Menschlich, allzu menschlich

Mit seinem Romanprojekt „Menschliche Regungen“ bezieht Tim Krohn seine Leser in den Schreibprozess mit ein

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

1978 veröffentlichte Georges Perec den Roman Das Leben. Gebrauchsanweisung. Wie ein literarischer Schachspieler beschrieb er darin das Innenleben des Hauses an der Rue Simon-Crubellier 11. In 99 Zimmern respektive Kapiteln fächert Perec einen Kosmos des Lebens auf, indem er dem Extraordinären jene unscheinbaren Ereignisse vorzieht, die er einmal als „infra-ordinaire“ bezeichnet hat: „Das, was jeden Tag geschieht und jeden Tag wiederkehrt, das Banale, das Alltägliche, das Selbstverständliche“.

Dieses erzählerische Muster hat stilbildend über die OULIPO-Bewegung hinaus gewirkt und in der gegenwärtigen Literatur seinen Niederschlag gefunden. Alaa al-Aswani (Der Jakubijan-Bau) oder Elif Shafak (Der Bonbonpalast) lokalisieren das Welttheater in einem Mehrfamilienhaus. In Ein langes Jahr (2016) hat Eva Schmidt auf vergleichbare Weise ein Kleinstadtquartier in Augenschein genommen, und Juliana Kálnay hält in Eine kurze Chronik des allmählichen Verschwindens (2017) die wundersamen Ereignisse im „Haus Nr. 29“ fest.

In diese Tradition schreibt sich Tim Krohn mit seinem Projekt Menschliche Regungen ein, indem er im Rahmen eines Wohnhauses einen umfassenden Katalog an Gefühlen und Befindlichkeiten erzählerisch abarbeitet. Wie Perec unterzieht sich auch Krohn einer Regel – in Form eines Rechts auf Mitbestimmung für seine Leser und Leserinnen. 2015 stellte er auf der Crowdfunding-Plattform wemakeit eine Liste mit ursprünglich 777 „menschlichen Regungen“ von Aalglätte bis Zynismus zusammen und bot sie Interessierten für einen Betrag zwischen 250 und 5000 Franken zur „Subskription“ an. Als Gegenleistung versprach er eine persönlich gewidmete Kurzgeschichte sowie je nach Beitragshöhe eine Lesung oder gar einen Schreib-Workshop in seinem Haus im Val Müstair. Um die Aufgabe für sich zusätzlich zu verschärfen, durften die „Subskribenten“ oder „Sponsoren“ auch bis zu drei Stichworte oder Zahlen nennen, die in der fraglichen Geschichte Erwähnung finden würden. Ein gutes Geschäft für beide Seiten. Die Leserinnen und Leser erhalten persönlichen Kontakt mit ihrem Autor, der wiederum mit deren Hilfe nicht nur freie Zeit zum Schreiben, sondern auch eine Lebensgrundlage für seine Familie gewinnt.

„Da ich sicher ein Jahr lang an den 111 Geschichten arbeiten werde und eine Familie zu ernähren habe, sind wir natürlich froh, wenn mehr zusammenkommt“, schrieb Krohn auf der Crowdfundingplattform. Die Hoffnung erfüllte sich erstaunlich schnell. In zwei Staffeln haben mehr als 250 Begriffe einen persönlichen Sponsor gefunden. Sie füllen gesamthaft vier stattliche Bände, wovon zwei bereits vorliegen. Der dritte Band wird demnächst erscheinen und der vierte sei „bereits voll“, heißt es auf der Webseite www.menschliche-regungen.ch. 

Krohn folgt den Spuren Perecs auf eine zeitgemäße Weise, indem die persönlichen Lebensumstände die Spielanlage mitprägen. Es fragt sich natürlich, wie weit diese Idee auch literarisch trägt. Gleich anfangs hat er bekundet, dass er mehr als eine Reihe von unverbundenen Geschichten im Sinn habe. Die gesammelten Erzählungen sollten „nicht nur für sich stehen, sondern sich zusätzlich zu einem Ganzen verweben, einem etwa 2.000 Seiten starken Roman, der die gesamte Gefühlslage unserer Zivilisation spiegelt“. Das klingt ebenso interessant wie ambitioniert: eine Literatur auf Abruf und zugleich ein Opus magnum in progress. Die ersten drei Bände veranschaulichen die Belastbarkeit des Konzepts.

Es zeigt sich schnell, dass Krohn, in Anbetracht der auferlegten Regeln und Beschränkungen, ein ausgesprochen gewiefter, einfallsreicher Erzähler ist. Im ersten Band mit dem Titel Herr Brechbühl sucht eine Katze handelt er 65 menschliche Regungen ab, chronologisch von Heiterkeit bis Glück, und in alphabetischer Reihenfolge von „Aalglätte“ bis „Zynismus“ –  wobei das literarische Projekt dabei weder zynisch noch aalglatt anmutet.

Herr Brechbühl wohnt zuunterst im Haus an der Zürcher Röntgenstraße 93. Bedrängt von der vierjährigen Mona im dritten Stock wird er sich schließlich doch eine Katze zulegen. Monas alleinerziehende Mutter Julia arbeitet in einem Kinderbuchverlag, wo sie mehr und mehr auf Widerstand stößt, weil sie wegen des Kindes immer wieder mal zu Hause bleibt. Über ihr wohnt die Schauspielerin Selina, die Arbeit sucht und auf einmal zwei Angebote vorliegen hat. Sie entscheidet sich für eine freie Theaterproduktion, die, wie zu erraten ist, ein Stück von Tim Krohn erarbeitet. Den barschen Impresario Mallay lässt sie vorerst abblitzen, obwohl sein Angebot allzu verlockend ist. Mallay bringt immerhin etwas Farbe in die Röntgenstraße, wo sich das Zusammenleben meist einvernehmlich gestaltet. Daran ändert auch die Waschküche wenig, die Hugo Loetscher schon vor Jahrzehnten als typisch schweizerischen Konfliktherd in die Literatur eingeführt hat.

Im Unterschied zu Perec fächert Krohn seine Geschichten nicht ins Unendliche auf. Er beschränkt sich auf elf Protagonisten, die sich gegenseitig in Liebes- und Streithändel verstricken. Sie tragen keine weltbewegenden Affären aus, vielmehr geht es sehr „infra-ordinaire“ und allzumenschlich, zuweilen aber auch fast allzu friedlich zwischen ihnen zu. „Solidarität“ ist keine der Geschichten überschrieben, doch thront sie wie ein Oberbegriff über dem ganzen Band. Daran vermag auch der betagte Erich nichts zu ändern, der nach einem Treppensturz immer öfter gehässig reagiert.

Indem die elf Protagonisten immer wieder aus neuen Blickwinkeln erzählt werden, erhalten sie über die 65 Kapitel hinweg zunehmend Kontur. Am Ende der einzelnen Kapitel gelingt es Krohn oft, raffinierte Cliffhanger zu erzeugen, die zwar einen Endpunkt markieren, zugleich aber kleine Widerhaken setzen, die die Spannung erhalten und die Lektüre vorantreiben. Wenn im ersten Band zeitweise der Eindruck einer starken erotischen Aufladung erweckt wird, so tragen die „Sponsoren“ daran Mitschuld. Menschliche Regungen wie Androgynie, Asexualität, Eros, Leidenschaft, Liebe, Monogamie oder Wollust sind gewissermaßen „wie warme Semmeln“ weggegangen. Einfallsreich und locker bringt der Autor sie alle unter dem Dach dieses einen Hauses unter und verknüpft sie mit mal offenkundigen, mal heimlichen Liaisons. Diese frivole Leichtigkeit bleibt im folgenden Band erhalten.

Allerdings fordert die Regel, dass jede der Erzählungen in sich stimmig sein muss, ihren Tribut. Unter dem Zwang, effizient auf den Punkt zu kommen, werden längere Schilderungen und vertiefende Erörterungen unmöglich. Der Erzählfluss erhält etwas aufgeregt Kurzatmiges, und zwischen den Geschichten bleibt stets eine kleine Zäsur stehen, die das Buch in seiner Gesamtheit eher als fragmentiertes Puzzle denn als episch ausgerolltes Panorama erscheinen lassen. Der Band bewahrt eine lose und meist fröhliche Offenheit. Das Motto, das Perec bei Jules Verne für sein Buch entlehnte: „Schau mit beiden Augen, schau“, findet in einer Geschichte eine witzige Entsprechung. Als Selina ideenlos über dem „kunstsinnigen“ Thema Chiaroscuro brütet, rät ihr ein Penner: „Wenn man nichts erwartet, sieht man alles. Dann ist stets das ganze Spektrum da, von chiarissimo bis oscurissimo.“ Leitmotivisch klingt diese Sicht der Dinge quer durch den ersten Band an, in dem Hubert Brechbühl eine Katze sucht und dabei eine geheimnisvolle Frau namens Edith-Samyra findet.

Im zweiten Band Erich Wyss übt den freien Fall taucht eingangs eine neue Figur auf: der Hausverwalter Paul Lutz, der aber schnell wieder verschwindet und die bereits vertrauten Hausbewohner nicht weiter belästigt. Krohn unterzieht sein zahlenmässig schmales Personal unzähligen neuen Befindlichkeiten, nicht zuletzt um ihren Gemeinsinn zu stärken. Speziell Erich Wyss trifft es in dem heißen Sommer hart. Seine Frau Gerda stirbt nach 50-jähriger Ehe, obendrein muss er sich seines zudringlichen Sohnes erwehren. Doch all das wird unvermittelt von den Terrorattacken am 9/11 überlagert, der die Menschen im Haus nachdenklich stimmt. Lässt sich, sinniert Selina, überhaupt noch Theater machen angesichts dieses Ereignisses? Der Schock legt sich jedoch wieder und macht den alltäglichen Sorgen Platz. Vieles scheint in jenem Herbst ins Trudeln zu geraten –  doch mit dem erwarteten dritten Band Julia Sommer sät aus kommen auch das neue Jahr und der nächste Frühling, in dem Julia Sommer ihren grünen Daumen entdeckt. Die Gründung eines Gartens im Hof der Siedlung geht gleichwohl nicht ohne Reibereien vonstatten, dafür sorgt Erich Wyss. Während sich Selina wieder mit ihrer Familie versöhnt, steuern Pit, Petzi und Hubert mit einer Performance auf einen veritablen Theaterskandal zu. Mit Abschluss der drei Bände werden die menschlichen Regungen von Nr. 1 (Heiterkeit) bis Nr. 196 (Glaube) abgearbeitet sein.

Ein Vergleich zwischen Krohn und Perec sollte nicht überstrapaziert werden. Perec stellte sich selbst vor ein Rätsel, das er unter dem anmutig frechen Titel Das Leben. Eine Gebrauchsanweisung virtuos wie ein Schachproblem zu lösen versuchte. In diesem Sinn notierte er: „die Abfolge der Kapitel durfte nicht dem Zufall überlassen werden“, deshalb bändigte er den Zufall mit mathematischer Präzision. Krohn dagegen lässt den Zufall getrost zu, indem er die Leser und Leserinnen an seiner Dramaturgie mit beteiligt. Weil er so die auktoriale Autonomie zumindest teilweise preisgibt, ist sein Projekt speziell aus produktionsästhetischer Perspektive bemerkenswert und reizvoll.

Der Idee der Leser-Partizipation liegt nicht nur der literarische Spieltrieb, sondern auch die ökonomische Sorge eines freien Schriftstellers zugrunde. Die Erlöse aus dem Buchverkauf sind meist unzureichend, Lesungen und Performances lohnen sich zwar finanziell, stören aber oft den konzentrierten Schaffensprozess. Krohn ist indes kein Autor, der sich bloß beklagen will. Anstatt sich blindlings in Abhängigkeiten zu begeben, macht er sich lieber selbst zum „Unternehmer“. Das ist als Idee innovativ und spannend, andererseits mit diversen literarischen Gefahren behaftet. Es wäre jedoch unfair, dem Autor einzig die Beschränkung vorzuwerfen, ohne zugleich die spielerische Leichtigkeit (im Sinn der Oulipo-Avantgarde) hervorzuheben, mit der er zu glänzen weiß.

Innerhalb des Literaturbetriebs erntet Krohn mit seinem Esprit als „Unternehmer“ eher Skepsis als Bewunderung. Ein Projekt in diesem Sinn und Geist stellte übrigens schon 2015 der schmale Erzählband Nachts in Vals dar. In neun Liebesvariationen umspielt Krohn darin die titelgebende Konstellation: eine Nacht in der bekannten Therme von Vals. Die mal beschwingt leichten, mal melancholisch angehauchten Geschichten hat er als Zimmerlesungen im „Hotel Therme“ angeboten. Krohn ist ein Autor, der sich nicht vor seinen Lesern und Leserinnen scheut.

Titelbild

Tim Krohn: Herr Brechbühl sucht eine Katze. Roman.
Menschliche Regungen, Band 1.
Galiani Verlag, Berlin 2017.
473 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711478

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Tim Krohn: Erich Wyss übt den freien Fall. ‚Menschliche Regungen‘ Band 2.
Galiani Verlag, Berlin 2017.
494 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711515

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Titelbild

Tim Krohn: Julia Sommer sät aus. Menschliche Regungen, Band 3.
Galiani Verlag, Berlin 2018.
440 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783869711713

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Titelbild

Tim Krohn: Nachts in Vals. Roman.
Galiani Verlag, Köln 2015.
152 Seiten, 16,99 EUR.
ISBN-13: 9783869711164

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