Drei Männer, jeder 36 Jahre alt

Judith Kuckarts neuer Roman erzählt vom Erinnern und von der Liebe

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sie waren beide fast vierzig. Niemand hatte ihnen gesagt, dass die zweite Hälfte des Lebens so viel schwerer sein würde als die erste.“ Die Erzählerin ist promovierte Gehirnforscherin, aber in ihrem Beruf ist sie gescheitert: Sie hat Angst vor Patienten. Jetzt ist sie wissenschaftliche Schreibkraft im Institut, eine bessere Sekretärin, und mit einem Mann zusammen, dessen Karriere als Dramaturg auch nach unten geht: Am Ende ist er Putzmann.

In ihrem Privatleben dreht sie ebenfalls Schleifen, die zu keinem guten Ende führen, wohl auch, weil sie viel theoretisches Wissen hat, aber daraus keinen praktischen Nutzen ziehen kann. Im Gegenteil: Sie denkt so viel, dass sie gar nicht mehr dazu kommt, zu empfinden. Und die Männer? Die sind immer 36 Jahre alt, wenn sie sich in sie verliebt: Als sie 18 ist, kommt der Alt-Linke Viktor, als sie 36 ist, beginnt sie eine Beziehung mit dem gleichaltrigen Johann, und mit 54 sitzt sie am Flughafen Tegel und begegnet dem 36-jährigen Robert Sturm, der für eine Woche nach Sibirien fliegt, er ist Ingenieur. Am Ende der Woche wird sie wieder in Tegel auf ihn warten.

„Wir sind, was wir vergessen haben.“ Dieser Satz ihres Professors steht am Anfang von Judith Kuckarts Roman Kein Sturm, nur Wetter, der um die Erinnerung kreist, um Kindheit und Jugend und um gescheiterte Beziehungen. Da die Erzählerin Neurobiologin ist, geht es auch um die Frage, wo die Erinnerung sitzt: im Körper? Im Hirn? Aber selbst wenn sie es herausfände, würde es ihr nichts nützen: In sich verschlossen bleibt sie eine einsame Beobachterin. Selbst die Liebschaft mit Robert findet nur im Kopf statt, in ihrer Fantasie.

In drei Erzählungen, die sich immer wieder verschränken, sich in Strängen und Gedankengängen verlieren, widersprechen und ergänzen, fragt sie immer wieder bohrend nach. Nach den Personen, die die Erzählerin ist oder war. Sie erzählt sich ihre eigene Biografie immer wieder neu. Immer wieder springt die Erzählerin abrupt durch die Zeitebenen, hinterfragt ihre Erinnerungen und die Scheinwahrheiten, analysiert sich, bis auch die letzte Gewissheit vorbei ist. Der Text ist von einer tiefen Melancholie und Düsterheit, durchzogen, wie so oft bei Kuckart.

Kein Sturm, nur Wetter ist sehr vielschichtig, oft selbstreferentiell und von einer Sprache, die zwischen Poesie und Überfrachtung schwankt, zwischen eindrücklichen Sprachbildern und manchmal etwas überkonstruierter Verschachtelung: „Du bist, als hättest du die ganze Zeit einen Regenmantel an“, bemerkt die Erzählerin einmal, und einer ihrer Männer ist ein „ratloser Bauer, der nicht wusste, was ihm auf dem Schachbrett in der Nähe der Königin alles passieren mochte.“

Titelbild

Judith Kuckart: Kein Sturm, nur Wetter. Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2019.
219 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783832183868

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