Kompositionskunst

In seinem neuesten Roman „Für die Ewigkeit“ lässt Helmut Krausser das Südamerika des frühen 20. Jahrhunderts aufleben

Von Sascha SeilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sascha Seiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Helmut Krausser ist ein Schriftsteller, der sich schon vieler äußerst heterogener Stoffe angenommen hat. Mit seinem wohl am meisten unterschätzten, aber fabelhaften Roman Die kleinen Gärten des Maestro Puccini bewies er 2008, wie detailverliebt er sich in einen historischen Stoff hineinarbeiten konnte. Ganz zu schweigen natürlich von seinem nicht minder meisterhaften frühen Roman Melodien, in dem das Historische jedoch in eine kriminalistisch anmutende Gegenwartshandlung eingebunden ist. Zuletzt traf man die Figuren Kraussers immer wieder in der deutschen Hauptstadt an, oder gar in einer dystopischen Zukunft. Dass sich der Autor also ein weiteres Mal einem historischen Stoff widmet, ist eine willkommene Abwechslung.

Ungute Vorahnungen kommen eher beim Lesen des Klappentextes auf, der eine rasante Verfolgungsjagd mit spektakulärem Ende im historischen Panorama verspricht. Und doch ist ein Plot, der im Südamerika des frühen 20. Jahrhunderts spielt, äußerst reizvoll, und man fragt sich zurecht, warum nicht mehr deutsche Autor*innen sich daran heranwagen, spielen doch gerade auch deutsche Auswanderer nach Argentinien, wo die Handlung beginnt, eine nicht unbedeutende – in späteren Jahren auch unrühmliche – Rolle in der Geschichte des Landes. In jedem Fall sind derart transatlantische Brückenschläge nicht nur von historischem Interesse, sie beherbergen, wie Für die Ewigkeit eindrucksvoll unter Beweis stellt, auch spannende Geschichten.

Nachdem er aus Montevideo fliehen musste – ein dubioses Duell mit einem uruguayischen Minister spielt hierbei eine entscheidende Rolle –, landet der deutsche Pianist Jörg Jäger, der sich zum besseren Verständnis nur Jorge Jega nennt, auf eine Anzeige hin in der prunkvollen Villa des steinreichen Unternehmers Don Alameda in Buenos Aires, um dessen 17-jähriger Tochter Klavierunterricht zu erteilen. Der Deutsche, der in einer Obdachlosenunterkunft haust, ist dringend auf die Stelle angewiesen, umso erfreuter ist er also, dass die junge Frau Gefallen an dem etwas trägen Virtuosen findet.

Doch dieses Gefallen weitet sich schnell auf körperliche Gelüste aus, was Jega einerseits ob seiner Stellung ängstlich werden lässt, andererseits aufgrund der Schönheit von Francisca Alameda, genannt Cis, auch gerne und immer unverhohlener zulässt. Irgendwann sieht sich die junge, bisher in Liebesdingen unerfahrene Frau von Leidenschaft übermannt und setzt dem Pianisten die Pistole auf die Brust: Eine pathetisch inszenierte Flucht müsse her, denn nur so hätte die große Liebe eine Chance, zumal ein eifersüchtiger Cousin, der die junge Frau gerne für sich selbst hätte, die uruguayische Vergangenheit des Flüchtenden offenzulegen droht.

Es beginnt der anfangs beschriebene rasante Teil der Geschichte, und tatsächlich bekommt man beim Lesen zunächst das Gefühl, Krausser würde sich den billigen Reizen einer, wenn auch mit historischer Präzision beschriebenen, klischeebeladenen Bonnie & Clyde-Variante hingeben. Der Weg führt zunächst ins (detailgenau beschriebene) argentinische Urlaubsparadies Mar del Plata, dann auf einen schäbigen Dampfer und schließlich in eine noch schäbigere Pension in Rio de Janeiro. Doch wer das Buch nun enttäuscht beiseite wirft, ist selbst schuld, denn geschickt unterwandert der Autor eine Erwartungshaltung nach der anderen.

Das Finale ist, wie versprochen, spektakulär, aber aus anderen Gründen als die möglicherweise anfangs vermuteten. Vielmehr gelingt es Helmut Krausser mit viel sprachlichem Geschick, ein zeitloses Porträt von Leidenschaft und Künstlertum (und natürlich der Verbindung von beidem) zu zeichnen, um so wieder bei seinem Lebensthema anzugelangen. Die in der Literatur immer ein wenig ungelenk wirkende Multiperspektivität verfolgt hier einen tieferen Sinn, der mehr in der musikalischen Komposition verwurzelt zu sein scheint als in der literarischen. Besonders die zunehmende Schwierigkeit, sich mit den verschiedenen Protagonist*innen zu identifizieren, erhöht den Reiz der Geschichte.

Jedoch ist damit schon ein wenig zu viel verraten. Kurz vor Schluss schreibt Jega, dem es im Laufe des Romans immer schwerer zu fallen scheint, eine Stimme zu finden, eine Oper über sein Schicksal, deren ‚einzig überlieferte Arie‘ übrigens im Internet angehört werden kann. Hochgeladen von einem gewissen Bagarozy. Und wieder einmal schließt sich ein Kreis.

Titelbild

Helmut Krausser: Für die Ewigkeit.
Berlin Verlag, Berlin 2020.
192 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783827012043

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