Gedichte sind schlauer als ihre Verfasser – ohne sie aber gäbe es sie nicht

Nach zehn Jahren sind mit „die stunde mit dir selbst“ neue lyrische Texte von Reiner Kunze erschienen, eine Art Vermächtnis des vor Kurzem 85 Jahre alt Gewordenen

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Mit die stunde mit dir selbst hat Reiner Kunze mit mehr als zehnjährigem Abstand zu seiner letzten Gedichtsammlung lindennacht (2007) wieder ein Bändchen mit lyrischen Texten vorgelegt. Ergänzt wird es mit seiner kurzen Dankesrede anlässlich der Verleihung der Robert-Schuman-Medaille vor der Fraktion der Europäischen Volkspartei (Christdemokraten) am 16. Mai 2013. Geht es in Letzterer um die Besorgnis des Autors, dass eine europäische lingua franca die Muttersprachen der einzelnen Völker und damit einen wichtigen Teil der Identität jedes im „Gemeinwesen Europa“ Lebenden zurückdrängen könnte, liefern Kunzes Gedichte, die im typischen Sound des vor Kurzem 85 Jahre alt gewordenen Autors daherkommen, den Beweis, dass es keiner großen lyrischen Neuerungen bedarf, um eindrucksvolle Sprachkunstwerke entstehen zu lassen.

Kunzes neuer Gedichtband enthält 42 Texte. Die beiden ältesten stammen aus dem Jahr 2002, die weitaus meisten sind jüngeren Datums. Angeordnet hat sie der Autor in fünf zwischen sechs und elf Gedichte umfassenden, überschriftslosen Blöcken, die allerdings mit ihren vorangesetzten Mottos je einen thematischen Schwerpunkt setzen. So geht es in den neun Texten des ersten Teils um die Themenfelder Landschaft und Heimat. Teil 2 enthält auf Reisen – nach Finnland, Portugal und in die Ukraine – entstandene Gedichte. Der lediglich sechs Texte umfassende Teil 3 setzt sich mit Kunzes Selbstverständnis als Dichter auseinander – „Dichtung ist Einsamkeit ohne Abstand inmitten der Geschäftigkeit aller“, zitiert eines der beiden vorangestellten Mottos René Char (1907–1988). Und nach Gedichten, die sich in Teil 4 gegenwartskritisch mit der wachsenden Verantwortungslosigkeit des Menschen der Zukunft seines Planeten gegenüber beschäftigen, folgt im abschließenden fünften Teil die Auseinandersetzung mit Alter, Tod und Abschiednehmen.

Gedichte sind etwas, das auch ihrem Verfasser Unsterblichkeit verleiht, darf man Kunze verstehen. Der 1942 im Arbeitslager Michajlovka umgekommenen jüdischen Dichterin Selma Meerbaum-Eisinger errichtet er deshalb einen vierzeiligen Gedenkstein, der ihr das Überleben in ihren Werken zusichert: „Dem tod war es gegeben, / sie zu holen aus dem leben, / doch nicht / aus dem gedicht“. Auch dass Gedichte klüger sind als ihre Schöpfer, ist dem Autor ein aufschreibenswerter Gedanke. Deshalb solle man vom Dichter zwar das Gedicht verlangen dürfen, nicht aber all das, was es an Anspielungen und Bedeutungen in sich birgt und was es bei jedem einzelnen Leser zu bewirken vermag. Nur eines ist klar: Ein Gedicht wird nur dann überleben, wenn es „der welt an welt“ etwas hinzutut, sie reicher macht, vielgestaltiger, tiefgründiger, rätselhafter, mehrdeutiger. Dem Gedanken eines seiner poetischen Hausgötter, des tschechischen Dichters Jan Skácel (1922–1989), dass es Gedichte ohne die Menschen gäbe, widerspricht Kunze allerdings vehement. Denn so viel Selbstbewusstsein muss – bei aller Bescheidenheit – schon sein: „ohne uns / gibt es die erde und das all, / nicht aber das gedicht“.

In Zeiten von Mailings, Postings etc. darf man die einsame Suche des Dichters nach dem treffenden Wort aber schon als eine gefährdete Art, sich der Welt und ihren Problemen zu stellen, ansehen: „Die menschheit mailt // Du suchst das wort, von dem du mehr nicht weißt, / als daß es fehlt“. Für die, die sich „am handy fest[halten]“, sind Gegenwart und Vergangenheit zwar „mit der fingerkuppe“ abrufbar: „Doch sie wissen schon nicht mehr, / was sie nicht mehr wissen“. Und wenn auf einer Bahnfahrt mit „hundert menschen / […] neunundneunzig handys / und ein buch [reisen]“, sollte das schon Anlass zu Besorgnis geben, auch wenn diese Mahnung ein wenig so klingt, als würde sie aus einer früheren Zeit zu den im Hier und Jetzt Lebenden herübergesprochen.

Nun weiß man, dass Dichter natürlich nicht aus der Zeit gefallen sind – das oft benutzte Bild vom Leben im Elfenbeinturm klingt gut, ist aber fast genauso oft falsch –, sondern die Zeit, in der sie leben, nur anders wahrnehmen und wiedergeben. Bei Reiner Kunze geschieht das denkbar schlicht und doch, bei aller Einfachheit, ist er sich der Wörter samt der klassischen wie modernen Methoden, sie wirkungsvoll miteinander in neue Beziehungen zu setzen, ihnen Klänge und Tonfarben zu entlocken, die ihnen bis dahin noch niemand abgewann, voll bewusst. Einst hat er – da lebte er noch im, besser: über dem ostthüringischen Greiz, mit dem Vers „Häuserhänge wie / von naiven gemalt, längs / der dächer führn straßen schornsteine stehn / wie kilometersteine“ (Erinnerung an Greiz, 1966) Bilder aneinandergereiht, die sich nur demjenigen rational erschließen, der von genau demselben Standort auf die Stadt niedersieht, den Reiner Kunze damals einnahm – für alle anderen Leser sind die Zeilen pure poetische Zauberei. Nun erinnert ein Vers wie „Hoch über den hinterhöfen / zeigte die stadt / an den wäscheleinen flagge“ (Begräbnis in Porto mit Hafenblick) an diese Methode, genaues Hinsehen mit leichter Hand in Poesie zu transformieren.

Wie schon in seinen früheren Gedichten beginnt auch in die stunde mit dir selbst jeder Vers – bis auf die Ausnahme der letzten beiden – mit einem groß geschriebenen Wort und endet ohne Punkt, unabgeschlosssen sich verlierend, einen Gedanken aufgebend und zum nächsten (Gedanken/Bild/Vers) wechselnd. Auch der Reim ist Reiner Kunze weiterhin wichtig. Und wenn er ihn auch häufig nicht sofort findet, lassen kann er von ihm trotzdem meistens nicht.

Kunze wäre kein Dichter, wenn ihn die Auseinandersetzung mit dem Tod nicht schon immer umgetrieben hätte. In seinen Variationen über das Thema „Die Post“ etwa kann man unter Punkt 13 lesen: „Eines morgens / wird er läuten als / briefträger verkleidet // Ich werde ihn / durschauen // Ich werde sagen: warte bis / der briefträger vorüber ist“. Als er das schrieb, 1966, war Reiner Kunze 33 Jahre alt und vermochte noch, Gevatter Hein spielerisch hinters Licht zu führen. Nun, 52 Jahre später und damit in einem Alter „dem es schwerfällt, / sich zu bücken“, haben sich viele Dinge, die ihm früher wichtig waren, relativiert: „Nicht noch einmal // Nicht noch einmal / so verführbar // Nicht noch einmal / so gefährdet // Nicht noch einmal/eine mögliche gefahr“. Es ist einsam geworden um ihn, viele Freunde, die für Kunze in der Fremde eine (vor allem geistige) Heimat bedeuteten, sind nicht mehr: „Das vorratsfach für schwarzumrandete kuverts / ist leer // Die zunge wird vom schweigen schwer“.

Und so schließt das Bändchen mit einem Gedicht des Abschieds, so lange das Abschiednehmen noch gelingen will: „Doch sag ich, ehe ich’s / nicht mehr vermag: / Lebt wohl! // Verneigt vor alten bäumen euch, / und grüßt mir alles schöne.“ Zweimal wird hier in drei Zeilen ein dichterisches Prinzip Kunzes durchbrochen. Dass mit dem Punkt am Ende aber etwas endgültig an sein Ende kommt: Wir wollen es nicht hoffen.

Titelbild

Reiner Kunze: die stunde mit dir selbst. Gedichte.
S. Fischer Verlag, Frankfurt a. M. 2018.
70 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783103973761

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