Österreichs Zukunft der Vergangenheit
Jörg Krappmann, Alžběta Peštová und Milan Horňáček Band „Transdifferenz und Gattungsdynamik“ beleuchtet österreichische Zukunftsromane der Zwischenkriegszeit
Von Rolf Löchel
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLange stand die literarische Science Fiction in der literaturwissenschaftlichen Schmuddelecke. Nun aber ist sie schon seit einiger Zeit auch im deutschsprachigen Raum wiederholt Gegenstand wissenschaftlicher Studien. Dies gilt sowohl für zeitgenössische Werke wie auch für im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert erschienene Romane und Kurzgeschichten.
Jörg Krappmann, Alžběta Peštová und Milan Horňáček haben der Reihe der Untersuchungen ein Gemeinschaftswerk hinzugefügt, das sich laut Untertitel mit österreichischen Zukunftsromanen befasst, die in der Zwischenkriegszeit entstanden. Tatsächlich hält das AutorInnentrio die genannten Begrenzungen sowohl zeitlich wie geographisch nicht ganz ein. So „wurde der Rahmen der österreichischen Literatur“ nicht nur „um Texte aus der Literatur der Böhmischen Länder [erweitert]“, sondern es wurden auch Werke in den Blick genommen, die vor oder während des Ersten Weltkriegs entstanden. Tatsächlich ist sogar ein ganzes Kapitel den Zukunftsromanen der vorletzten Jahrhundertwende gewidmet. Dieses beleuchtet heute weithin vergessene AutorInnen und Romane wie etwa Rudolf Hawels Im Reich der Homunkuliden (1910) und – interessanter – Josef von Nepauers Österreich im Jahre 2020 (1893). Ein „markanter Grundzug“ des von Nepauer erdachten „Idealstaat[s]“ besteht in der „starke[n] gesellschaftliche[n] Stellung der Frau“. So darf eine „sog. Frauencurie“ nicht nur in „allgemeinpolitischen Fragen“ mitentscheiden, sondern bestimmt „neben Medizinern über die Heirats- und somit Fortpflanzungsfähigkeit junger Frauen“. Dieser „recht fortschrittlichen Haltung in der Frauenfrage“ habe es Neupauer zu verdanken, dass er „von Seiten der Ersten Frauenbewegung zum ‚ehrlichste[n] und kühnste[n] Verfechter […] seit J. St. Mill’ ernannt“ wurde. Wie aus einer Fußnote zu erfahren ist, entstammt das Zitat im Zitat einem Zeitschriftenbeitrag von Carola Bruch-Sinn, die zwar nicht in der ersten Reihe der frühen österreichischen Frauenbewegung stand, doch – wie dem Lexikon österreichischer Frauen biografiA zu entnehmen ist – nicht nur der Redaktion des Wiener Almanachs angehörte, sondern auch mehrere Texte in der feministischen Zeitschrift Frauen-Werke publizierte.
Zu den zweifellos populärsten der im Band behandelten AutorInnen – (nicht nur) von Zukunftsromanen der Jahrhundertwende – zählen der für seine phantastischen Werke jeder Couleur bekannte Paul Scheerbart, dessen Romane Die große Revolution (1902) und Lesabéndio (1913) vorgestellt werden, sowie die als Verfasserin von Zukunftsromanen kaum bekannte Bertha von Suttner, deren als fiktionale „Zukunftsvorlesungen über unsere Zeit“ ausgewiesener Roman Das Maschinenalter (1889) und ihr Nahzukunftsroman Der Menschheit Hochgedanken (1911) analysiert werden. Beide seien „gelegentlich auch unter emanzipatorischen Gesichtspunkten als Positionierung Suttners in der Frauenfrage gelesen w[o]rden“.
Die „überwiegende Mehrheit“ der untersuchten Texte wurde allerdings tatsächlich in der Zwischenkriegszeit verfasst: genauer in den Jahren 1919 bis 1922 und 1932 bis 1938, also in ausgesprochenen Krisenzeiten.
Eines der Ziele der vorliegenden Studie ist es, „in populärliterarischen, weithin unbekannten Texten nach Antworten auf Zeitfragen und Vorschlägen für die Zukunft zu fahnden“ und dabei zugleich zu zeigen, dass „der minoritäre Status“ der AutorInnen von Zukunftsromanen „eher auf ihren Attributierungen als Vergessene und Verkannte als auf einer minderen poetischen Gestaltungskraft beruht“. Vor allem aber wollen die AutorInnen der sich „in der sukzessiven Überschreitung der narrativen und thematischen Konventionen“ niederschlagenden „Gattungsdynamik des populärliterarischen Zukunftsromans“ nachgehen. Hierzu benutzen sie als „Analysetool“ ein „Transdifferenzmodell“, wobei sie als Transdifferenz „all das Widerspenstige“ definieren, „das sich gegen die Einordnung in die Polarität binärer Differenzen sperrt“.
Der sich nicht zuletzt mit solch definitorischen Fragen beschäftigenden Einleitung folgen acht Abschnitte, die sich zumeist mit einem bestimmten thematischen Aspekt von Zukunftsromanen des Untersuchungszeitraums befassen. Eröffnet und beschlossen aber wird der Band mit der Untersuchung der Werke jeweils nur eines Autors bzw. einer Autorin. Es sind dies Joseph Delmond, dessen beide Romane Die Stadt unter dem Meer (1925) und der Ritt auf dem Funken (1928), recht ausführlich nacherzählt werden, und Annie Harrar mit ihrem nicht eben unbedeutenden Roman Die Feuerseelen (1920), bei dem es sich um einen „paradigmatischen Text des Genres“ handele, weshalb er sich für eine „synoptische Betrachtung des Genres“ eigne.
Die thematisch orientierten Abschnitte wenden sich etwa unter dem Titel „Ingenieuren, Technikern und Technokraten“ tragenden Figuren einer bestimmten Ausrichtung des Genres zu, die sich „sozialtechnische[n]“ Machbarkeitsphantasien hingab. Dabei kommt der Band zu dem interessanten Befund, dass „technokratisch grundierte Modelle“ in den Zukunftsromanen des Alpenlandes „nicht so dominant auf[traten]“ wie in denjenigen seines nördlichen Nachbars. Als Beispiele einschlägiger österreichischer Werke werden Max Valiers Spiridon Illuxt (1919), Alfred Hells Der Goldsturz (1920) und Alfred Bratts Welt ohne Hunger (1916) herangezogen, in dem ein „Zufall“ die „soziale Zwischenstellung“ der Arbeitslosen und Hungernden „verschärft“, und so „Raum für Transdifferenz [eröffnet]“.
Wird „der Weg zu einer transdifferenten Verschiebung der Klassenverhältnisse“ in Bratts Roman durch den Tod einer Figur „abgebrochen“, so erweist sich der unter dem Titel „Im Wirbel der Identitäten“ firmierende Abschnitt für die transdifferente Fragestellung als besonders vielversprechend. Bei einem der unter diesem Aspekt beleuchteten Romane handelt es sich um Karl Figdors als Abenteuer-Roman ausgewiesenes Werk Die Herrin der Welt (1919), in dem die AutorInnen einen „weiblichen Entwicklungsroman“ ausmachen, der allerdings „wenig[] ambitioniert“ sei. Weit interessanter als diese Männerphantasie ist der von Therese Rie unter dem Pseudonym L. Andro publizierte Roman Das entschwundene Ich (1924). Es seien die „Differenzen“ der „in Anlehnung an“ Hegels Herr-Knecht-Modell geführten „Debatte“, „die die Gradlinigkeit, ja den Ernst unterstreichen, mit der in Therese Ries Roman der Prozess der Identitätsfindung dargestellt wird“. Denn dem „überwiegend auf männlichen Figurenkonstellationen beruhende[n] literarische[n] Herr(!)-Knecht(!)-Thema“ füge Rie „eine vollständig feminierte Variante“ hinzu. Allerdings, so ist anzumerken, bleibt auch bei Rie der Herr ein Herr. Dennoch lässt sich ihr Text durchaus als „triumphalistische[r] weibliche[r] Entwicklungsroman“ seiner beiden Frauenfiguren lesen, wenngleich „der ‚feministische’ Handlungsstrang von anderen Motiven überlagert“ wird.
Ähnlich wie bei Rie wird auch in Josef Pelz’ Dämon Mensch (1940) ein weibliches Bewusstsein durch einen Eingriff sukzessive „vom Denken“ eines Mannes „überlagert“. Zugleich halte „der Text die Waage zwischen den gegensätzlichen Varianten“, in denen Transsexualität in den letzten Jahren vor der Machtergreifung der Nazis verhandelt wurde. Denn trotz der „Dominanz von Svensens Denken“, also dem eines Mannes, „bleiben die weiblichen Körper- und Verhaltensattribute erhalten“.
Oswald Levetts Papilio mariposa (1935) wiederum thematisiert den „transhumane[n] Kategorienwandel vom Menschen zum Tier“ und ist dabei zugleich „Erzählung über einen diskriminierten Juden“.
Ganz im Zeichen des Judentums und des Jüdischseins stehen zwei im Abschnitt „Neue Gesellschaftsmodelle“ erörterte Romane. Bei dem ersten handelt es sich um Hugo Bettauers Roman Stadt ohne Juden (1922), dessen Autor eine „Satire über Österreich in Form einer Wiener Dystopie“ verfasst hat. Sie zeigt den Niedergang Wiens, nachdem alle Juden die Stadt verlassen mussten. Im zweiten Roman, Richard Edons Die letzten Juden (1920), werden Juden und Jüdinnen „ghettoisiert“ und verlieren so den „Bezug […] zum jüdischen Volk oder der jüdischen Religionsgemeinschaft“. Daher kommt es zu einer „Machtübernahme der Frauen“, auf die eine „vollständige Umkehrung der bisherigen Geschlechterverhältnisse“ erfolgt. Edon habe damit eine „transdifferente Situation imaginiert, in der den Frauen der aktive Part zugeschrieben wird“. Die Männer des Romans werden „von ‚Lebeweibchen’ sexuell belästigt oder von einer ‚Hosenjägerin’ vergewaltigt und schließlich zur Prostitution gezwungen“. Mithin also eine im Wesentlichen schlichte Umkehr realer Geschlechterverhältnisse, wie sie etliche Jahrzehnte später Gerd Brandenburg mit ihrem satirischen Roman Egalias døtre (1977, zu deutsch Die Töchter Egalias 1979) noch einmal von feministischer Seite betrieben hat. Edons Roman ist den AutorInnen zufolge „eine gewisse Appellstruktur“ eigen, „die zu einer Bewusstwerdung der Geschlechterverhältnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts und den ihr innewohnenden Macht- und Diskriminierungsdiskursen führt“. Das mag ja sein, aber dass der Roman „Ziele und Ansprüche der Frauenbewegung vor 1918 populärliterarisch auf[]arbeitet“ trifft wohl kaum zu. Zumal die „Frauen jeglicher politischer Couleur“ in Edons Roman nach der Maxime „Hochkommen um jeden Preis!“ handeln und unter ihnen „intrigante Machtspiele dominieren“, die auch vor „Erpressung, sexualisierter Gewalt und Mord“ nicht zurückschrecken. Tatsächlich nehme der Roman einen dezidiert „männliche[n] Blick auf das Geschlechterverhältnis“ ein, „der die Umcodierung des (binär verstandenen) Mann-Frau-Schemas vollzieht“. Daher sei „die politische Aussage des Romans ambivalent“. Dies allerdings nur bei einer sehr wohlwollenden Lesart.
Ebenfalls im Abschnitt „Neue Gesellschafsmodelle“ werden vier Weltraumromane untersucht, von denen einer zuerst als Fortsetzungsroman im Völkischen Beobachter erschien, während Hans Flesch-Brunningen mit dem Roman Baltasar Tipho (1919) die „expressionistische Suche nach dem Neuen Menschen“ zu Papier brachte. Die titelstiftende Figur des auf dem Stern Karina handelnden Romans wird als „Frauenheld“ vorgestellt, „der auf harte Sexpraktiken steht“ und überhaupt der „Inbegriff toxischer Männlichkeit“ ist. Auf dem fremden Planeten verliebt er sich in seine Halbschwester Mara und „wandelt“ sich dadurch „vom machtgierigen Wüstling zum einfühlsamen, sinnlichen und zunehmend zufrieden-ergeizlosen Südseeinsulaner“. Die AutorInnen unterziehen Flesch-Brunningens Roman originellerweise einer „medienästhetischen und filmsoziologischen Lesart“ und kommen zu dem Schluss, dass der Planet Karina „in punkto Gleichstellung […] weiter ist als die republikanischen Gesellschaften in Deutschland und Österreich nach 1918“.
Es folgen Abschnitte über „Szenarien der Zukunftskriege in der Zwischenkriegszeit“, in denen revanchistische Phantasien wie etwa diejenige in Heinrich Inführs Roman ALIS. Die neue deutsche Kolonie. Das Ende von Versailles (1924) behandelt werden, und über Klimakatastrophen, die – sei es durch „Sonnenglut“, sei es durch „Vereisungen“ – alles Leben auf Erden bedrohen.
Ihr Forschungsvorhaben, die Gattungsdynamik der österreichischen Zukunftsromane zwischen den Weltkriegen mithilfe eines Transdifferenzmodells herauszuarbeiten, gelingt den AutorInnen mühelos. Überdies haben sie einen vielfältig anschlussfähigen Forschungsband vorgelegt, der nicht nur einen meist erhellenden Blick auf die österreichischen Zukunftsromane und deren Wandlungen während des Untersuchungszeitraums bietet, sondern auch auf so manches, nicht immer zu Recht vergessene Werk aufmerksam macht. Zu monieren ist allerdings, dass die jüngere Forschungsliteratur zur Behandlung frauenemanzipatorischer Themen und Geschlechterrollen in den untersuchten Werken nur lückenhaft herangezogen wird, was sich insbesondere bei den Ausführungen zu Bertha von Suttners Roman Der Menschheit Hochgedanken, aber auch zu Das Maschinenalter der selben Autorin sowie zu Therese Ries Das entschwundene Ich bemerkbar macht.
|
||