Als Einkaufswagen und Mikrofone desinfiziert wurden
Der Dichter Björn Kuhligk sendet in „An einem Morgen im März“ Botschaften aus einer verlorenen Zeit wie von einem fernen Planeten
Von Nora Eckert
In dem Langgedicht ist die Rede von einem Buchhändler, der sagt, „die Corona-Romane, die bald / kämen, die wolle er nicht lesen“. Dem Buchhändler kann ich gut nachfühlen, ohne zu wissen, warum er sie nicht lesen will. Über den oder die Gründe verrät der Dichter nämlich nichts. Ich zumindest würde sie nicht lesen wollen, weil sie in mir die Erinnerung sowohl an eine sinnlos verlorene Zeit wecken würden wie auch an eine demütigende Hilflosigkeit, wie ich sie mir nie hätte vorstellen können und sie nie erlebt haben wollte.
Kuhligks Langgedicht, das in den Märztagen 2020 mit jenem aus purer Panik geborenen und wahrhaft gespenstischen Lockdown beginnt, lehrt indes, dass hier einer sehr wohl in der Lage ist, in der Sprachlosigkeit doch noch das Sagbare aufzuspüren, für den Ausnahmezustand in seiner ganzen Absurdität Worte zu finden, die nicht erklären, sondern lediglich registrieren und dadurch noch an Gewicht gewinnen. Sinnsuche wäre hier völlig verfehlt. Kurzum: Wie Kuhligk über die Zeit der Pandemie und ihre panische Leere schreibt, beschert eine Phänomenologie der Seltsamkeiten, des Irrsinns, der unglaublichen wie beschämenden Gleichzeitigkeit von Trauer und absoluter Gleichgültigkeit, als hätten wir alle schlagartig den Kompass für unsere Menschlichkeit verloren:
[…] als die Kranken, als die Toten
für die Lebenden eine Zumutung waren
als ich dachte, ich hatte nicht vorgehabt
jemals das Wort Reproduktionszahl
in einem Gedicht zu verwenden
An anderer Stelle:
Die Zählung der Toten, der Infizierten
der Intensivbetten, die Virologen korrigierten sich
die Regierung korrigierte sich, die Aussetzung von Grundrechten […]
Niemand besucht mehr die Alten, die Touristen werden aus den Urlaubsorten evakuiert. Es ist die Zeit „als es nur noch Familien gab / das sogenannte Draußen geschlossen hatte“. Der französische Präsident Macron spricht vom Krieg, als ob Viren Kriegserklärungen abgeben würden. Der Hotel-Portier dagegen sagt: „Bleiben sie negativ“. Und die 87Jährige im Altenheim meint: „An irgendetwas muss man sterben“.
Ein Freund des Dichters: „zum Abschied sagte er Wir können uns kurz / umarmen und dabei die Luft anhalten“. Das ist auch die Zeit, „als Sätze begannen Es gibt eine Studie“ und in der eine Lesung so aussah: „Ich sprach in einer öffentlichen Bibliothek / hinter einer Plexiglasscheibe vor zehn Stühlen / in ein desinfiziertes Mikrofon […]“. Und über den Begriff „Risikogebiet“ heißt es: „als könnte die Sprache alles zusammentackern / was der Wirklichkeit bis dahin fremd“, weil die Sprache und der Staat alles können, was sie wollen – zumindest damals.
Das Gedicht als etwas Artistisches, vermischt mit einer kaum überbietbaren Nüchternheit, holt jene Zeit, die in ihrer neu eingeübten Routine des Abstandhaltens und des Rückzugs ins Private spurlos verschwand, in ihre Lesbarkeit zurück. Dabei hält uns die Ästhetik gleichermaßen auf Abstand und führt uns andererseits ganz nahe an die Wirklichkeit und an all das Asynchrone heran, um auch den falschen Ton darin hörbar zu machen, der damals die Macht übernommen hatte. Es ist also das Was und das Wie in Kuhligks buchstäblich erdichtetem und verdichtetem Rückblick. So etwa auch in einer Alltagsbeobachtung wie dieser:
Die Flaschensammler verdienten nichts
die Junkies verdienten nichts
die Dealer verdienten nichts
der U-Bahnhof Schönleinstraße
war still wie ein Blütenkelch
Das Nicht-Verstehbare wird auf einmal wie schlaglichtartig begriffen. Wie leicht und wie nebenbei der ganze Ernst in den Gedanken Kuhligks daherkommt! Die Sprache ist einfach, hier und da zitierend und konzentriert dort, wo sie metaphorisch wird. Manches bleischwer und im erzählerischen Duktus dann doch schwerelos dahingleitend. In solchen Paradoxien entfaltet sich die ganze sprachliche Magie. Dennoch:
die fehlende Verwertungslogik von Gedichten
nature writing und die Rettung in die Autofiktion
musste eine Demokratie aushalten können
die Menge narzisstisch Überdrehter
die innerlich schlecht beleuchtet wussten
was die meisten nicht wussten, den abgestorbenen Baum
der aussah wie eine Stimmgabel, die Unklarheit
die Kränkung, dass mehr Zeit hinter als vor mir lag
Björn Kuhligk, so ist zu erfahren, studiert derzeit Fotografie an der Ostkreuzschule in Berlin. Vielleicht ist das nur Einbildung, aber es gibt nicht wenige Stellen in dem Langgedicht, die wie ein Schnappschuss mit der Kamera geschrieben wurden, wenn so etwas denn ginge. Damit meine ich nicht nur die Szene am Anfang, wo Kuhligk allein unterwegs ist auf der Autobahn und er die Leere fotografiert, die Leere vor ihm und die im Rückspiegel hinter ihm.
Um all die Aufgeregtheiten herum machen die Sterne und die Tage und der Frühling, was sie immer machen – und ja, so schreibt einer wohl am besten über die verlorene Zeit:
„[…] die Sterne / über Kreuzberg gingen an und wieder aus / die Lustlosigkeit musste die Lust aushalten können“
„die Tage gingen morgens an und abends wieder aus“
„der Frühling ein raues Band, die Lerchen / flogen auf, der Einzelhandel öffnete, der Mensch / war zurück […]“
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