Lieder nach alter Art

Mit seinen „Psalmen“ schließt Uwe Kolbe an eine biblische Tradition an, ohne die Gegenwärtigkeit seiner Lyrik preiszugeben

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Uwe Kolbes (geb. 1957) Wiege stand in keinem Pfarrhaus. Hineingeboren ‑ wie sein erster Gedichtband 1980 heißt – wurde er in die DDR. Und dort hatte man bekanntlich staatlicherseits mit Religion und biblischen Texten wenig am Hut. Was bedeutete, dass der normale Bildungsweg eines jungen Menschen zwischen Rostock und Zwickau, Magdeburg und Frankfurt an der Oder diesen nicht unbedingt an Mose, Salomo, den Königen und Propheten vorbeiführte. Altes und Neues Testament hatten östlich der Elbe dem Kommunistischen Manifest Platz machen müssen und statt Hiobsbotschaften gab es die vom Neuen Deutschland Tag für Tag zu Erfolgsmeldungen aufgeblasenen Nachrichten aus einer Wirtschaft, in der es fast anderthalb Jahrzehnte dauerte, bis ein Auto den Weg vom Fließband zu seinem Besitzer zurücklegte.

Kolbes Annäherung an die Psalmen ‑ wie sein aktueller Gedichtband betitelt ist ‑ hat deshalb 60 Jahre gedauert. Erst jetzt, nach je einer Lebenshälfte in der DDR und einer in der wiedervereinigten Bundesrepublik, hat der Berliner Autor den Mut gefunden, sich ganz bewusst in die poetische Tradition jener 150 Lieder und Gebete zu stellen, denen Martin Luther einst nachsagte, sie würden sich auf eines jeden Menschen „Lage reimen und so auf ihn passen, als wären sie nur um seinetwillen so geschrieben; er könnte sie auch selbst nicht besser verfassen oder erfinden, noch sich bessere wünschen“. Dass die 43 Texte, von denen sich ein gutes Viertel bereits mit seinem Titel ganz eng an den biblischen Psalter anlehnt und am besten parallel mit den Urtexten gelesen werden sollte, auch als eine Art Lebensbilanz im 60. Jahr verstanden werden können, wird an mehreren Stellen deutlich. Sie gehören damit in eine Reihe mit dem ebenfalls bilanzierenden Vater-Sohn-Roman Die Lüge (2014) und der kämpferischen Abrechnung eines „von Brecht Betroffenen“ mit dessen zu ideologischen „Haltungsschäden“ führender, verhängnisvoller Vorbildfunktion in dem Essay Brecht. Rollenmodell eines Dichters von 2016.

So vermessen, seine Gedichte abstandslos neben die jener Autoren zu stellen, deren Texte im alttestamentarischen Buch der Psalmen zusammengestellt wurden, ist Kolbe nicht. Es sind „Lieder nach alter Art“, betont er die Zusammengehörigkeit, aber: „die habe ich gemacht.“ Und dieses „Ich“, das sich zu Beginn des Buchs in Geleitsätzen an den Leser wendet, ist keines, das aus einem unerschütterlichen Glauben heraus spricht:

Unter meinen [Psalmen, Dietmar Jacobsen] sind keine von der sicheren Seite gesprochen, das unterscheidet sie deutlich von den meisten Psalmen, die in der Schrift gesammelt sind. Die strotzen noch in größter Pein von Gottvertrauen […] Dies sind Psalmen eines Heiden, der Gott verpasste, weil keiner bei dem Kinde ging, der sagte, hörst du die Stimme?

Wer hier Bedauern heraushört ‑ an einer Stelle fällt sogar das Wort „Verrat“ ‑, dürfte so falsch nicht liegen. Denn Kolbe rechnet in seinen Psalmen auch ab. Nicht zuletzt mit sich selbst, seinem fehlenden Glauben, seinen Irrtümern, seiner Dichtung: „Ich verriet die Poesie an die banale Zeit, an die Stadt, an Götzen, an jede Menge lachhafter Figuren. Hier und da verdarb die Schönheit daran, der doch die Arbeit galt, wurde nicht Form, was Form sein muss, weil es sonst nichts ist.“ Als „Sprechknecht“ hat er sich zu oft mit Uninspiriertem abgefunden, fand sich „toll in [seiner] schwarzen Weste“, spielte „das Leben mit Masken“ und wurde sich erst spät bewusst, dass „ein Lied ohne Gott […] tonlos“ ist.

Nun also die versuchte Wende, der Weg zurück zu jenem „Kinderglauben“, der „überall verlacht wird“, obwohl er doch „groß ist und die Dummheit und die Dreistigkeit überlebt und die Bedrohung durch Nichtigkeit“. 72 Seiten an biblischer Emphase sich orientierender und in neun Fällen direkt aus ihr hervorgehender ‑ was auch heißt, zum Vergleich mit dem alttestamentarischen Text einladender ‑ Gedichte.

Alles in allem gelingt sie nicht ganz, diese sich zu einem Gutteil aus Lebens- und Liebesverzweiflung speisende Hinwendung zu etwas Größerem. Kolbes Psalmen sind geprägt von Themen wie (späte) Einsicht und Tod, Liebesverlust und Sehnsucht, Abrechnung mit Vergangenem und Neubeginn, meist frei in Vers und Rhythmus, selten sich am Reim versuchend, einmal, im längsten Gedicht des schmalen Bändchens, dem 119. Psalm, mit den Anfangsbuchstaben jedes Verses der 22 Strophen das Alphabet durchdeklinierend, wobei die Buchstaben C, Q, X und Y aus lexikalischen Gründen entfallen. Es bleiben, wie er selbst schreibt, „Ketzer-Psalmen“. Mehr unsicher als fest im Glauben, mehr tastend neuen Boden suchend als voller Vertrauen auftretend, mehr Nähe als Gemeinschaft gewinnend, ist durch Kolbes Verse hindurch immer noch eine nicht ganz zu überwindende Kluft zu spüren zwischen dem Ich, das er einmal war und nicht mehr zu sein begehrt, und jenem, dessen Vorbild ihm aus den biblischen Psalmen den Weg weisen soll.  

„Hätten wir nur so viel Glauben wie ein Senfkorn, würden wir Berge versetzen, sagt die Heilige Schrift“, zitiert der Autor zu Beginn des schmalen Bändchens Michel de Montaigne. Allein Kolbe besitzt, „konfessionslos und der Leere der Welt auch bewusst“, wie er in einem aufschlussreichen Interview mit Sascha Michel bekennt,“nicht die schöne Möglichkeit […], ‚Zwiesprache‘ mit ihm zu halten. Gott kennt mich nicht.“ Aus diesem Glaubensdilemma Gewinn zu schlagen, ist nicht leicht. Aber der Dichter nimmt sich vor: „Ich wage die Ansprache dennoch.“ Daraus sprechen Trotz, aber auch die Überzeugung, dass angenommen werden wird, wer wirklich angenommen werden will. Und so baut Uwe Kolbe unverdrossen weiter an der „Tür, durch die ich gehen kann, aus alten Hölzern.“ Auch wenn nicht jedes Bauteil sich widerstandslos fügen will.

Titelbild

Uwe Kolbe: Psalmen.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2017.
76 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783100014580

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