Schwarz auf Rot
Vitali Konstantinovs Graphic Novel adaptiert Hoffmanns „Sandmann“ als visuelle „tour de force“
Von Dennis Schäfer
Das Nachtstück Der Sandmann gehört zu den vermutlich bekanntesten Erzählungen E.T.A. Hoffmanns. Das belegt einerseits das enorme, bislang ungebrochene kulturtheoretische Echo, das sich u.a. in Sigmund Freuds berühmtem Essay Das Unheimliche, Tzvetan Todorovs Einführung in die fantastische Literatur oder den von Oliver Jahrhaus herausgegebenen 17 Modellanalysen zu Hoffmanns Text äußert. Anderseits mangelt es auch nicht an Adaptionen des Textes in anderen Medien: Teile des Sandmann-Plots sind integraler Bestandteil der Jacques-Offenbach-Oper Les Contes d’Hoffmann (Hoffmanns Erzählungen, 1880), und noch im Jahr 2012 drehte Andreas Dahns eine Realverfilmung des Stoffs. Kurz gesagt: Hoffmann fasziniert, Der Sandmann fasziniert umso mehr. Deshalb ist es auch kaum überraschend, dass der ukrainisch-deutsche Künstler Vitali Konstantinov im Jahr 2019 eine Graphic-Novel-Adaption von Hoffmanns Erzählung vorgelegt hat, die atemberaubender und mitreißender nicht sein könnte.
Konstantinov setzt genau da an, wo auch seine Vorlage ihren Anfang nimmt: Gleich zu Beginn sehen wir den Protagonisten Nathanael – in Gestalt eines blonden Studenten im Schlafrock und mit gezücktem Federkiel und frischer Tinte bewaffnet – wie er eben jenen markanten Brief an seinen Freund Lothar verfasst, und die Begegnung mit dem Wetterglashändler Coppola, das Kindheitstrauma um den Sandmann und den Verlust seines Vaters wiedergibt. Es folgt eine treue Adaption der Story der Hoffmann’schen Vorlage, stets bemüht darum, deren unheimliches Flair einzufangen und dennoch auf eine visuelle Ebene zu transferieren – auf hoffmanneske Weise, möchte sagen, wer Doppelungen nicht scheut.
Und die Adaption gelingt: Die meist schwarz-weißen Zeichnungen muten in der Einfachheit ihrer Züge nahezu karikativ an, aber sind dennoch liebevoll gezeichnet. Jede Figur des überschaubaren Personeninventars wird individuell markiert und bleibt stets klar von den anderen zu unterscheiden. Insbesondere die Doppelfigur Coppelius/Coppola und ihr Echo in der unheimlichen Gestalt des titelgebenden Sandmanns werden von Konstantinov einander angeglichen und zugleich klar getrennt gehalten. Konstantinovs Erfolg liegt dabei vor allem im Kolorit: Neben kleinen Sprenkeln des Blaus, das vor allem Nathanaels Augen und die anderer Figuren schmückt, verwebt er, mal kontrapunktisch, mal komplementär eingesetzt, ein tiefes Blut- bzw. Weinrot in seine sonst schwarz-weißen Bilder. Einerseits als das Blut des verstorbenen Vaters unweigerlich mit Nathanaels Kindheitstrauma verquickt, steht es andererseits im offenkundigen Zusammenhang mit seiner sexuellen Anziehung für Clara und Olimpia und projiziert in diesen Augenblicken eine verführerisch-laszive Aura – eine visuelle tour de force durch und durch.
In diesem exquisiten Wechsel- und Zusammenspiel der Farben liegt der Meisterzug von Konstantinovs Graphic Novel verborgen: Anstatt seiner Adaption eine Interpretation des Geschehens in Nathanaels Kindheit und Erwachsenenalter zu oktroyieren, transferiert Konstantinov die Ungewissheit von Nathanaels Traumata und seiner ‚Trigger‘ erfolgreich auf eine visuelle Ebene. Die einzelnen Elemente – darunter die „sköne Oke“-Ausrufe, der Sandmann als geflügeltes Ungeheuer, und Olimpias schaurige Autopsie – können somit kohärent zusammenwirken, ohne dass eine Interpretationsrichtung hervorsticht.
Wann immer Nathanael sich in den Tiefen seines Traumas verliert, lodern in den tiefschwarzen Bildern die Flammen auf, und ihr Pulsieren am Bildrand komplettiert den inneren Sinnesverlust von Hoffmanns bzw. Konstantinovs Protagonisten. Aufmerksamkeit gilt dabei insbesondere Nathanaels Augen: Wo sie üblicherweise in einem unschuldigen Blau getränkt sind, flackern sie in diesen Momenten der Ekstase im gleichen Rot wie die Flammen, die dann den Bildrand befeuern. Nota bene: Auch die Amme trägt eine Spur des Karmesins auf ihrer Kleidung, ist sie doch diejenige, die dem jungen Nathanael das grausige Märchen vom Sandmann erzählt. Konstantinov etabliert dadurch einen soliden Motivkomplex, zwischen dem er das dichte narrative Gewebe seines Ausgangstextes einzufangen vermag. Dabei gibt es sowohl etwas für Hoffmann-Kenner:innen zu entdecken, wie die Graphic Novel auch Lust auf eine eigene (neue) Leseerfahrung des ursprünglichen Nachtstücks macht.
Konstantinovs bewundernswerte Liebe zum Detail schlägt sich in kleinen Augenblicken nieder: Hoffmann-Fans wird das Kätzchen, das sich an einer Stelle in Claras Arme schleicht, ebenso sehr erfreuen, wie der köstliche Epilog: Hier sehen wir Clara unter Palmen an einem Strand mit Gatte und Kindern zu einem gutbürgerlichen Familienfoto stilisiert. Darin wird der ironische Ausklang der Erzählung, demzufolge Clara ja angeblich „in einer entfernten Gegend“ ihr „ruhiges, häusliches Glück“ genießen müsste (Konjunktiv!), gekonnt eingefangen und gibt der Graphic Novel einen nahezu versöhnlichen Abschluss.
In der letzten Vignette sitzen der romantische Autor Hoffmann und unser Zeitgenosse Konstantinov gemeinsam am Tisch – der eine raucht Pfeife und sinniert über das Leben als Jurist, Musiker, Karikaturist und Autor, der andere grübelt mit Stift und Papier zu Hand über das, „was man die Kunst heißt.“ Vor den beiden „Katzenliebhabern“ (so die zwei kurzen Biogramme am Ende) tollen zwei Katzen im spielerischen Widerstreit miteinander. Bei so einem schönen Schluss, der Autor und Zeichner gleichberechtigt gegenüberstellt, kann man sich nur wünschen, dass Konstantinov und Hoffmann bald wieder in einer anderen Adaption zusammen an einen Tisch kommen werden. Anselmus, Brambilla und die Scuderi stehen sicherlich schon auf Abruf bereit.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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