Mehr als nur kontingente Liebe

In „Der andere Mann“ skizziert Katja Kulin das Verhältnis Simone de Beauvoirs zu Nelson Algren

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre zählen zu den berühmtesten Paaren der Philosophie und Literatur. Zwischen ihnen besteht vor allem eine geistige Innigkeit, die von körperlicher Liebe erweitert wird. In ihrem berühmten „Pakt“ differenzieren sie zwischen „amour nécessaire“ und „amours contingents“, der notwendigen einzigartigen Liebe, die keine Untreue duldet, und den zufälligen Liebschaften nebenbei, die gerade nicht exklusiv sind, sondern die Zweierbeziehung nur vorübergehend öffnen. Einerseits manifestiert sich eine intellektuelle Idylle: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre arbeiten Seite an Seite, korrigieren gegenseitig ihre Texte und verwirklichen eine Partnerschaft auf Augenhöhe. Andererseits jedoch erweist sich die Idylle als fragil und ist dann bedroht, wenn die kontingenten Liebschaften vielleicht doch Gefahr laufen, zur Notwendigkeit zu avancieren.

Als sich Simone de Beauvoir am 21. Februar 1947 auf einer Vortragsreise durch die USA befindet, lernt sie Nelson Algren kennen. Er führt sie durch Chicago, zeigt ihr die berühmt-berüchtigten Viertel der Stadt und bringt sie nicht in ihr Hotel zurück. Simone und Nelson, so wie sie in Katja Kulins Roman Der andere Mann vertraulich benannt werden, verbringen ihre erste gemeinsame Nacht in seiner Zwei-Zimmer-Wohnung. Es bleibt nicht bei diesem ersten erotischen Rendez-vous, denn nach zwei Monaten bereits reist sie von New York aus zu ihm zurück. In den drei Jahren nach dem Liebesauftakt fliegt Simone mehrfach nach Chicago, lernt mit Nelson Land und Leute abseits von touristischen Pfaden kennen. So unternimmt sie mit ihm im Sommer 1948 eine Bootsfahrt mit Schaufelraddampfer über den Ohio und den Mississippi bis nach New Orleans. Von dort aus fliegen sie weiter nach Guatemala und Mexiko.

Während Simone ständig transatlantisch unterwegs ist, kommt Nelson nur ein einziges Mal nach Paris. Erst nach einer Woche intensiver amouröser Begegnung lernt er ihre existenzialistischen Freund*innen kennen. 1949 erhält Nelson für seinen Roman Der Mann mit dem goldenen Arm den National Book Award. Als Simone 1950 wieder nach Chicago reist, ist er dabei, ein Sommerhaus für diejenige einzurichten, die er in zweiter Ehe heiraten wird. 

Der andere Mann ist konsequent chronologisch durchstrukturiert. Ausführlicher und detaillierter Schilderung unterliegt der Tag des ersten Zusammenseins, das Zögern, mit dem Nelson auf Simones Anruf reagiert und die allmähliche Steigerung der Stadtführung hin zur ersten Liebesnacht. Es alternieren sodann Phasen der eher kursorisch berücksichtigten „Fernliebe“, der Liebe auf Distanz, mit den darstellerisch intensivierten Zeitfenstern der Zweisamkeit in Präsenz. Eine narrative Dichotomie ergibt sich insofern, als sich auch die Blickwinkel der beiden Protagonist*innen abwechseln. Vorwiegend im ersten Drittel des Romans entsteht mitunter der Eindruck eines Bewusstseinsstroms.

Je mehr der Diskurs voranschreitet, desto stärker dominiert eine heterodiegetische Stimme, die sich eng an Simone oder Nelson schmiegt. Im Verlauf des Romans nimmt außerdem die Raffungsintensität zu: bewegen sich die ersten Szenen des Miteinanders passgenau zu den Dialogen und den Anflügen erlebter Rede, in Richtung zeitdeckendes Erzählen, werden die späteren Präsenzphasen stärker gerafft. Nach einem Sprung über 32 Jahre hinweg landet man schließlich im Paris des Jahres 1982, im Appartement von Simone de Beauvoir, wo diese ihre Biografin Deirdre Bair empfängt. 

In diesem Epilog gibt sich die whiskeybegeisterte Philosophin (nicht umsonst ist ihr in dem Sammelband des Magazins KATAPULT, Die Säuferinnen & Säufer der Philosophie, ein Kapitel gewidmet) ihrer Erinnerung an die Beziehung zu Nelson Algren hin. Den Kontakt zu ihm habe sie auch nach den Treffen nie abgebrochen und seinen Ring trage sie noch immer. 

Nachdem Nelson ihr bereits im Mai 1947 diesen Ring an den Finger gesteckt hat, apostrophieren sie ihre gemeinsame Zeit als „Honeymoon“. In ihrem Text arbeitet Katja Kulin sehr gut heraus, dass Simone de Beauvoir sich in psychosomatischer Ganzheit auf Nelson Algren einlässt, dies in intellektueller Hinsicht jedoch nur partiell tun kann. Ihm ist es unmöglich, an Sartre heranzukommen. Nelson strengt sich obendrein in keiner Weise an, Französisch zu lernen, während Simone ein passables Englisch spricht und auch emotional in Amerika investiert. Sie interessiert sich brennend für das, was er ihr in Chicago zeigt, unterbreitet eigene Besichtigungsvorschläge und sammelt Stoff für ihre Artikelserie über Amerika, die als Reisetagebuch erscheinen wird. Im Gegensatz zu ihr hofft Nelson, dass sie ihn heiraten und dauerhaft in den USA wohnen wird. Mehr als eine Frau, die ihn herausfordert, ihn mit ihrer Intelligenz überflügelt, wünscht er sich eine dauerhafte Bindung. Es erstaunt wenig, dass der Kontakt nach 1950, nach dem „Honeymoon“, zu einer Art Brieffreundschaft mutiert, obgleich ihr Nelson verdeutlicht hat, dass er mit seiner ersten Frau eine gleichberechtigte Partnerschaft intendiert hatte, die von ihrer Seite aus torpediert wurde. 

Die drei Jahre der Liaison fließen bei Katja Kulin in eine Liebesgeschichte ein, die inhaltlich vorwiegend zwischen authentischem Sightseeing und erotischer Lüsternheit balanciert. Einer der Höhepunkte des Romans bildet der Rundgang durch die Chicagoer Schlachthöfe, wo sich die Zustände in den 1940er Jahren im Vergleich zu Upton Sinclairs Enthüllungen in The jungle nicht mehr als geringfügig verbessert haben. Beim Lesen übelkeitserregend sind zudem, als Simone und Nelson sich im Cook County Jail befinden, die Schilderungen zur Hinrichtung auf dem elektrischen Stuhl, dessen Wirkung in allen Einzelheiten erläutert wird. Auch Nelsons Kontakte zum ärmlichen Milieu der Kleinkriminellen und Junkies bleiben Simone nicht verborgen, ebenso wenig die Verfolgung von Kommunisten in der beginnenden McCarthy-Ära.

Vor diesem Hintergrund der grausam-ernüchternden Realität lieben sich „der Frosch“ und „das Krokodil“. Sie sei laut, spontan und bunt, wie manche Frösche, das gefalle ihm. Nelson definiert sogar „sieben Froschgebote“, die man sich im Roman hätte abgedruckt wünschen dürfen. „Das Krokodil“, so deutet Simone, habe sowohl eine zuvorkommende und mutige als auch eine „dumme, unausgeglichene und scheue“ Seite. Wenn sich das Krokodil mit all seiner Kraft durchsetze, laufe sie Gefahr, gefressen zu werden. Und alle neckischen und ludischen Momente, einhergehend mit den Kosenamen, lassen dieses große Risiko nicht verblassen. 

In ihren Roman integriert Kaja Kulin ein Treffen der beiden mit dem afroamerikanischen Schriftsteller Richard Wright in New York. Seine Frau Ellen, vormals aktiv in der Kommunistischen Partei, kümmere sich nur noch um ihren Haushalt und die kleine Tochter, so Simone im Nachhinein. An diesem Exempel statuiert sie die fortdauernde Benachteiligung der Frauen, ein Thema, das sie seit 1945 noch vehementer umtreibt, fängt sie doch an, die Texte zu schreiben, die in Das andere Geschlecht eingehen. Als eine der ersten entlarvt sie die soziale Konstruktion der Kategorie „Geschlecht“, besonders ausgeprägt in den bourgeoisen Verhältnissen, aus denen sie stammt. Simone de Beauvoirs Gegenentwurf ist das „geliebte Idealbild“, das dem Slogan „gemeinsam arbeiten, aber niemals zusammen wohnen“ gehorcht. Mit Sartre praktiziert sie annähernd eine solche „notwendige Liebe“ in all ihren Facetten, mit aller geistigen und körperlichen Verbundenheit. Dieser kompromisslosen Tiefe fühlt sich Nelson nicht gewachsen, so dass er trotz des „Honeymoon“ nach anderen Frauen Ausschau hält. 

Obschon Nelson Algren eine nicht unbedeutende Rolle in Simone de Beauvoirs Leben gespielt hat, nimmt er lediglich in den Selbstzeugnissen de Beauvoirs und in Deirdre Bairs Biografie (Simone de Beauvoir, 1990) eine herausragende Position ein. In Alice Schwarzers berühmtem Filmporträt (Simone de Beauvoir live, 1974) oder in der höchst attraktiven Kollektivbiografie von Sarah Bakewell, Das Café der Existenzialisten (2016), kommt der amerikanische Schriftsteller kaum über Randbemerkungen hinaus. Somit schließt der vorliegende biografische Roman eine Lücke. 

Unproblematisch ist die Wahl der Gattung indessen nicht und es stellt sich die Frage, warum Katja Kulin auf den schmalen Grat zwischen Fact und Fiction einschwenkt. In ihrem Nachwort lanciert sie eine regelrechte Apologie des Genres, indem sie die künstlerische Gestaltung der Fakten sowie die Chance pointiert, „sich auch in die Innenwelt der behandelten Persönlichkeiten einzufühlen“. Eventuell sollte man zunächst den Anspruch der Mentalisierung in den Mittelpunkt stellen, die Möglichkeit, zu begreifen, welches Szenario sich in den Köpfen der Beteiligten abspielt und warum sie diese oder jene Entscheidung getroffen haben. Auf einer solchen Basis würde in einem nächsten Schritt ein Mitschwingen und Mitfühlen entstehen und sich Empathie herausbilden. 

Mentalisierung und Empathie funktionieren postum am besten, wenn man die Texte der Beteiligten für sich sprechen lässt und den hermeneutischen Zirkelschlag vom Allgemeinen zum Besonderen und wieder zurück vollführt. Katja Kulin erwähnt zwar, dass Simone de Beauvoir oft über Nelson Algren geschrieben habe, dieser hingegen die Beziehung tendenziell lakonisch nach dem endgültigen Bruch mit Beauvoir thematisiert habe. Dennoch kommen Originalzitate so gut wie gar nicht vor – aus Urheberrechtsgründen, so wie Kulin sagt. „Aus dem Abgleich allen Materials und handwerklichen Eingriffen“ sei letztendlich „ein eigener Text“ entstanden, „eine neue Variante dieser unmöglichen Beziehung, die im besten Fall der Wahrheit ziemlich nahekommen sollte“. 

Gerade diese Unmöglichkeit der Beziehung hätte mit O-Ton-Einsprengseln noch besser gestaltet werden können. Anzumerken ist überdies, dass Kulin die Quintessenz aus ihrer Lektüre der Briefe Simone de Beauvoirs an Jean-Paul Sartre und ebenso an Nelson Algren nicht in ihren Roman aufnimmt. Die eigentliche Erkenntnis gereicht nur zu einem Schlussakkord: der Briefwechsel mit Sartre belege unter anderem, dass die Gleichberechtigung zwischen Sartre und Beauvoir nicht „ganz so ausgeprägt“ gewesen sei, „wie sie selbst es geschildert hat“. Des Weiteren seien die Briefe an Algren „voller kitschig anmutender Liebesbekundungen“ und Beauvoir habe in Konflikten oft beschwichtigt. Erst ab 1970 habe sie sich feministisch engagiert, als „die neue französische Frauenbewegung aktiv wurde“. Dem entgegnen sollte man zumindest, dass Beauvoir seit dem Ende der 1940er Jahre den Grundstein für ebendiese Bewegung gelegt hat.

Die private Korrespondenz folge im Übrigen, so Kulin, anderen Regeln als die öffentlichen Schriften. Gerade deshalb, so lässt sich folgern, wäre die Referenz auf diese bereichernd gewesen, hätte den Roman facettenreicher erscheinen lassen, die Figuren plastischer. Denn wenn auch Kulin am Ende betont, dass Beauvoir „kein Ideal“, sondern „am liebsten alles sein“ wollte, dass sie voller Ambivalenzen sei, spiegelt der biografische Roman die damit verbundene Dynamik und Lebendigkeit nicht wider. Obwohl er nicht wenige Passagen zu bieten hat, in denen Simone de Beauvoir menschlich, authentisch, wohltuend tough und geradlinig wirkt, überwiegt oftmals die Rekonstruktion und Neukomposition der Fakten. Dieses Procedere ist bar jeder Sentimentalisierung und damit begrüßenswert, wirkt aber auch steril und gipfelt manchmal in eher hölzernen Dialogen, bei denen man sich fragt, ob der deskriptive Weg einer faktenbasierten doppelten Biografie oder aber eine prononciertere Fiktionalisierung nicht besser gewesen wären. 

Titelbild

Katja Kulin: Der andere Mann. Die große Liebe der Simone de Beauvoir.
DuMont Buchverlag, Köln 2021.
320 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783832165666

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