Tierpolitik ist Menschensache

Bernd Ladwigs „Politische Philosophie der Tierrechte“ ist die bisher ausführlichste Erklärung, weshalb wir einigen Tieren Gerechtigkeit schulden

Von Dafni TokasRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dafni Tokas

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

 Wir alle lieben Tiere, zumindest ein paar von ihnen: Der Hund wird in einer selbstbemalten Holzurne beerdigt und noch jahrelang betrauert, das Schwein wird verstümmelt, verbrüht und in Sekundenschnelle verspeist. Die einen lieben wir, die anderen lassen wir für eine leicht ersetzbare Gaumenfreude quälen. Klingt philosophisch interessant? Doch mit der Frage, ob und weshalb wir bestimmte Tiere lieben oder eben nicht, kann man in tierethischen und -politischen Debatten nicht sinnvoll arbeiten, so der Philosophieprofessor Bernd Ladwig. Denn Tiere sind bestenfalls nicht einfach nur Objekte eines unreflektierten, sprunghaften Mitgefühls oder tiefer Verachtung, sondern Wesen, denen wir Gerechtigkeit schulden. Liebe und Sympathie sind selektiv und willkürlich, Gerechtigkeitsbestrebungen hingegen fußen idealerweise auf Willkürvermeidung. Doch schulden wir Tieren, zumindest einigen von ihnen, auch Mitgliedschaftsrechte in einer sozialen Gemeinschaft? Brauchen wir diesen Wechsel überhaupt, oder gibt es einen alternativen politischen Umgang mit dem, was wir Tieren täglich antun? Es sind diese Fragen, die den roten Faden in Ladwigs Ausführungen bilden. Wer eine einfache Antwort erwartet, kommt um die Lektüre der 400 Seiten dicken „Politischen Philosophie der Tierrechte“ nicht herum.

Ladwigs Buch besteht neben einer ausführlichen Einleitung aus zwei großen Teilen: Im ersten geht es um den moralischen Status von Menschen und Tieren. Dieser Teil leistet neben seiner hilfreichen Überblicksfunktion vor allem theoretische, gründliche normative Vorarbeit, indem die Begriffe von Moral, moralischem Status und moralischen Rechten sowie deren Inhalte scharf auseinandergehalten werden. Was ist Mündigkeit, und wer kann ein Interesse haben? Zwar ist das Buch nicht als Einführung gedacht, doch kann es diese Funktion durchaus erfüllen, da Ladwig bei der Diskussion der verschiedenen Ansätze kaum eine philosophische Position auslässt und jede von ihnen so beschreibt, dass auch jemand, der von den jeweiligen Philosoph*innen noch nie gehört hat, folgen kann. Es ist unmöglich, die beeindruckende, geballte philosophiegeschichtliche Wissensfülle des Buchs hier wiederzugeben. Ladwig bietet bei alldem keinen statischen, streng chronologischen Einblick in die diskutierten moral- und tierphilosophischen Positionen, sondern sorgt für einen organischen Übergang der Gedanken. Kein Argument taucht umsonst auf – vielmehr kulminieren die Abwägungen und Darstellungen in eine eigene Positionierung des Autors.

Denn im zweiten Teil werden die dargestellten Überlegungen, Argumente und Konzepte politiktheoretisch kontextualisiert: Was bedeutet politische Gerechtigkeit für Tiere? Dürfen wir Tiere halten? Wie kann man welche Tiere politisch einbeziehen und was hieße das? Sind Tiere überhaupt politische Akteure? Solche und ähnliche Fragen gestalten die zweite Hälfte des Buches. So beschreibt der Autor beispielsweise John Rawls Unterscheidung zwischen idealer und nicht-idealer Theorie und entwickelt diese in Bezug auf die Sache der Tiere und aktuelle Ausprägungen von Tierschutzbestrebungen weiter. Ladwig meistert dabei einen nahezu unmöglichen Balanceakt: Nicht nur philosophisch gebildete Menschen sollten etwas mit seiner emphatisch politischen Sichtweise anfangen können. Jeder Person, die offen für kreatives politisches Denken ist, sollte das Buch als wertvollen, fundierten Beitrag zur aktuellen gesellschaftlichen Diskussion um Tierrechte schätzen können.

Doch von vorn: Der Philosoph geht davon aus, „dass vieles, was wir Tieren antun, institutionalisiertes Unrecht ist“. Es gibt so einige Tiere, die um ihrer selbst willen moralisch zu berücksichtigen sind – wenn nicht alle –, doch die meisten dieser Tiere leben und sterben in Laboren oder in der Nutztierhaltung, ohne solche Berücksichtigung in einem für sie ausreichenden Maße zu erfahren. Tod und Leid gehören zwar zum mensch-tierlichen Zusammenleben, doch gerade das quantitativ größte Leid – gemessen an der bloßen Zahl der Tiere –, das wir anderen Lebewesen zufügen, wäre vermeidbar: Die Produkte, die wir aus der Nutztierhaltung beziehen, sind gesundheitlich mindestens obsolet. Für die Tiere und die Umwelt ist ihre Haltung in der Form, wie sie sich in unseren Breiten zumeist gestaltet, außerdem eine Zumutung. Das Tierschutzgesetz zeigt dabei kaum Wirkung, denn praktisch alles könnte ein „vernünftiger Grund“ sein, ein Tier in eine qualvolle Existenz zu befördern und es dann zu schlachten.

Für den Fall, dass jemand gegen obige Unrechts-These etwas einzuwenden hat, stellt der Autor die systemischen Übel der Nutztierhaltung einleitend am Beispiel der Zuchtsau dar – möglichst sachlich und so knapp, wie es geht. Da wären zum einen die standardisierten Verfahren im Umgang mit den Tieren – die bereits an Grausamkeit nicht zu überbieten scheinen –, andererseits die eher verstreute, beliebige Gewalt an Tieren, die, so Ladwig, wenn sie nicht vom Sadismus der Arbeiterinnen und Arbeiter zeugen mag, so vor allem deren Überforderung signalisiert.

In jedem Fall scheint etwas an unserem Verhältnis zu einigen Nichtmenschen in seiner bisherigen Ausformung fragwürdig zu sein. Bereits seit den Anfängen der Philosophie wird dieses Problem ausgehandelt, doch Ladwig bemängelt, dass die tierethische Debatte zu lang ein relativ loses Verhältnis zur politischen Theorie gepflegt habe, obwohl sie Begriffe wie „Rechte“, „Gerechtigkeit“ und „Befreiung“ schon länger beinhalte. In einem einleitenden Kapitel legt Ladwig deshalb übersichtlich und verständlich dar, wie er von bereits bestehenden tierethischen und -rechtlichen Überlegungen ausgehend sein Buch gestaltet und seine Thesen aufstellt und überprüft.

Grundsätzlich schlägt der Autor eine Zusammenführung zweier Bereiche vor: Politische Philosophie und Tierethik seien gemeinsam zu denken. Tatsächlich ist ihre Trennung eine artifizielle, die auf der Vorstellung basiert, nichtmenschliche Tiere könnten keine Wesen sein, für die wir politisch verantwortlich sind, und Politik habe ohnehin nur entfernt etwas mit moralischen Fragen zu tun. Doch natürlich haben politisch wirksame Rechte etwas mit Moral zu tun. So nennt Ladwig das bekannteste Beispiel: Menschenrechte. Jeder geborene, nicht vollständig hirntote Homo Sapiens hat basierend auf moralischen Gründen und dem menschenrechtlichen Minimalkonsens zufolge unter anderem ein Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.

Wer moralisch urteilt, muss sich auf Eigenschaften beziehen, die eine moralische Rolle spielen. Obwohl für zumindest einen Großteil nichtmenschlicher Tiere ähnliche und/oder dieselben moralischen Gründe für die Verleihung von Rechten angeführt werden können, halten die meisten Menschen Tierrechte jedoch für eine abwegige, mitunter kränkende Idee. Ladwig wendet nun ein, dass auch Menschen streng genommen „nur“ Tiere sind und Menschenrechte eben Rechte für ein ganz spezielles Tier sind. Eine anthropozentrische Einschränkung moralischer Berücksichtigung auf nur ein paar oder alle Menschen sei allerdings willkürlich. Jede mögliche anthropologische Differenz weist der Autor dabei zunächst ab – der Unterschied zwischen einzelnen Spezies ist graduell, nicht prinzipiell. Über ein Monopol verfügen Menschen also nicht, sei es nun Denkfähigkeit, Intentionalität oder Empathie. Das ist in der Tierphilosophie kein neuer Gedanke.

Innovativ an Ladwigs Ansatz ist letztlich unter anderem seine Auffassung von menschlicher politischer Verantwortung und Handlungsmöglichkeiten gegenüber Tieren. Denn nur der Mensch kann Tieren Rechte im positiven Sinne verleihen. Das liegt unter anderem an unserer propositionalen Sprache und der Beschaffenheit unseres Rechtssystems. Moralische Rechte mögen Tieren bereits aufgrund bestimmter Eigenschaften wie etwa Verletzlichkeit zukommen, doch die politische Durchsetzung dieser Rechte bedarf eines fundamentalen gesellschaftlichen, rechtlichen und gesetzlichen Wandels, der von Menschen herbeigeführt werden muss.

Ein menschliches Individuum kann als Konsument*in oder auch als Bürger*in adressiert werden. Der Unterschied in dieser Adressierung markiert auch Verantwortungsdifferenzen. Wir haben nicht nur Verantwortung, wenn wir konsumieren, sondern auch als Wesen mit einer politischen Stimme. Ständig und überall sind wir zum Beispiel umgeben von Produkten, die Tieren entnommen wurden und die sie ihr Leben gekostet haben. Wer Tierprodukte vermeiden will, muss also sehr wachsam sein; wer hingegen nicht aufpasst, ist sofort Teil eines überwiegend tierausbeuterischen Systems. Auch Tierversuche sind oftmals gesetzlich vorgeschrieben. Eine entscheidende Änderung dieser Verhältnisse hinge also von einem kollektiv verbindlichen, gesetzlichen und keinem nur ideologischen, individuellen Wandel ab. Der Autor plädiert deshalb für einen Political Turn in der Debatte um Tiere, weil es um ein systemisches, institutionalisiertes Unrecht geht.

Eine solche Wandlung kann mitgestaltet werden durch „eine politische Philosophie, die auf einer Klärung des moralischen Status von Tieren fußt“ und damit „eine zweistufige politische Philosophie der Tierrechte“ impliziert, welche auch die Struktur des Buches definiert. Während der erste Teil auf eine Interessentheorie der Tierrechte hinausläuft, grenzt Ladwig diese Theorien im zweiten Teil ein und spezifiziert sie auf konkrete Beispiele hin. Dies ist eine Stärke des Buchs, die bisher nur bei wenigen Tierphilosoph*innen sichtbar wurde: Nicht vage von „allen Tieren“ und deren Rechten zu sprechen, nicht einen Bereich der vielfältigen Mensch-Tier-Verhältnisse besonders herauszuheben, sondern in einem einzigen Werk fein zu differenzieren zwischen sehr unterschiedlichen Formen der Nutzung, Instrumentalisierung und politischen Einbeziehung von Tieren. Denn Tiere sind keine homogene Gesamtheit kleiner pelziger Quasi-Menschen, die alles ein bisschen so wie wir können, sondern sehr unterschiedliche Individuen, auf deren Interessen und Eigenschaften es je nach Situation und systemischer Bedingtheit zu reagieren gilt. So würde Ladwig differenzieren zwischen den moralischen Problemen, vor denen wir stehen, wenn Greifvögel in Windräder geraten, ein Blindenhund altersbedingt ausgedient hat oder eine Mutterkuh von ihrem Kalb getrennt wird.

Dass Tiere auf die gleiche Weise politische Akteure sein können wie Menschen und sich politisch effektiv für ihre moralische Berücksichtigung einsetzen könnten, bezweifelt Ladwig. Es ist unsere Aufgabe, Tieren gegenüber gerecht zu sein, und keine theoretische Ausdehnung ihrer politischen Kompetenzen kann uns dabei entlasten. Ladwig kritisiert beispielsweise Sue Donaldsons und Will Kymlickas Zoopolis dafür, politische Grundbegriffe bei der Anwendung auf Nichtmenschen überdehnt zu haben. Seine Kritik bezieht sich also auf eine übermäßige Strapazierung bestimmter Termini in der bisherigen philosophischen Tierrechtsdebatte. Er erkennt jedoch auch an, dass Donaldson und Kymlicka zu den ersten Theoretiker*innen gehören, die die Mensch-Tier-Verhältnisse überhaupt im großen Stil für die politische Philosophie erschlossen haben. Seine Kritik scheint vielmehr darauf abzuzielen, dass man Tieren als Unterworfenen sozialer Strukturen nicht auch noch abverlangen sollte, sich aus ihrer politischen Unterdrückung selbst zu befreien. Allein wir könnten ihnen effektiv und langfristig zu einem gerechteren Dasein verhelfen, doch wir machen es nicht.

Ladwig liefert anspruchsvolle philosophische Begründungen für seine eigene, auf verschiedene Tiere in unterschiedlichen Situationen zugeschnittene Idee von Tierrechten. Und doch ist das letzte Kapitel zu den Fragen der politischen Umsetzbarkeit von allzu realistischen, sprich: negativen Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsperspektiven geprägt. Trotz der Dichte des tierphilosophischen Kanons, der Ladwigs Buch füllt, gibt der Autor zu, dass Argumente allein die Gesellschaft nicht verändern werden. Vielleicht ist ziviler Ungehorsam ein Weg, noch mehr Aufklärung ein weiterer. Der Autor nennt viele Aspekte der zahlreichen heutigen Tierbefreiungsbestrebungen, die vereint zu einem gesellschaftspolitischen Wandel führen könnten. Von allzu radikalen abolitionistischen Ideen, die teilweise für eine komplette Trennung von menschlicher und tierlicher Sphäre plädieren, grenzt er sich jedoch teilweise ab und schlägt stattdessen produktiv an einigen Beispielen vor, wie das Miteinander von Mensch und Tier auf rechtlicher Ebene so gestaltet werden könnte, dass beide Seiten davon profitieren, und domestizierte Tiere, ob Hund oder Kuh, nicht aussterben müssen, bloß weil wir Bedenken bei ihrer bisherigen Haltung haben. Wer sich für diese konkreten, erfinderischen und spannenden Ideen interessiert, dem ist Ladwigs Buch uneingeschränkt zu empfehlen: Als harmonisches Produkt jahrelanger Forschung und philosophischer Auseinandersetzungen hat es Potential zum Standardwerk.

Dabei richtet Ladwig auch eine indirekte Warnung an jene, die sich leidenschaftlich für tierliche Belange einsetzen: Der Streit um Tierrechte solle auf sozialverträgliche Weise geführt werden, trotz der Schwere der Lage also nicht abschreckend, aggressiv, sektiererisch und respektlos sein. Ladwig, selbst Veganer, glaubt realistischerweise nicht an eine Welt, in der wir in naher Zukunft größtenteils moralisch vertretbare Konsumentscheidungen treffen werden. Die meisten Menschen werden weiterhin Tiere konsumieren und nutzen, kein Problem darin sehen, und es ist deshalb noch ein langer Weg hin zu einer Gesellschaft, in der auch die meisten nichtmenschlichen Tiere eine Chance auf ein glückliches Leben haben können. Wer bedenkt, dass selbst Rassismus und Sexismus noch institutionalisierte Diskriminierungsformen sind, der wird schnell schließen können, dass der Weg zur Tierbefreiung mindestens doppelt so lang sein wird.

Trotz dieses düsteren Schlusses ist der Philosoph, wie ihn auch Barbara Bleisch in Sternstunde Philosophie kürzlich nannte, insgesamt ein „notorischer Optimist“: Einmal werden wir, so Ladwig, uns schämen dafür, was wir den Tieren angetan haben. Diese Aussage kennen wir bereits von Leonardo da Vinci, und seitdem hat sich der menschliche Umgang mit anderen Tieren keineswegs gebessert. Hoffen wir also, dass Ladwigs anspruchsvoller, lehrreicher Wälzer, von dem viele sich wohl wünschen würden, sie hätten ihn geschrieben, kein Tropfen auf den heißen Stein der anthropozentrischen Sturheit ist.

Titelbild

Bernd Ladwig: Politische Philosophie der Tierrechte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020.
411 Seiten , 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783518299159

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