgeschehen, Medien, Schrotthandel, Drogenhandel, Medizin bzw. Wissenschaft, Organhandel, Land- und Lebensmittelwirtschaft sowie Kunst und Sport. Selbst beim Naturschutz hat Aniello Sidara seine Hand mit im Spiel. Als er schließlich wie so oft zuvor einen gewieften Anwalt und Notar braucht, bindet er auf raffinierte Weise („Silenziosi-Stiftung“) Zug um Zug den lange Zeit arglosen, erstaunlicherweise erst am Beginn seines letzten Lebenstages von seiner „definitive[n] Nähe zur Famiglia“ überzeugten Bruno Ziegler an sich.

Doch vergeht sich Aniello in seiner ihn Warnungen gegenüber blind machenden Gier und Selbstgefälligkeit an eisernen, auf Anweisung, Gehorsam und Aufteilung von Gewinn hinauslaufenden Grundsätzen der Mafia und muss dies mit seinem Leben bezahlen. An seiner Stelle übernimmt die nur mäßig trauernde Witwe Ingrid, auch sie wie Aniellos Ziehmutter eine gebürtige Allgäuerin („die Cosa Nostra [ist] in den Dörfern entstanden und groß geworden“), die Geschäfte. Als sie versucht, Bruno Ziegler noch wesentlich enger, ja in ihrer eigenen Person sogar intim an die „Famiglia“ und deren geographisch wie finanziell überaus ehrgeizige Pläne zu binden, treibt das Geschehen einem weiteren Höhepunkt entgegen. Nach einer „durchwachten Nacht“ nämlich entscheidet sich Ziegler, mit dem (seiner Intelligenz und allem Vorgefallenen nach kaum glaubhaften,) „per Mail“ versandten Satz „‚Lieber allein als in schlechter Gesellschaft‘“ Ingrids Angebot abzulehnen. Dann begibt er sich auf die für ihn verhängnisvoll endende Zugfahrt.

Nachbemerkung: Kann ich als Leser auch zum Leidwesen sicherlich des Herausgebers kein Wissen zur Aufklärung der Ermordung Bruno Zieglers beitragen, so doch einige Fragen stellen und eine inständige Hoffnung aussprechen. Zum einen: Wie kann es sein, dass in den Aufzeichnungen Bruno Zieglers kein einziges Mal der ihm dessen geradezu penetrant vorgetragener Behauptung nach doch so nahestehende Herausgeber auftaucht? Sollte der sogar selbst etwas – ein fiktionaler Salto mortale und Geniestreich zugleich – mit Zieglers Ermordung zu tun haben? Hat dieser Herausgeber zumindest in die der Behauptung nach im Stegreif entstandenen, doch kunstvoll-druckreifen „Aufzeichnungen“ eingegriffen? Zum anderen: Wie verbindet sich das dem Roman vorangestellte Alain Delon-Zitat „Die schönsten Stunden im Leben liegen häufig ein wenig außerhalb der Legalität“ mit dem Roman? Schließlich: Es wurde auf biographische Verbindungen zwischen Bruno Ziegler und dem Schriftsteller Gerhard Köpf hingewiesen. Deren braucht es keine weiteren. In diesem Sinne einen herzlichen Glückwunsch zum 72. Geburtstag am 19. September.

Titelbild

Gerhard Köpf: Palmengrenzen.
Braumüller Verlag, Wien 2020.
240 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783992002696

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