Die Boten der Endzeit am Nachthimmel

Anna Jerratsch analysiert die spannenden Auslegungsweisen von Kometenerscheinungen in der frühen Neuzeit

Von Ulrich KlappsteinRSS-Newsfeed neuer Artikel von Ulrich Klappstein

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Kometen sind eindrucksvolle Naturerscheinungen, die seit jeher nach Deutungen und Erklärungen verlangen. Anna Jerratsch untersucht in ihrer umfangreichen Dissertation Der frühneuzeitliche Kometendiskurs im Spiegel deutschsprachiger Flugschriften die Kometendiskurse, die zwischen 1530 und 1682 Gegenstand einer wahren Flut von Flugschriften waren, und dies besonders im deutschsprachigen Raum. Die Autorin betrachtet diese Diskurse vor dem Hintergrund der Wandlungs- und Anpassungsfähigkeit von Wissenssystemen der frühen Neuzeit. Die Basis ihrer Untersuchung bilden die Kometentheorien seit der Antike, die sich zunächst in astrologischen und theologischen Interpretationen erschöpften. In der frühen Neuzeit erreichte die von den Kometenerscheinungen ausgehende Faszination ihren vorläufigen Höhepunkt. Der einfache Volksglaube an die gleichermaßen wunderhaften wie Katastrophen verheißenden astronomischen Beobachtungen wandelte sich allmählich zu einem religiös-wissenschaftlichen Diskurs als Ausdruck eines neuen Orientierungsstrebens im 16. und 17. Jahrhundert. Das Auftreten der Kometen am Nachthimmel wurde durch die Flugschriften zum Kommunikationsereignis, unterstützt durch den Buchdruck und die medialen Wandlungsprozesse innerhalb der sich entwickelnden bürgerlichen Öffentlichkeit.

Ein besonderes Verdienst der Arbeit von Jerratsch liegt in der Zusammenstellung des umfangreichen Textkorpus an Flugschriften, die von der Mitte des 16. Jahrhunderts an in solch großer Zahl auf den literarischen Markt kamen wie niemals zuvor und auch später nicht mehr. Die Sichtung der zeitgenössischen Diskurse wird jeweils anhand schwerpunktmäßig durchgeführter Analysen unter diversen Aspekten vorgenommen. Am Beispiel von exemplarisch dargestellten Flugschriften werden die frühen Wissenskulturen rekonstruiert, die die Gelehrtenwelt mit gesellschaftlichen Mentalitätswelten vereinigten.

Gesichtet wurden für das Dissertationsvorhaben zahlreiche Flugschriften: Das Verzeichnis des Bandes führt circa 180 Primärquellen auf. Daneben berücksichtigt Jerratsch auch die zu diesem Wissenschaftsfeld erschienene umfangreiche deutschsprachige und internationale Sekundärliteratur.

Eine klare Zäsur der dokumentierten Kometendiskurse setzt die Verfasserin mit dem Jahr 1682, dem Jahr der Beobachtung des „Großen Kometen“ durch Edmond Halley; danach ebbt die Flut die Flugschriftenliteratur plötzlich ab. Bis dahin spiegelten die Flugschriften – neben den veröffentlichten astronomischen Beobachtungen beispielsweise eines Tycho Brahe – als vermeintlich rein populäre Literaturgattung das gewachsene Interesse der Öffentlichkeit wider. In freier Texttradition stehend gaben sie Aufschluss über die Synthese von Wissen, Weltbildern, Mentalitäten und Glaubensvorstellungen, die in den eher konventionellen Textgattungen nicht anzutreffen waren.

Wie Jerratsch nachvollziehbar darlegt, wurde die Auswertung des ihr vorliegenden Textkorpus vor allem durch den Versuch einer ordnenden Kategorisierung erschwert, da Flugschriften per se stets ein Konglomerat unterschiedlichster Repräsentationsformen und Interpretationsweisen ihrer heterogenen Autoren darstellen, unter denen sich gelehrte Naturphilosophen, astrologische Pragmatiker, Ärzte sowie Geistliche befanden, welche die jeweilig entstandene Kometendebatte je unterschiedlich abbildeten, noch dadurch verstärkt, dass Kometenerscheinungen als Boten Gottes oder Verkünder einer Endzeit interpretiert wurden.

Diesem solchermaßen ganz unterschiedlich strukturierten Textkorpus nähert sich die Verfasserin anhand von Fallstudien, so im dritten Teil – stellvertretend für das 16. Jahrhundert – mittels der Werke des Wiener Klerikers Johann Rasch (1540–1612), des Görlitzer Astronomen Bartholomäus Scultetus (1540–1614) und des Danziger Mathematikprofessors Matthias Meine (1544–1601), denen es um Ansprache, Information und Aufklärung des ‚gemeinen Mannes‘ ging, den sogenannten illiterati. In diesen drei, annähernd 100 Seiten beanspruchenden Fallanalysen werden die Flugschriften jeweils detailliert nach Inhalt und Gestaltung vorgestellt und kommentiert.

Einen weiteren Schwerpunkt bildet der vierte Teil der Studie, der den Kometendiskurs des 17. Jahrhunderts abbildet, der aus 88 Flugschriften und acht Einblattdrucken deutschsprachiger Provenienz besteht. Diesem Fundus stehen ‚nur‘ 37 lateinische Publikationen gegenüber, woran die Verfasserin das ‚Übergewicht‘ volkssprachlicher Werke festmacht. Aus diesem Zeitraum greift Jerratsch exemplarisch zwei Flugschriftenverfasser heraus: den heute kaum noch bekannten Pfarrer Theodor May (ca. 1569–1623), der hier allerdings repräsentativ für die nach 1608 einsetzende Rezeption Keplers steht, weil er auch vor einer ‚Kollegenschelte‘ seiner Theologenzunft nicht zurückschreckte, und den in Königsberg geborenen Astronomen Peter Crüger (1580–1639), der besonders den astrologischen Zeitdeutern entgegentrat, indem er sich in seinen Flugschriften rhetorisch geschickt als Mathematiker präsentierte.

Diese Fallstudien deuten nach Ansicht der Verfasserin auf die sich ankündigende Differenzierung des Kometendiskurses voraus, bevor die bislang noch weitgehend theologisch geprägte Kometeninterpretation nach dem Zweiten Ulmer Kometenstreit – einer Kontroverse, die sich Anfang der 1680-er Jahre im deutschsprachigen Raum entspann – und unter dem Einfluss der sich entfaltenden Physikotheologie ihr vorläufiges Ende und das des ‚Kometenaberglaubens‘ erreicht. Die Kometenflugschriften spalten sich zunächst genremäßig auf, bevor sie von der Mitte des 17. Jahrhunderts an von kompendienhaften und dialogischen Übersichtswerken verdrängt werden. Diesen Prozess der Wissenstransformation stellt die Verfasserin nur noch knapp dar, bevor sie im fünften, abschließenden Teil der Studie zu ihrem allerdings prägnant formulierten Fazit gelangt.

Die sehr detaillierte Vorstellung einzelner Flugschriften verlangt der Leserschaft zwar ein großes Beharrungsvermögen ab, das jedoch durch die kenntnisreiche Darstellung – unterstützt durch zahlreiche Abbildungen und treffend ausgewählte Quellenzitate – der aus heutiger Sicht entlegenen und wenig bekannten Texte am Ende belohnt wird, zumal diese sonst nur ausgesprochenen Fachleuten bekannt sein dürften.

Das umfangreiche Verzeichnis der einschlägigen Sekundärliteratur, auf die jeweils einführend verwiesen wird, bietet zusätzliche Einstiegsmöglichkeiten in dieses wissenschaftsgeschichtlich prägende und aufschlussreiche Kapitel nicht nur der Flugschriftenliteratur.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Anna Jerratsch: Der frühneuzeitliche Kometendiskurs im Spiegel deutschsprachiger Flugschriften.
Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2020.
583 Seiten, 84,00 EUR.
ISBN-13: 9783515125178

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