Erinnerungsarbeit

Ludwig Laher erzählt in „Schauplatzwunden“ vom Grauen der NS-Zeit

Von Karl MüllerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Karl Müller

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ist da jemand, der diese aufwühlende und zugleich in vielen Aspekten erhellende Berichtserzählung Ludwig Lahers nicht in einem Zug lesen möchte? Diese Lektüre ist angesichts des Berichteten und Vergegenwärtigten kaum ohne Beklemmung, ja empörendem Aufruhr und teilweisem Entsetzen zu bewältigen. Denn über 12 im „Arbeitserziehungs- und Zigeuneranhaltelager St. Pantaleon-Weyer“ (zwischen Juli 1940 und November 1941) „ungewollt verknüpfte Leben“ wird erzählt – Porträts von Opfern und Tätern und anderen mit diesem SA-Lager verwickelten Menschen.

Man ist von den erschütternden Inhalten sowie von der poetischen Kraft dieses radikalen, auf jegliche fiktionalen Einschübe verzichtenden Schreibverfahrens mitgerissen. Kann man dieses Buch frühzeitig aus der Hand legen? Die Vergangenheit ist nicht vergangen, also anschaulichst verlebendigt, und Lahers dokumentierendes Erzählverfahren ist frisch wie eh und je. Sachlichkeit, Nüchternheit, Faktenreichtum und zugleich Empathie gegenüber den Opfern des SA- bzw. NS-Terrors sind Fundamente dieses Schreibens.

Das neue Buch ist, wie es Laher nennt, ein „Komplementärunternehmen“ seines Romans Herzfleischentartung, mit dem er vor etwa 20 Jahren zu seiner ihn auszeichnenden Poetik gefunden hatte und wie er sie seitdem wiederholt erprobte, etwa in den Romanen Einleben (2009), Und nehmen was kommt (2011), Verfahren (2011) oder Bitter (2014).

Es handelt sich um eine in die Nähe eines aufklärenden Sachbuchs gerückte literarische Erzählung. Alle Fasern einer zeitgeschichtlich, anthropologisch und zugleich mitfühlenden LeserInnen-Existenz werden aufgerufen.

Herzfleischentartung nannte Laher seinen 2001 erschienenen Roman und zitierte dabei ein zynisches Naziwort auf dem Totenschein einer im Lager St. Pantaleon-Weyer Ermordeten. Sein Hauptaugenmerk galt den damals erst kürzlich aufgearbeiteten Strukturen und Mechanismen dieser „absurden wie stringenten Schreckensherrschaft“ – immerhin ca. 60 Jahre nach der NS-Barbarei, für die hauptsächlich skrupellose Kreaturen der SA verantwortlich zeichneten, und zwar in der oberösterreichischen Provinz.

Jetzt aber in Schauplatzwunden wird vorrangig den Schicksalen von „konkreten Menschen nachgespürt“ (fast alle haben Vor- und Nachnamen) und zwar in anschaulichen und viele Zusammenhänge herstellenden Porträts: den Opfern und mutigen widerstehenden Leidgeprüften, „Spielbällen der Verhältnisse“ allesamt, den aus ihren Löchern kriechenden sadistischen Tätern und faschistischen Schreibtischherren hier und dort in einer Epoche des totalen Zivilisationsbruchs, den Mittätern, den angstbesetzten Schweigenden und  Nutznießern, den „problematisch Eingebundenen“, den von ihren Gewissen Getriebenen.

Dafür hat Laher eine verblüffend einfache und dennoch erstaunlich wirklichkeitsnahe Form gefunden – „alphabetische Durcheinanderreihung“ der skizzierten Menschenbilder nennt er das. Denn dieses Verfahren einer „Verzahnung“ von vielen verknäuelten Fäden führt die aufmerksam Lesenden – Porträt für Porträt – zum sukzessiven Erkennen eines immer dichter werdenden Geflechts totalitärer Machtausübung und spiegelt auf diese Weise zugleich realistisch und poetisch subkutan den Wahrnehmungsprozess der meisten jener direkt Betroffenen wider, die in den Jahren 1940/41 „in die Mühlen ebenso absurder wie bösartiger Willkür der Herrschenden“ gerieten und nicht wussten, wie ihnen in einer für sie „undurchsichtigen Gemengelage“ geschah, „die solch Entsetzliches zuließ“.

Um solches aber berichtend-erzählend bewerkstelligen zu können, braucht es einen auf vielen Feldern wissenschaftlich versierten und letztlich erzählkundigen Berichterstatter, wie es Laher eben ist: Da geht es nicht ohne Kenntnisse etwa in der modernen Tätertypen-, Biographie- oder NS-Polykratieforschung, ebenso wenig ohne Wissen um die vom NS-System verursachten zivilisatorischen Brüche im Bereich der Justiz, der Medizin sowie generell im gesellschaftlichen Leben. Lahers Porträts thematisieren denn auch z. B. die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit, die Beförderung des Verrats am hippokratischen Eid, die rassistische Durchdringung des Lebens, die sukzessive Abschaffung freien Lebens und erbärmliche Formen der Gewissens-Erpressung sowie prononciert utilitaristische und sozialdarwinistische Praxen. Es braucht auch einen Autor, der viel kontextuelles Wissen über den nach 1945 für sehr lange Zeit grosso modo empörend laxen Umgang mit der ungeheuerlichen Hypothek durch die Republik Österreich und ihrer Parteien einbringt.

Lahers Buch ist prall gefülltes Anschauungs- und Belegmaterial nicht nur dafür, sondern auch für Beispiele für geradezu ins Mythische reichende, ins Bestialische losgelassene Menschenexemplare und dagegen mutig Widerstehende. Es muss ein penibler und auf vielen Gebieten beschlagener Rechercheur mit Genauigkeitslust sein, der sich etwa relevantes zeit-, sozial- und institutionsgeschichtliches, aber auch psychologisches Wissen angeeignet hat, weiters die einschlägige und aktuelle Forschungslage kennt und auch mit dieser kritisch umzugehen weiß, um oft verdeckte, verschleierte und vertuschte Zusammenhänge herstellen, Lügengespinsten auf die Spur kommen und schließlich in einer packenden Erzählung ins Licht heben zu können.

Es darf sich um keinen seelenlos maschinellen Beobachter und Sammler handeln oder um einen, der präpotent behauptet, alles zu wissen und erkundet zu haben, der um die Begrenztheit historischer Menschenforschung weiß, der Wissen und zugleich Fantasiebegabung genug hat, so dass es gelingen kann, das oft scheinbar Nebensächliche, etwa eine winzige Notiz am Seitenrand eines Dokuments oder einen verdächtigen Zungenschlag eines Zeitzeugen als das Ungeheuerliche zu dekuvrieren. Denn es gilt, die abertausenden Dokumente zu diesem NS-Gefangenenlager „für“ angeblich „Arbeitsscheue“, „Asoziale“ und „Untermenschen“ in ihren relevanten Bezügen – und zwar über alle politischen Umbrüche hinweg seit 1940/41 und zurück zu den Vorgeschichten – verstehen zu können.

Lahers Erkenntnisinteresse gilt dem einzelnen Subjekt in seiner/ihrer Individualität und zugleich den kollektiven Einbindungen, den vielfältigen Vernetzungen und Abhängigkeiten. Lahers Empathie für das geschundene Individuum, die „Atrozitäten“ der Täter, die „erbärmliche Kumpanei angesehener Institutionen“ und die begrenzten Handlungsspielräume in Zeiten des Nazi-Terrors spiegelt sich in seiner Stilistik wider, die sich nicht scheut, die eigene Betroffenheit und Empörung hin und wieder in sarkastischen Sätzen zu verdichten. Auch dies macht diese Lektüre packend und wäre ohne dieses Element defizient und kalt.

Vgl. Erinnerungsstätte Lager Weyer, Innviertel: http://www.lager-weyer.at/start.html

Titelbild

Ludwig Laher: Schauplatzwunden. Über zwölf ungewollt verknüpfte Leben.
Czernin Verlag, A-1080 Wien 2020.
198 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783707607079

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