Engadiner Lokalkolorit märchenhaft und kriminell

In „Der See der Seelen“ erzählt Tim Krohn eine Alpensage für Jung und Alt und erlaubt sich den Spaß, auch in seinem Krimi „Endstation Engadin“ darauf zu verweisen

Von Beat MazenauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Beat Mazenauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit Der See der Seelen nimmt Tim Krohn den magischen Strang seiner früheren Bücher Quatemberkinder und Vrenelis Gärtli wieder auf. Die Handlung spielt in der sagenumwobenen Gegend des Engadins, wo die Natur der Alpen jenen Menschen, die dafür prädestiniert sind, eine „innerweltliche“, paradiesisch anmutende Sphäre öffnet. Wer Zugang zu dieser Sphäre erhält, kann zwischen Menschen- und Tiergestalt wechseln, und im See der Seelen gewinnt er ein neues Leben nach dem Tod.

Niculina und Ladina sind Freundinnen, mit ihren Ziegen teilen sie sich die Alp. Manchmal ist auch Peider da, eine liebenswerte Plaudertasche. Niculina ist ein Wildfang und knurrt gerne wie ein Wolf – bis ihr tatsächlich ein solcher auf der Alp erscheint. Ihre Familie ist arm, so dass ihr selbst für Schuhe das Geld fehlt, ganz zu schweigen von der Medizin für die kranke Nonna. Doch diese will sterben, bloß droht mit ihrem Tod ihr verschuldetes Haus an Spekulanten zu fallen, die es für die Zufahrt zu einem Steinbruch abbrechen möchten. Niculina sorgt sich um die Nonna. Als sie von Peider erfährt, dass es angeblich ein Wasser gebe, das zu ewigem Leben verhelfe, will sie dessen Quelle finden. Eines Nachts sieht sie tatsächlich abermals einen Wolf und folgt ihm ins Dunkel. Dabei gerät sie in eine verborgene Höhle, und mit einem Mal bricht ihre wölfische Natur durch. Niculina erhält Einlass in die magische „Innerwelt“. Bleiben möchte sie dort aber nicht, sie will zurück zu ihrer Familie und den Verkauf des Hauses verhindern. Tatsächlich wird am Schluss das drohende Unheil mit vereinten Kräften abgewehrt.

Die kurze Zusammenfassung lässt erahnen, dass Tim Krohn mit Der See der Seelen eine Geschichte geschrieben hat, die eine wunderbare Welt zum Fantasieren bereit hält. Eine Ziege kann sprechen, Wölfe verwandeln sich in Menschen und der Himmel ist ein See in der „Innerwelt“, wo die guten Menschen ein Zuhause finden. Damit erinnert Tim Krohn an seine beiden fantastischen Romane Quatemberkinder  und Vrenelis Gärtli, in denen er für das nicht auflösbare Zusammenspiel von Magie und Realität, Mythos und Moderne, eine ganz eigenständige Sprache gefunden hat, die den Konflikt in sich selbst austrägt: zwischen einem urwüchsigen Dialekt und der gepflegten Hochsprache. In dieser Hinsicht gibt sich „Der See der Seelen“ viel zurückhaltender. Tim Krohn erzählt eher märchenhaft und verleiht seiner Sage ein versöhnliches Ende ohne den im Zauber innewohnenden Schrecken.

Il lai da las ormas, der See der Seelen spielt übrigens auch im Kriminalroman Endstation Engadin eine Rolle. Verfasst hat ihn ein gewisser Gian Maria Calonder, hinter dem sich Tim Krohn verbirgt. Vor einem Jahr hat er seinen Helden Massimo Capaul einen ersten Fall lösen lassen. Weil nicht alles lief, wie es sollte, ist er bereits wieder beurlaubt. Doch einem echten Fahnder passieren die Fälle, er braucht sie gar nicht zu suchen. Ein aufgehaltener Zug, ein toter österreichischer Mineur im Eisenbahntunnel, vielleicht ein Selbstmörder, dann noch einer, der zu Tode kommt: das reizt seine Instinkte. Drängen lässt er sich allerdings nicht. Zum einen steht er außer Dienst, zum anderen muss er auch noch eine Übernachtungsgelegenheit finden, und obendrein zieht es ihn immer wieder zu einer geheimnisvollen Märchen-Erzählerin, die in einem Bauwagen in der Val Bever wohnt. Hier findet Capaul ein Büchlein mit dem Titel Il lai da las ormas, das jene ihm aber sachte wieder aus den Händen nimmt. Am Ende aber hat alles miteinander zu tun, wie Capaul herausfindet.

Tim Krohn, der das Engadin bestens kennt, spielt mit dem reizvollen Lokalkolorit: der imposanten Gebirgskulisse, dem darin eingebetteten Hochtal, Nietzsche und natürlich mit der Rhätischen Bahn und ihren „144 Brücken, 42 Tunneln, UNESCO-Weltkulturerbe“. So gelingt ihm ein stimmiger, mit Vergnügen lesbarer Kriminalroman, der nicht auf reißerische Spannung abzielt, sondern seinen Figuren viel Zeit lässt in ihrem täglichen Tun.

Titelbild

Tim Krohn: Der See der Seelen. Alpensage.
Kampa Verlag, Zürich 2019.
86 Seiten, 16,00 EUR.
ISBN-13: 9783311210092

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch

Titelbild

Gian Maria Calonder: Endstation Engadin. Ein Mord für Massimo Capaul.
Kampa Verlag, Zürich 2019.
204 Seiten, 14,90 EUR.
ISBN-13: 9783311120094

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