Rentiere sind Eigentum des Windes

Im Roman „Das Leuchten der Rentiere“ von Ann-Helén Laestadius dreht sich alles um die Welt nordschwedischer Sámi

Von Frank RiedelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Frank Riedel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lappland, Finnmark oder Sápmi heißt das Gebiet im Norden Skandinaviens, wo die Sámi ihren Rentierherden folgend und Grenzen überschreitend in vier Staaten bis zur Kola-Halbinsel im Norden Russlands leben. Der deutsche Titel des in Schweden 2021 zum Buch des Jahres gekürten Romans über dieses europäische indigene Volk ist allerdings irreführend, deutet er doch auf romantische Nordlichter, silbrig glänzendes Rentierfell oder die weißen Nächte des nordischen Sommers hin. Der Originaltitel Stöld (dt. Diebstahl) benennt hingegen direkt und schonungslos das Kernproblem, von dem der Text handelt: die Tatsache, dass auch das Quälen und Töten der Rentiere durch wildernd-wütende Schweden praktisch nie und wenn, dann nur als Diebstahl, geahndet wird. Weil der Staat durch seine Gesetze und die Polizei für die Minderheit der Sámi existenzbedrohliche Verbrechen verharmlost, handelt es sich hier um strukturellen Rassismus, der auch den Alltagsrassismus fördert.

Ann-Helén Laestadius ist im schwedisch-finnischen Grenzgebiet, in dem viele in der Mischsprache Meänkieli (dt. unsere Sprache) kommunizieren, aufgewachsen und hat samische Vorfahren. Was dem einstigen Nomadenvolk seit Jahrhunderten angetan wurde – und in vielerlei Hinsicht bis heute angetan wird –, erschreckt nicht nur schwedische Leser*innen. Im Roman klingt das insbesondere in Oma Áhkkus Erinnerungen an, wenn sie ihrer Enkelin vom Nomadenschulzwang oder der Sprachpolizei erzählt. Denn Samisch zu sprechen war in Schweden jahrzehntelang nicht erlaubt. Die bekannte Kinder- und Jugendbuchautorin klagt in ihrem ersten Roman für ein erwachsenes Publikum die schwedische Gesellschaft und den Staat für den Umgang mit der Minderheit literarisch an.

Ihr Ausgangspunkt sind die Erfahrungen des Mädchens Elsa, der Tochter eines Rentierhalters, das als Neunjährige ganz allein einen ortsbekannten Wilderer dabei überrascht, wie er ihr erstes, eigenes Rentier absticht und verstümmelt. Seine Drohung, sie zu töten, falls sie ihn verrate, ist ebenso wirksam wie quälend für das Kind. Es versucht, sich zu beruhigen („Nichts sagen war nicht Lügen. Es war nur Nichts-Sagen.“), doch dieses Schlüsselerlebnis lässt ihm auch zehn Jahre später keine Ruhe.

Im ersten Drittel der Geschichte nutzt die Erzählerin Elsas kindlichen Blickwinkel als Einstieg in die alltägliche Lebensweise und die Bräuche der Sámi. Lesend erlebt man, von wem wann Schwedisch, wann Samisch und wann Meänkieli gesprochen wird. Das stolze Sámi-Mädchen gehört zu den ganz wenigen, die die mittlerweile bestehende Sámi-Schule besuchen. Elsa lernt, spricht und denkt ganz in ihrer Sprache, liebt das Nordlicht und singt sich die Natur in improvisierten Joiks spielerisch leicht herbei. Die schwedischen Wörter fühlen sich dagegen „falsch im Mund an.“

Der zweite und dritte Teil des Romans spielt 2018. Als junge Frau begehrt Elsa auf und entwickelt sich zu einer selbstbewussten Kämpferin für die Rechte und das kulturelle Erbe ihres Volkes, zum Teil trotz des Widerstands dessen patriarchaler Vertreter. Hier maßt sich, wie Elsa betont, eine Frau an, nicht einfach nur schwanger zu werden, sondern auch Motorschlitten zu fahren und für Rentiere zu sorgen. Ein Studium oder Stadtleben interessiert sie nicht, ihr ist die Rentierhaltung Berufung. Dabei ist Elsa der Meinung, dass die Rentiere freie Lebewesen seien: Sie hat vom Áddjá, ihrem samischen Großvater, gelernt, dass sie Eigentum des Windes sind, sich selbst gehören und den Sámi nur geliehen werden. Schon aus diesem Grund kann für sie nie vom Diebstahl, wie von der lokalen und regionalen Polizei Jahrzehnte präferiert wurde, sondern nur von Mord die Rede sein, wenn sie gejagt und nicht selten grausam abgeschlachtet werden.

Die weit verbreiteten Rentier-Tötungen werden im 21. Jahrhundert, so lernt man während der Lektüre, immer noch wenig geahndet. Sie führen zu Konflikten zwischen der überforderten Polizei und den Sámi, insbesondere dann, wenn die einzige Patrouille so weit vom Tatort entfernt ist, dass sie ständig zu spät eintrifft und dann noch alle anderen Vorkommnisse und Betrügereien vorrangig behandelt. Elsas Vater hat Hunderte von Polizeianzeigen gesammelt, die alle damit endeten, dass die Ermittlungen aus Mangel an Beweisen eingestellt wurden. Es scheint, dass das Töten von Rentieren kein Verbrechen ist, dafür das Anprangern oder die Anzeige desselben! Aber nicht nur den immer noch ungestraften Täter ihrer Kindheit gilt es für Elsa zu überführen. Es geht ihr auch darum, den ewigen Hass auf das Volk der Sámi und die Missachtung dessen Lebensraums durch Bergbau und erneuerbare Energiegewinnung anzuprangern. Die Wirtschaftsgrundlage der Rentierhalter*innen ist also bedrohter denn je, nicht zuletzt auch durch den Klimawandel.

Laestadius erzählt vom aktuellen Leben der Sámi, deren ganzheitlicher Lebensweise, die im Wandel begriffen ist. Der technische Fortschritt und die neuen Medien bringen, ähnlich wie einst die Motorschlitten, viele Erleichterungen. Dennoch verweigern sich inzwischen viele dem harten, traditionellen Leben und suchen sich konventionellere Berufe. Eine neuere Einnahmequelle stellt der Tourismus dar, wenn auch einige Sámi sich nur widerwillig zu Fotoobjekten degradieren lassen, denn „[s]ie kolonisieren“, wie es im Roman heißt, „unsere Kultur mit ihren Blicken auf uns.“  

Dass auch Sámi-Familien ihre Meinungsverschiedenheiten haben, verschweigt Laestadius nicht und konstruiert mit vielen unterschiedlichen Figuren ein überzeugendes Gesamtbild der Gesellschaft im Norden Europas mit deren gegensätzlichen Lebensentwürfen. Elsas Kampf für Gerechtigkeit steht für die emanzipatorischen Bestrebungen einer jüngeren Frauengeneration, deren Vertreterinnen sich in ihren Vorhaben gegenseitig stützen. Durch die bis zum Schluss spannungsgeladene Kriminalgeschichte, in die die Darstellung der samischen Sprache und Kultur eingeschrieben ist, bekommt der Roman eine dramatische Tiefe, die dem Lesepublikum hilft, den aufklärerischen Impetus der Autorin wohlwollend zu goutieren.   

Titelbild

Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere. Roman.
Aus dem Schwedischen von Dagmar Mißfeldt und Maike Barth.
Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2022.
448 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783455012941

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