Kishimi kennt kein Trauma
Der philosophische Dialog „Du musst nicht von allen gemocht werden. Vom Mut, sich nicht zu verbiegen“ möchte Lebenshilfe anbieten
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseJapanische Ratgeber
Seit einigen Jahren erreichen japanische Publikationen, die sich mit sogenannter Lebenshilfe befassen, den internationalen Buchmarkt. Oft mit geheimnisvoll klingenden Begriffen wie zum Beispiel ikigai suggerieren sie, dass dem Leser durch die sich hinter dem jeweiligen Wort verbergenden Weisheiten ein besseres, glücklicheres Dasein ermöglicht wird. Während die neuere Devise ikigai den japanischen Weg zur Lebenszielfindung weist, kann man mit Marie Kondos konsequenter Aufräummethode seine Existenz gründlich entrümpeln, und Ikeda Daisaku, Ehrenvorsitzender der neu-religiösen Vereinigung Sôka Gakkai, hält seit jeher buddhistisch geprägte Antworten für diverse Situationen bereit.
Adler!
Grundlage für den philosophischen Dialog, den Ichiro Kishimi in Form eines klassischen Lehrgesprächs zwischen einem älteren Philosophen und einem „verzweifelten“ jungen Mann ausgestaltet, bilden allerdings keine fernöstlichen Weltanschauungen, sondern die Erkenntnisse von Alfred Adler (1870-1937), dem Begründer der Individualpsychologie. Kishimi, Jahrgang 1956, als Philosoph ausgebildet an der Universität Kyôto, ist nämlich ein überzeugter Adlerianer. Hinzufügen müsste man noch: er ist Anhänger wissenschaftlicher Denkmodelle, wie es in der alten Moderne üblich war. Deshalb können Kishimi und sein philosophisch-editorischer Adlatus Fumitake Koga in der Vorbemerkung wohl auch ohne postmoderne Zweifel konstatieren: „Die Adlersche Psychologie genießt in Europa und den USA breite Anerkennung und präsentiert einfache und direkte Antworten auf die philosophische Frage: Wie kann man glücklich sein? In der Adlerschen Psychologie liegt vielleicht der Schlüssel dazu. Die Lektüre dieses Buches könnte ihr Leben verändern.“
Für Europa wäre einzuräumen, dass es mit der allgemeinen Bekanntheit des Wiener Psychologen nicht so gut bestellt ist, wie es die Verfasser behaupten; im Nachwort gesteht Koga übrigens, in seinem Umfeld habe Ende der 1990er Jahre fast niemand von der Psychologie Adlers gehört. Der im Original 2013 erschienene, in ca. einer Million Exemplaren verkaufte Band war ursprünglich jedenfalls für den japanischen Markt der Ratgeberliteratur (ikikata no hon) bestimmt, der sehr aufnahmebereit ist. Hier mag der Bezug auf ältere Texte beziehungsweise auf Quellen der Moderne besser funktionieren, da in Japan immer noch ein gewisses Ideal von Gelehrsamkeit vertreten und tradiertes Wissen generell höher geschätzt wird. Im Sinne des Lebenshilfe-für-alle-Aspekts behauptet das Verfasserduo in Vorwegnahme befürchteter Bildungsbarrieren aber ebenfalls direkt zu Beginn, ihre philosophisch-psychologische Handreichung sei keineswegs kompliziert: Adler liefere „einfache“ und „direkte“ Antworten auf Seinsfragen. Eingängig sei zudem der „anschaulich erzählte Dialog“ zwischen einem Philosophen und einem jungen Mann. In fünf Gesprächen erfährt der Ratsuchende, wie er Selbstzweifel, Minderwertigkeitskomplexe und daraus resultierende Probleme in der Interaktion mit den Mitmenschen bewältigen kann. Der in der philosophischen und psychologischen Materie bewanderte Protagonist vertritt nämlich – wie sein Schöpfer Kishimi – die Auffassung, der Mensch könne sich ändern, die „Welt sei einfach“ und das „Glück für jeden erreichbar“.
Unbequeme Ansichten
Man hätte es erwarten können: Bequem sind die Ratschläge des Philosophen nicht. Obwohl der junge Mann als Beispiel für die Unmöglichkeit der Glücksbehauptung von einem traumatisierten Freund berichtet (offenbar ein hikikomori), der bedingt durch ein schlimmes Ereignis Angst hat, sein Zimmer zu verlassen, und der, wenn „er sich nur einen einzigen Schritt herauswagt“, sogar unter Zittern und Herzrasen leidet, interveniert das Alter Ego Kishimis unbeindruckt. Er lehne den Determinismus, der mit solchen Trauma-Diagnosen einhergehe, ab. Könne es denn nicht der Fall sein, dass der Freund nicht aus dem Haus gehen wolle und genau deshalb seine Angstzustände entwickelt hätte? Die Bewertung einer Situation liege ganz bei dem Betroffenen. Dieser habe die Möglichkeit, sich von seinen Vorstellungen zu befreien. Das Argument der Traumata zähle für ihn nicht, denn „wir bestimmen über unser Leben“.
Ein solcher Appell an die Verantwortung des Einzelnen sowie die einigermaßen perfide seelenärztliche Annahme eines „Entschlusses zum Unglück“ dürfte in Stimmungsmilieus, die von der Hilfsbedürftigkeit des Individuums und von der Übermächtigkeit des Traumas ausgehen, kaum auf Akzeptanz treffen. Wie schon erwähnt, spiegelt der Band mehr das Menschenbild der „Macher“ des 19. und 20. Jahrhunderts wider, als dass er einer gegenwärtigen Fürsorge- und Betreuungsmentalität entgegenkommt. Der Philosoph erscheint letztlich als Repräsentant der positiven Psychologie, die Selbstakzeptanz, Resilienz und mentale Stärke fördern möchte, und tatsächlich betont diese, man solle sich nicht genötigt fühlen, es jedem recht machen zu wollen.
„Leitstern“ und „Tanz“
Am Kulminationspunkt seiner philosophischen Belehrungen im fünften Dialog mahnt Kishimi mehr Mut und Zivilcourage an, um die Kontingenz des Lebens zu bewältigen. Sein Alter Ego fasst die im Grunde trostlose Ausgangslage noch einmal zusammen: „Die Welt, in der wir leben, ist unaufhörlich voll schrecklicher Ereignisse, und wir müssen mit den Verwüstungen des Krieges und der Naturkatastrophen leben, die um uns herum passieren.“ Akzeptieren dürfe man die Situation aber nie. Als Beispiel nennt er die Erfahrung einer großen Naturkatastrophe, womit Kishimi sich zweifelsohne auf Fukushima bezieht. Ein solcher „Schicksalsschlag sollte eine Gelegenheit sein, nach vorn zu schauen und zu denken: Was kann ich von nun an tun?“ Man benötige für den Weg der selbstverantwortlichen Freiheit und für seine Glückssuche dazu noch einen „Leitstern“, der einem die Richtung weise. Dieser sei im „Engagement für andere“ zu finden, also im Altruismus.
Einigermaßen enigmatisch klingt der Rat, den der Philosoph dem jungen Mann abschließend gibt: „Dann lassen Sie uns aufrichtig die Momente des Hier und Jetzt tanzen und aufrichtig leben. Blicken Sie nicht in die Vergangenheit und nicht in die Zukunft. Man lebe jeden vollständigen Moment wie einen Tanz.“ Während etliche Passagen der Unterweisung Allgemeinplätze einer längst schon im Geiste des amerikanischen Optimismus und des Optimierungsdenkens internationalisierten Ratgeberliteratur enthalten, scheinen in den Ausführungen zum „Tanz“ und zum „energeischen Leben“ sino-japanische Konzepte anzuklingen. Es sind offenbar Reste einer vitalistisch-kosmischen Anschauung und ihrer Ritualisierungstraditionen, die selbst noch in der Zweitübersetzung aus dem Englischen ihre Alterität zu behaupten wissen.
Insgesamt kennzeichnet die Publikation eine Art von klosterbruderisierender Atmosphäre. Der platonische Austausch zwischen zwei Männern mutet im 21. Jahrhundert – so ganz ohne queere Untertöne – antiquiert an, ebenso der essentialistische Weltschmerz. Wer nimmt sich heute noch für längere Gespräche mit einem belesenen Gelehrten Zeit? Dafür gibt es sicher schon eine Instant-Philosophie-App, die das Gesagte in fünf Sätzen komprimiert.
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