Feministische Wellen aus Lateinamerika

Weibliche Identität als globales und generationenübergreifendes Problem

Von Martina KopfRSS-Newsfeed neuer Artikel von Martina Kopf

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ob Margarete Stokowskis Bestseller Untenrum frei (2016), ihre Kolumnen aus SPIEGEL ONLINE und taz (Die letzten Tage des Patriarchats (2018)), Meg Wolitzers The Female Persuasion (2018) – als das Buch zur #MeToo-Bewegung gepriesen – oder Chimamanda Ngozi Adichies Americanah (2013) und ihr A Feminist Manifesto in Fifteen Suggestions (2017): Neuere feministische Bücher sind facettenreich und demonstrieren eine zunehmende Popularisierung feministischer Diskurse.

Als in den 1990er Jahre eine Art ‚Postfeminismus‘ aufkam, wurden bereits neue Ansätze artikuliert, die sich von einer eurozentrischen bzw. angloamerikanischen feministischen Perspektive distanzierten. Und trotzdem werden im sogenannten ‚westlichen Diskurs‘ feministische Perspektiven und Ansätze aus anderen Regionen nicht nur ignoriert, sondern in Europa und Nordamerika entstandene Konzepte sogar als universal gültig betrachtet, das konstatieren die Autorinnen des im letzten Jahr erschienen Bands Feministische Theorie aus Afrika, Asien und Lateinamerika, der feministische Theoriebildung als weltweite Angelegenheit deklariert und eine hervorragende Einführung in die feministischen Strömungen außerhalb Europas bietet. 

Selbstverständlich handelt es sich nicht nur bei der Theoriebildung um eine weltweite Angelegenheit, sondern ebenso im Fall der feministischen Literatur. Die brasilianische Autorin Carola Saavedra zum Beispiel hat einen dezidiert feministischen Bildungsroman (Com armas sonolentasMit schläfrigen Waffen; 2018) geschrieben und in Hinblick auf weitere Neuerscheinungen brasilianischer Autorinnen wie zum Beispiel Patricia Melos Mulheres empilhadas (2019) oder Natalia Borges Polessos Controle (2019) und nicht zuletzt Karim Aïnouz’ Film A Vida Invisível De Eurídice Gusmão (Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão) ließe sich eine neue brasilianische feministische Welle ausrufen. 

Carola Saavedras neuester Roman, der bisher leider noch nicht ins Deutsche übertragen wurde, verhandelt die Suche nach weiblicher Identität als globales und generationenübergreifendes Problem. Der polyphon konzipierte Text changiert zwischen homodiegetischen (Maike) sowie heterodiegetischen Erzählhaltungen (Anna, Avó) und fokussiert auf drei Frauen und ihre Schicksale, die oft in einem atemlosen Erzählrhythmus präsentiert werden: Nachdem sie einen renommierten deutschen Regisseur an der Copacabana kennengelernt hat, verlässt die junge Schauspielerin Anna Marianni Rio de Janeiro, um in Mainz-Gonsenheim ein neues Leben als erfolgreiche Schauspielerin und Ehefrau zu beginnen. Doch sehr schnell wird aus dem Traum ein Alptraum: Ihr Mann plant seine Projekte ohne sie, mangelnde Sprachkenntnisse und ihre damit verbundene „Sprachlosigkeit“ in Deutschland empfindet sie als Unterdrückung, im provinziellen Mainz versinkt sie in Einsamkeit, Depression und bemerkt schließlich auch noch eine ungewollte Schwangerschaft.

In Berlin rebelliert Maike gegen ein konservatives Elternhaus und beschließt, dem Wunsch ihrer Eltern nicht mehr länger zu folgen: Sie bricht ihr Jura-Studium ab, um Portugiesisch zu lernen und verliebt sich dabei in eine junge Mexikanerin, mit der sie bald eine leidenschaftliche, aber komplizierte Beziehung eingeht. Während eines Treffens mit einem alten, an einer Psychose leidenden Freund in Zürich kommt es zu einem epiphanischen Moment: Maike folgt dem weisen Rat des Freundes, der erkennt: „Du existiert nur dort, wo Du nicht bist“, bricht nach Brasilien auf und erreicht Rio de Janeiro mitten im Karneval, der sie direkt regelrecht aufsaugt.      

Einige Jahrzehnte davor wird an der Copacabana eine ebenso junge Hausangestellte mit indigenen Wurzeln, die ihre Familie im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais verlassen musste, vom Sohn der Familie vergewaltigt. Von den Arbeitgebern zum Schweigen über den Vater des Kindes verdammt, flüchtet sie sich in Begegnungen und Gespräche mit ihrer toten Großmutter – tatsächlich werden Begegnungen mit Verstorbenen in diesem Roman ebenso möglich wie Gespräche mit einem Wasserschwein (capivara), einem Säugetier aus der Familie der Meerschweinchen.  

Was diese drei sehr heterogenen Frauen in ebenso unterschiedlichen Situationen und an verschiedenen Orten also verbindet, ist die Suche nach einem selbstbestimmten Leben und nach (weiblicher) Identität. Schließlich handelt es sich – wie im Untertitel explizit betont wird – um einen Bildungsroman (Um romance de formação). Um dies zu erreichen, müssen sich die Protagonistinnen allerdings erst einmal von ihrem sozialen Umfeld, dessen Erwartungen und oppressiver Gewalt, emanzipieren: Anna entscheidet sich, ihre Tochter nicht zu behalten, ihre Ehe mit dem Regisseur zerbricht, ebenso wie die darauffolgende mit einem gewalttätigen Mann. Als sie schließlich Jahre später nach Brasilien zurückkehrt, ist sie ein gefeierter Theaterstar und präsentiert in einem autobiografischen Stück ihre Geschichte in Rio de Janeiro.

In ihrem Theatermonolog reflektiert Anna über Sex als mechanischen Akt, ungewollte Mutterschaft und die Entscheidung gegen falsche Vorstellungen von Natur zu rebellieren: Wie rechtfertigt man die Entscheidung, sein eigenes Kind wegzugeben? Wie kann man erklären, dass man nicht automatisch Mutter eines Körpers ist, den der eigene Leib hervorgebracht hat? Anna, die die Veränderung ihres eigenen Körpers während der Schwangerschaft kaum wahrnehmen wollte und konnte, erinnert sich an einen einprägsamen Vorfall in ihrer Kindheit, der das tradierte Konzept von biologischer Mutterschaft auf den Kopf zu stellen scheint: Eine Hündin hatte geworfen und plötzlich waren ihre Welpen verschwunden – aufgefressen von der eigenen Mutter. Immer wieder wird in diesem Monolog ein Satz aus Pasolinis Medea wiederholt, um auf diese „Unnatürlichkeit“ der Natur hinzuweisen: „Non c’è niente di naturale nella natura.“

Darüber hinaus offenbart dieser Monolog, der definitiv zu den gelungensten und aufschlussreichsten Passagen des Romans zählt, unerwartete Zusammenhänge und hier macht sich eine äußerst raffinierte Konzeption des Romans bemerkbar: Die zuerst als disparat wahrgenommenen Protagonistinnen scheinen von einem familiären Band zusammengehalten zu werden, die Einzelschicksale erweisen sich als generationenübergreifendes Schicksal, sogar als Familienschicksal von Ur-Großmutter, Großmutter, Mutter und Tochter. Tatsächlich kommt es gegen Ende des Romans zu einer Art Begegnung der Generationen, die zuvor als Einzelkämpferinnen (in einzelnen Erzählsträngen) präsentiert werden. Der Kampf um weibliche Identität gestaltet sich zwar in unterschiedlicher Weise und in verschiedenen Kontexten, zieht sich aber wie ein roter Faden durch die ganze Familie. Komplizierte und fragile Mutter-Tochter-Verhältnisse machen außerdem deutlich, dass es kaum zu einem weiblichen Zusammenhalt zwischen den Vertreterinnen der Generationen kommt, der einer individuellen Emanzipation förderlich wäre. Ganz im Gegenteil scheint Emanzipation vielmehr die Auflösung dieses Mutter-Tochter-Verhältnisses vorauszusetzen, denn zugespitzt formuliert bedeutet Emanzipation in diesem Roman nicht nur die Befreiung von der eigenen Tochter, sondern auch die Loslösung von der eigenen Mutter.

Während Anna sich also eine selbstbestimmte Identität mühsam erkämpft und Maike, indem sie sich von ihrem deutschen Elternhaus sowohl räumlich als auch emotional distanziert und in ein weiteres homoerotisches Abenteuer stürzt, ihren Selbstentwurf durch den Brasilien-Aufenthalt festigt, scheint die namenlose indigene Hausangestellte an der Copacabana gegenüber der diskriminierenden, oppressiven und nicht zuletzt rassistischen Haltung ihrer Arbeitgeber machtlos zu sein. Auch wenn ihr eine Emanzipation aufgrund der Machtkonstellation verwehrt wird, zeigt sie stellenweise ein subversives Verhalten, das sich allerdings auf Lektüre beschränkt. Immer wieder flüchtetet sie sich in die Begegnungen mit der verstorbenen Großmutter, die Auszüge aus (Sor) Juana Inés de La Cruz’ Brief Respuesta a sor Filotea liest. Die im 17. Jahrhundert lebende mexikanische Nonne und Dichterin nutzte die Zugehörigkeit zu einem Orden, um intellektuelle Tätigkeiten ausüben zu können und ist eine der frühesten lateinamerikanischen Vertreterinnen feministischer Theologie. In Respuesta a sor Filotea verteidigt de la Cruz ihr Recht, sich mit weltlicher Literatur und Wissenschaft zu beschäftigen. Auch wenn sich der namenlosen indigenen Hausangestellten kaum Möglichkeiten zu aktiver Emanzipation bieten, so bleibt ihr wenigstens die Lektüre eines einschlägigen feministischen Texts, der immerhin auf eine bis ins 17. Jahrhundert zurückreichende feministische lateinamerikanische Tradition verweist.  

Spätestens hier stellt sich die Frage nach einem feministischen Ansatz, der in einem europäisch-westlichen Kontext kaum zu leisten ist, nämlich eines lateinamerikanischen Feminismus, der sich in die Tradition eines pensamiento americano reiht und somit die Befreiung von Abhängigkeiten und ein dekolonisierendes Denken propagiert. Der Band Feministische Theorie aus Afrika, Asien und Lateinamerika präsentiert eine ganze Reihe prominenter Feministinnen – vom anti-rassistischen Feminismus schwarzer Frauen (Ochy Curiel, Sueli Carneiro) über indigene-andine Kosmovision (Domitila Barrios de Chungara, Hilaria Supa Huamán) zu einem dekolonialen Feminismus wie er zum Beispiel von der argentinischen Komparatistin María Lugones oder der argentinischen Anthropologin Rita Segato vertreten wird. Der dekoloniale Feminismus versteht sich einerseits als Bereicherung des Dekolonialismus um eine feministische Perspektive und betont den Zusammenhang von Gender und „race“ – Rita Segato betont beispielsweise die Kategorie „raza“ als zentralen Aspekt in lateinamerikanischen theoretischen Auseinandersetzungen. Andererseits impliziert ein dekolonialer Feminismus auch die Dekolonialisierung eines ‚weißen‘, hegemonialen Feminismus. Hier besteht also die Herausforderung für eine europäische feministische Perspektive, diese Ansätze aus Lateinamerika, aber ebenso aus Afrika und Asien mitzudenken und die eigene Perspektive zu erweitern.

In der Belletristik scheint dieser Brückenschlag bereits gelungen zu sein: In Carola Saavedras Com armas sonolentas – der Titel verweist übrigens ebenfalls auf das Gedicht Primero Sueño von Juana Inés de La Cruz – zeigt sich Feminismus nicht als europäische oder lateinamerikanische und auch nicht als individuelle Angelegenheit, sondern als Kontinente, Kulturen und Generationen verbindende Bewegung. Egal, ob in Berlin, Mexiko, an der Copacabana oder in Mainz-Gonsenheim: Überall sind Frauen auf der Suche nach selbstbestimmter weiblicher Identität, reflektieren über Karriere, Körper, Beziehung und Mutterschaft und müssen sich gegenüber – oft unterschwelligen – Machtkonstellationen behaupten. Diese dezidiert globale Perspektive macht Carola Saavedras feministischen Roman einzigartig. Ein Grund mehr, den Blick auf neuere feministische Literatur aus Lateinamerika, aber auch aus Afrika und Asien zu werfen.

Anmerkung der Redaktion: Unsere Autorin Martina Kopf ist nicht identisch mit der Mitherausgeberin des hier besprochenen Bandes, die den gleichen Namen trägt.

Titelbild

Magdalena Andrea Kraus / Anke Graneß / Martina Kopf: Feministische Theorie aus Afrika, Asien und Lateinamerika. Eine Einführung.
UTB für Wissenschaft, Stuttgart 2019.
323 Seiten, 25,99 EUR.
ISBN-13: 9783825251376

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Carola Saavedra: Com armas sonolentas.
Companhia das Letras, Sao Paulo 2018.
272 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9788535931228

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