Allianz der Opfer und der Grausamen
Masayo Koike lockt mit japanischer Fantastik in ihr „Sperlingshaus“
Von Lisette Gebhardt
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMasayo Koike (*1959) schreibt über weibliche Ich-Figuren und ihre psychischen Abgründe, über obsessive Beziehungen zum männlichen Geschlecht, vorzugsweise zu älteren dominanten Herren, sowie über sonderbare betagte Damen, latent bösartige Kinder und über Tiere oder Mischwesen zwischen Tier und Frau. Auf Koikes Arbeiten, die mit den sechs Geschichten aus der Anthologie Das Sperlingshaus (erschienen im japanischen Original als Kotobajiru / Wörtersuppe im September 2008) nun in deutscher Übersetzung vorliegen, trifft die Vokabel kafkaesk zu. Offenbar ist die in Japan Ende der 1980er Jahre zunächst mit Lyrik bekannt gewordene Literatin von der damals populären Strömung der gensô bungaku (Fantastik) geprägt: Koike erschafft in der Tat seltsame Textwelten. Ihre Szenarien lassen an Träume denken, deren ebenso befremdliche wie stimmige Enigmatik eine immersive Funktion ausübt. Denjenigen, die ein Faible für japanische Autorinnen wie etwa Yôko Ogawa (*1962) und Hiromi Kawakami (*1958) haben, bietet der Band vorzüglichen Lesestoff.
Im schwarzen Paradies
Inländische Buchkritiken betrachten Kotobajiru als gensô-tan (fantastische Geschichten) und rechnen die Texte auch dem Sujet „Liebeserzählungen“ (ren‘ai shôsetsu) zu. Unter „Liebe“ muss man hier die amour fouverstehen, die im japanischen Künstler- und Intellektuellenmilieu, vor allem in der sogenannten Frauenliteratur (joryû bungaku), geschildert wurde – ein Konzept, das in der ersten Dekade der 2000er Jahre noch Gültigkeit beanspruchen konnte. Heute, nur sechzehn Jahre später, entsprechen Koikes Konstellationen kaum mehr dem Zeitgeist. Das geschilderte Habitat von Sensibilität, Gelehrsamkeit und Sinnlichkeit dürfte selbst im Ursprungsland weitgehend verschwunden sein. Umso mehr Anstrengung erfordert es wohl von manchen Lesern der westlichen Hemisphäre, ihrerseits in noch größerem Maße bar jeder Schulung in den fernöstlichen Traditionen ästhetischer Kommunikation, die feinnervige Wahnwelt der Protagonistinnen zu goutieren.
In der märchenartigen, titelgebenden Episode „Das Sperlingshaus“ (im japanischen Original Suzume / Sperlinge) beauftragt der geheimnisvolle Herr Takizawa die Inhaberin eines Einrichtungsgeschäfts damit, Vorhänge für sein weitläufiges Anwesen anzufertigen. Die Innenausstatterin sieht sich bald in der Lage, all den Wünschen der grauen Eminenz stattgeben zu müssen:
Seine Worte klangen wie die Bitte eines schwachen, alten Mannes, in der allerdings drohende und unsagbar schreckliche Untertöne mitschwangen. Am furchterregendsten aber waren seine Augen.
Sie unterwirft sich diesen von ihr wahrgenommenen Emanationen der Gewalt und bleibt: „Seit jenem Tag lebte ich als Gefangene in Herrn Takizawas Haus“.
Der Mann, der ihr zuvor das reichlich blutrünstige Märchen von Sperlingsmädchen und Menschenmännern erzählt, verführt die Ich-Erzählerin, die durch sein Einreden gleichsam selbst zu dem kleinen Sperling wird, den er sich „hält“. Sperlinge aus dem Garten des Meisters würden, wie sie zu wissen meint, für Experimente verwendet. Daraus resultierende tote Vögel werden in schwarzen Säcken vergraben, ihre Herzen serviert man in Form des beliebten Kaldaunenmuschelgerichts (es macht süchtig) auf den Partys im Anwesen: Eine außerordentlich suspekte, abartige Atmosphäre. Handelt es sich bei den Gästen und Dienern um Satanisten oder ruchlose Genforscher? Eine neue Spezies stellten die experimentell veränderten Tiere dar, die sich den Menschen distanzlos näherten.
Die Heldin berichtet zudem, sie habe ihr Haus, ihr Geschäft und ihre Zukunft aufgegeben, sich durch „wiederholende körperliche Vereinigungen“ mit Takizawa von sich selbst entfremdet und am Ende sogar ihr „altes Ich entsorgt“. Die gleichgültige Verleugnung ihrer Persönlichkeit als Dienerin / Sperlingsmaitresse erlebt sie teilweise als lustvoll, teilweise ahnt sie ihr Ende als weggeworfener Vogel voraus. Wenn sie sich den Gedanken gönnt, den Alten seinerseits in die Kadavergrube zu stoßen, möchte sie in jenes dunkle Loch hineinfliegen, um „darin zu verschwinden“. Im vollen Bewusstsein dessen, dass sie durch die Lügenmärchen des Mannes getäuscht und in das obsessive Eros-Thanatos-Spiel gelockt wurde, hält die Protagonistin an ihrer Existenz in einem schwarzen Paradies fest. Augenscheinlich hat sie sich ihrer Todessehnsucht überantwortet. Die toxische Umgebung entzieht der Gereiften die Persönlichkeit, wie sie die Lebenskraft der jungen Sperlinge raubt. Und doch will sie den alten Takizawa unbedingt für sich allein: In seinem Reich bleibt sie das ewige Mädchen. Als überhöhtes Emblem ihres Seelenheils „schützt“ sie ihn, hilft, das wahre Gesicht seines Reichs zu verbergen (Vorhangsmetapher), während dergestalt der grausame Täter und sein schwaches Opfer in Hassliebe vereinte Komplizen sind – wahlweise erotomane Zombies, die Kutteln verschlingen.
Eine Parade gequälter Frauen
In der Episode „Die Gehörnte“ (jap. Originaltitel Tsuno / Hörner) findet sich eine ähnliche Figurenkombination. Wieder spielt die textinterne Fabel eine wichtige Rolle, die Fabel vom Reh, das sich aus Liebe zum jungen Jäger in eine Menschenfrau verwandeln möchte. Der „Meister“ in dieser Variante ist ein berühmter Lyriker, der „viele Jahre an der Universität“ tätig war, denn, wie die beflissene Haushälterin nicht ohne Boshaftigkeit preisgibt, „alleine vom Gedichteschreiben kann man nicht leben“. Die Frau, die den mittlerweile Achtzigjährigen sorgsam behütet, fungiert in der Hauptsache als seine Sekretärin – drei Dekaden zogen darüber bereits ins Land: Anfangs war die Studentin eine Verehrerin seiner Dichtkunst, stets präsent auf Vortragsabenden. Ihre von der Alma Mater ausgezeichnete Abschlussarbeit widmete sich selbstverständlich dem Werk des Gepriesenen. Im Promotionsstudiengang forscht sie ebenfalls darüber, sendet ihm die Aufsätze zu. Während die Begabte noch sichere wissenschaftliche Distanz zum Objekt ihrer Faszination wahrt, trennt der Dichter sich von seiner Frau und man bittet sie, dem Meister Beistand zu leisten:
Ich verzichtete unverzüglich auf mein Leben als Akademikerin.
Obwohl die Protagonistin klar erkennt, dass die Dankbarkeit des bequemen Alten aus nichts als „leeren Worten“ besteht, er sie „nach Strich und Faden“ ausnutzt, letztlich kein Quäntchen Interesse am Gegenüber hat und sich selbst am nächsten ist, wünscht sie nur noch stärkere Qualen zu erleiden:
Mich aber befriedigte eine reine Freude nicht mehr. Diese qualvolle und verkrümmte, einer pechschwarzen Perle ähnelnden Freude, die er mir schenkt, ist mein einziger Schatz.
Der maligne Narzisst, dessen „Rätselhaftigkeit und Grausamkeit“ die Frauen im wahrsten Sinn des Worts fesselt, hatte die „seelische Balance“ mancher Geliebten zerstört, was ihm hinter seiner zivilisiert-humanen Fassade tiefe Genugtuung verschafft. Als die Sekretärin den Betagten zu einer Verlagsfeier chauffieren soll, verwandelt sie sich plötzlich in das Reh aus einem seiner Gedichte. Eine unerhörte Camouflage vonseiten der einst so denkfähigen Frau. Diese Metamorphose beinhaltet zwar die ultimative Anpassung an männliche Erwartungen, im selben Moment verbirgt sich hinter ihr aber eine zielsichere Racheattacke auf den Selbstsüchtigen: Der Meister reagiert, schenkt ihr jetzt gebührend Zuneigung und streichelt das wachsende „Gehörn“. Da fallen aus einem Laster vor dem Auto des Paars rosarote Spielzeugbälle, und ein Verkehrsunfall geschieht – der alte Mann ist tot. Trotz der offenkundigen Tragik der Situation bringt die absurde Szene eine gewisse Komik zutage. Zum einen beschimpft die Ich-Figur den soeben Verblichenen mit deftigem Vokabular, bevor sie kurz darauf stirbt:
Scheißkerl! Von wegen Dichter! Du alter Knacker, du geiler Bock!
Zum anderen liegt die Interpretation des Geschehens nahe, dass die Szene, in der die rosaroten Bälle auf die Straße rollen, den Orgasmus der Protagonistin meint. Der Moment der Erfüllung war also mit ihrem Leben erkauft.
Anthropologie psychologisiert, poetisiert
Masayo Koikes mit diabolischer Freude vorgetragene Geschichten feiern allesamt die Wollust des Untergangs im Geschlechterkampf. Einige Frauenfiguren versagen sich der Leidenschaft, wohl wissend, dass die Intoxikation durch den Mann und eine längerfristige Beziehung die Auslöschung zur Folge hat. Immer wieder flammt allerdings das Verlangen nach der fatalen Interaktion auf, gerade bei fortschreitendem Alter. Außerdem sprechen die Protagonistinnen besonders auf die Defizite der Partner an. In der Eröffnungserzählung des Bandes, „Seine Ehefrau“, strebt Mitsu ein enges Zusammenleben mit dem nur auf der Oberfläche „netten Menschen“ Leo an. Für sie ist der Mann, der bei seiner Mutter aufwuchs, interessant, weil er sich der Symbiose entziehen will – obwohl sie unter dem Rückzug leidet. Leo sucht aufgrund seiner psychologischen Prägung mütterliche Frauen, die er dann „schonungslos“ verletzt. Mitsu genießt die Qualen. Indem sich beide Partner weigern, eine reife Beziehung einzugehen, eröffnet sich für sie ein ungesundes sadomasochistisches Szenario – und damit die Chance, die Klaviatur der Gefühle auszureizen.
Die Texte poetisieren meist verleugnete menschliche Triebe, stellen Schmerzorientiertheit und Todessehnsucht in den Mittelpunkt. Koike erweist sich als Vertreterin einer dunklen Neoromantik im Gebildetenmilieu – die Akademie bildet den Ausgangspunkt für gepflegte Saturnalien und eine freie Entfaltung des ma folie-Moments. Der Rezipient der sechs Episoden mag Zitate aus Märchen, Mythologie und Werken anderer Schriftsteller erkennen – möglicherweise Kafka oder auch Uchida Hyakken, dem modernen Klassiker der Fantastik; zitiert wird die Lyrikerin Kazuko Shiraishi (1931-2024). Rückgriffe auf Quellen der Psychologie zum Thema frühkindliche Schädigung und narzisstische Wut liegen nahe, münden aber nie in moralische Belehrungen oder pseudopsychologisches Geraune.
Sprachverrückung
Mehr als psychologisierende Mehrdeutigkeiten nimmt das Mesmerisierende des Erzählens und des Sprachlichen an sich, die Suggestivität der Sprache jenseits der oft erratischen Inhalte für die Texte ein. Koikes exquisite linguistische Kulissen bringen Szenen hervor, die sich nachhaltig einprägen. Gute Dienste leistet dabei die philologische Übersetzung. Die Autorin darf sich hier ohne Mainstreamingdeutsch artikulieren, was einmal wieder deutlich macht, wie japanische Literatur klingen kann, wenn sie nicht durch Verlagspolitik auf Lesbarkeit hin bereinigt wurde. In diesem Sinn handelt es sich bei dem Buch um beinahe subversive Lektüre in zunehmend von Komplexität befreiten Sprach- und Ideenwelten.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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