Inspirierendes Frauenleben oder irritierende Überhöhung?

Beatrix Kramlovsky erzählt in „Frau in den Wellen“ von dem unkonventionellen Lebensweg einer Frau, die den Erwartungen ihrer Zeit nicht entsprechen will

Von Christine LentzRSS-Newsfeed neuer Artikel von Christine Lentz

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eine Frau, die ihren Weg geht. Die keine Mutterfigur ist. Die die Kinder nach der Trennung bei ihrem Ex-Mann aufwachsen lässt – wohlwissend, dass sie in guten Händen sind. Die für sich selbst das Leben einer Kosmopolitin und erfolgreichen Karrierefrau lebt, in mehreren Städten zuhause, mehrere Lieben – kann das gut gehen? Darf das sein? Das ist die Frage, die über dem Weg von Joni schwebt, deren Geschichte Frau in den Wellen erzählt. Gleichzeitig ist es den gesamten Roman hindurch auch eine Frage, die die Autorin Beatrix Kramlovsky den Leser*innen fast aufdrängt. Der Klappentext verspricht die Geschichte eines starken und unkonventionellen Frauenlebens, das „stets auf dem Drahtseil zwischen Unabhängigkeit und Eingebundensein balanciert“. Die Beschreibung lässt kurz an Frauengeschichten aus den ARD-Vorabendserien der 90er denken. Auch der Großteil von Jonis beruflichem Werdegang und Loslösen aus traditionellen Familienstrukturen findet in den 90ern statt – einer Zeit, in der solche Lebenswege durchaus seltener waren als heute. Aber die Autorin hat anderes im Sinn. Sie breitet das Lebenspanorama einer Frau aus, das von einer Kindheit in den österreichischen Alpen in der Nachkriegszeit über die DDR bis nach Singapur und Kanada reicht. Die Geschichte von Dr. Joni Lanka wird als Geschichte einer selbstbewussten und mutigen Frau über die vergangenen Jahrzehnte erzählt, in der sie mit großer Unbeirrbarkeit ihren Weg geht und Konventionen außer Acht lässt.

Joni kommt in einer österreichischen Kleinstadt zur Welt. Ihre Eltern zählen sich zur Hippiebewegung und verbringen ihre Zeit lieber in verrauchten Kellerlokalen oder Diskussionsrunden in Wien als in der Enge der österreichischen Kleinstadt und einem klassischen Familienleben. Einer bürgerlichen Existenz können und wollen sie nicht gerecht werden und so kommt Joni in die Obhut einer liebevollen Tante. Die Eltern tauchen in unregelmäßigen Abständen in ihrer Kindheit auf. In dem Dorf, in dem sie aufwächst, macht sie die seltsame Familienkonstellation zur Außenseiterin. Schon früh eignet sich Joni eine Unabhängigkeit an, die sie ihr Leben lang begleiten wird. Auch ihren Eltern war nicht klar, „dass Joni die schwierige Übung meisterhaft beherrschte, Einsamkeit als befriedigende Genügsamkeit zu empfinden.“ Mit dem Tod der Tante endet Jonis Kindheit schlagartig. Sie beginnt, sich ihren Platz außerhalb der engen Welt des österreichischen Bergdorfs zu suchen. Sie geht nach Wien, studiert Geschichte, Soziologie und Politikwissenschaft. Nach ihrer Studienzeit folgt eine kurze Phase des Aufbruchs. Joni reist durch Goa, lernt bald darauf mit Georg die erste große Liebe kennen und gründet eine Familie. Einen Moment lang sieht es aus, als folge sie in den 70ern und 80er Jahren einem Bild ihrer Zeit: Sie wird Ehegattin im diplomatischen Politikbetrieb und geht mit Georg in die DDR, der dort im Außenministerium der BRD tätig ist. Die Schilderungen über Jonis Kindheit und Jugend zu Beginn entwickeln hier einen erzählerischen Sog, den der Rest des Buches leider nicht hält.

Es folgt ein Zeitsprung und wir treffen Joni im Jahr 2016 wieder: Sie hat sich mittlerweile im Guten von Georg getrennt, der die Rolle des Familienfürsorgenden übernommen hat. Joni geht indessen weitgehend von familiären Pflichten entbunden ihrer Karriere als Regierungsberaterin nach. Sie zeigt sich zufrieden und stolz über ihr Leben, das durchaus von inneren und äußeren Konflikten begleitet wird. Sie pflegt enge, vertrauensvolle Beziehungen zu mehreren Männern, die voneinander wissen und ist als Kosmopolitin mal in der einen, mal in der anderen Weltstadt zuhause. Da ist auf der einen Seite das Wochenende in London und am nächsten Abend ein Abenddinner in Paris. Die Kinder sieht sie in den Ferien – emotional fühlt sie sich mit ihnen eng verbunden und würde für sie jederzeit rund um die Welt fliegen würde. Gleichzeitig ist sie – und das weiß sie – eine Randerscheinung in deren Leben.

Durch die Erzählperspektive Jonis erfahren die Leser:innen alles unmittelbar von ihr. Sie gibt Einblicke in ihre Gedanken und Gefühle und liefert dabei fast eine Interpretation ihres Lebens mit ab. Als Protagonistin bleibt sie trotzdem seltsam distanziert. Stellenweise wirkt sie wie eine Schablone für eine Über-Frau. Mit Beschreibungen aus ihrem nächsten Umfeld wird sie zudem fast unangenehm überhöht. Selbst von der neuen Frau ihres Ex-Mannes scheint sie vergöttert zu werden: „Ich kenne wenige Frauen, die derart in sich ruhen, die so viel Selbstsicherheit ausstrahlen, ohne einzuschüchtern.“ Oder: „Joni ist wie eine Königin, oft weit weg, ein bisschen unwirklich, ein bisschen geheimnisvoll, doch wie über allem thronend.“ Keine Frage, zu Recht kann Joni stolz auf ihr wohlgeordnetes, intensiv-glamouröses Leben sein, das sie sich so eigenständig aufgebaut hat. Aber sie bleibt eben dabei merkwürdig unangreifbar und ebenso unfassbar.

Auch formal stehen da schöne, geschliffene und bedeutungsschwangere Sätze oft im merkwürdigen Gegensatz zur Handlung:

Joni hatte Unglück erlebt und erforscht, das sich niemand vorstellen mochte, der nicht als Helfer in irgendeiner Weise involviert war. (…) Joni arbeitete, aber sie redete nicht mehr darüber mit sich ängstigenden Menschen, die die Armut anderer wie eine ansteckende Krankheit fürchteten.

Sprachlich wirkt der poetische Ton wie ein merkwürdiger Gegenentwurf zu zeitgenössischer Handlung des Romans, was es unstimmig macht – und durch die Kontraste nicht interessanter.

Im letzten Drittel nimmt die Handlung erneut Fahrt auf, als ein unbedachter Social-Media-Post ihres Sohnes, der sie und ihren dunkelhäutigen Partner Sam zeigt, plötzliche eine Welle von Hassnachrichten nach sich zieht. Joni wird von einem auf den anderen Tag als „Ausbeuterin, als Feindbild, als Frau von exzessiven Gelüsten und Unmoral“ beschrieben. Nach einer Konfrontation mit vermeintlichen Freunden inklusive U-Bahn-Schlägerei landet ihr Sohn im Krankenhaus. Und Joni muss sich mit einer gerichtlichen Befragung auseinandersetzen, die den Vorfall, der in Zusammenhang mit ihrem Arbeitgeber steht, klären möchte. Hier eröffnet der Roman einen völlig neuen Themenkomplex, der sich neben Emanzipation und modernem Frauenleben auch Rassismus und Cybermobbing und Globalisierung widmet. Es scheint, als würde das von Joni so perfekt wie auch unkonventionell und unabhängig geführte Leben, das sie sich eingerichtet hat, in sich zusammenfallen.

Die vielen Schauplätze und Nebenfiguren, die unterschiedlichen Erzählperspektiven (manchmal kommt über Briefe Jonis geschiedener Ehemann zu Wort), zeitlichen Etappen und die unterschiedlichen Themen, die im Laufe des Romans angerissen werden: Frau in den Wellen macht es schwer, in der Geschichte zu bleiben und sich für seine Protagonistin zu erwärmen. Geht es um eine Charakterstudie? Die Rolle der Frau in der modernen Gesellschaft? Um ein Leben zwischen Konventionen und Unabhängigkeit? Um Rassismus und Vorurteile? Sexismus oder Cybermobbing? Um Globalisierung? Nach der Lektüre bleibt man mit einigen Fragezeichen zurück.

Titelbild

Beatrix Kramlovsky: Frau in den Wellen. Roman.
hanserblau, Berlin 2022.
304 Seiten, 25 EUR.
ISBN-13: 9783446274792

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