Alltag in Haiti

Yanick Lahens beschreibt in „Sanfte Debakel“ das Leben in einem von tiefen Gegensätzen geprägten Land

Von Michi StrausfeldRSS-Newsfeed neuer Artikel von Michi Strausfeld

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Haiti versetzt jeden Besucher in ungläubiges Staunen: so viel Elend, so viel Kreativität, so viel Gewalt, so viel Mitmenschlichkeit, so viel Intensität im Alltag, so viel politische Korruption, so viel Liebe, so viel Zorn. Und die Gegensätze ließen sich mühelos anhäufen, denn das Einzige, was dem Land zu fehlen scheint, ist Normalität.

Yanick Lahens, geboren 1953 in Port-au-Prince, ist eine genau Beobachterin dieser Zustände. In diesem, ihrem fünften Roman, beschreibt sie gleich zu Beginn die Ermordung eines Richters, der zu viel wusste und sich nicht bestechen ließ. Man hatte ihm seinen gewaltsamen Tod angekündigt, wenn er seine Ermittlungen fortsetze, wollte ihm also eine Chance geben, sich zu beugen. Schmutzige Geschäfte der Politiker aufzudecken, bedeutet in Haiti Lebensgefahr. Die Autorin bezieht sich auf einen konkreten Fall von vor einigen Jahren.

Die Tochter des Richters, Brune, ist Sängerin, tritt auf der Bühne auf und träumt von einer künstlerischen Karriere. Ihr Vater hatte sie ermutigt, den Weg zu gehen, und nur so kann sie ihre Verzweiflung und Trauer und Hilflosigkeit etwas vergessen. Ihr Onkel, ein Homosexueller (der deshalb jahrzehntelang nicht in Haiti leben konnte), möchte mehr über die Hintergründe der Tat und ihren Hergang erfahren und stellt heimliche Nachforschungen an – zunächst ohne viel Erfolg. Bei ihm kommen alte Freunde und junge Gäste gerne zu einem gemeinsamen Essen zusammen und reden über die miserable Politik im Land.

In einem kleinen Theater findet sich die Jugend Haitis ein, die von einem besseren Leben träumt: der Auftragskiller, der Lover und Karrierejurist, die militante Feministin, der Vertreter der Gewaltlosigkeit oder der überzeugte Marxist – gemeinsam trinken sie, vergessen den Alltag. Gast ist diesmal ein französischer Journalist, der eine Reportage schreiben möchte und fasziniert der Musik und den Darbietungen folgt. Die unübersehbaren Gegensätze machen ihn nahezu sprachlos, sie zu verstehen, scheint ihm unmöglich. Die Autorin evoziert die individuellen Schicksale aller Personen, und so entsteht ein facettenreiches Bild einer Gesellschaft, in der Hölle und Himmel erschreckend nahe beieinander liegen.

Die Autorin verwendet starke Bilder, die den Leser immer neu überraschen und die Menschen mit wenigen Worten plastisch vor Augen führen. Für viele junge Haitianer gibt es offensichtlich nur eine Chance auf ein besseres Leben: die Emigration. „Alles, was uns betrifft, die Besiegen, ist belanglos, ist nicht menschlich. Unsere Götter sind nicht die richtigen, unser Verständnis von der Welt ist falsch, unsere Glaubensvorstellungen sind illegitim. Ich will auf der richtigen Seite der Geschichte stehen. Wenn ich erst mal weg bin, schaue ich mir die Insel im Fernsehen an“, denn „das einzige Verbrechen in unseren Gefilden besteht darin, geboren und machtlos zu sein“. Yanick Lahens gelingt es, den Leser in ihre Geschichte hineinzuziehen, ihn Anteil nehmen zu lassen, so dass er zuletzt mitfiebert, ob der Onkel mehr über die Ermordung erfahren wird. Ja, und die Erkenntnisse sind entsetzlich und dürfen nie publik werden: Lebensgefahr! Nur zu verständlich, dass die Tochter ihr Glück und ihre Karriere in Frankreich sucht…

Dieser schmale Roman ist große Literatur. Für einen früheren Roman Bain de lune erhielt die Autorin den Prix Femina, den Prix littéraire des Caraíbes, sie wirkt aktiv im Kulturbereich Haitis mit, lehrt an der Universität und publizierte eine mitreißende, mitfühlende Reportage über das Erdbeben von 2010: „Und plötzlich tut sich der Boden auf“. Auch in Sanfte Debakel tun sich Abgründe auf: die einer verzweifelten Jugend, die eines schwierigen Überlebens in einem geschunden Land. 

Titelbild

Yanick Lahens: Sanfte Debakel.
Aus dem Französischen von Peter Trier.
Litradukt, Trier 2021.
160 Seiten, 14,00 EUR.
ISBN-13: 9783940435378

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