Minnesang vor dem Minnesang?

Anna Sara Lahr strebt eine ‚Neuperspektivierung des frühesten Minnesangs‘ an, um den Vorläufern der Minne-Klassiker Gerechtigkeit widerfahren zu lassen

Von Jörg FüllgrabeRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jörg Füllgrabe

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn die tiefere Kenntnis mittelalterlicher Kultur und Literatur heute keineswegs selbstverständlich ist oder – direkter ausgedrückt – eher die Ausnahme darstellt, fällt den meisten neben den unvermeidlichen Rittern doch der Begriff des ‚Minnesangs‘ ein, wenn von dieser historisch-kulturellen Epoche die Rede ist. Beides wird in den gängigen Vorstellungen mitunter auch nicht so ganz fernliegend miteinander verknüpft, und womöglich fallen sogar Namen wie Walther von der Vogelweide. Dieser gilt zu Recht als ein meisterlicher Exponent der klassischen Phase der Minnelyrik, die in der Forschung immer noch die höchste Wertschätzung findet.

Texte und Ansätze, die zeitlich früher liegen, wurden zwar im Kontext der germanistischen Mittelalterforschung durchaus zur Kenntnis genommen, dann aber vornehmlich unter der Perspektive auf eine Art Vorstufe, die als wenig nuancenreich und nicht sonderlich ausdifferenziert wahrgenommen wurde. Anna Sara Lahr versucht im vorliegenden Buch – einer Überarbeitung ihrer Dissertation – nun, die frühesten Texte aus der zu sehr vereinfachenden Kontextualisierung mit dem ‚klassischen Stil‘ herauszuführen und stattdessen den Fokus auf die Vielfältigkeit zu legen, um mittels des Leitbegriffs der Diversität eine angemessene Darstellung und Wertung zu ermöglichen. Der Weg dorthin führt Lahr über eine genaue Textanalyse, die sie anhand der Aspekte ‚Gender‘, ‚Emotionen‘, ‚Raum, Zeit und Natur‘ sowie ‚Fiktionalität‘ entwickelt.

Angesichts des angedeuteten Desiderats in der Forschung ist es konsequent, dass die Verfasserin nach der Hinführung mit einem umfangreichen, knapp 50 Seiten umfassenden Forschungsüberblick in die Durchführung ihres Ansatzes einsteigt. So werden zunächst verschiedene ‚Herkunftstheorien‘ zur Erklärung des frühen Minnesangs erläutert, die neben topographischen Aspekten auch ‚soziologisch‘ ausgerichtete Ansätze umfassen. Des Weiteren werden insbesondere die Ergebnisse von Ingrid Kasten, Andreas Hensel sowie Manuel Braun vorgestellt. Summarisch erfolgt ein Hinweis auf die Forschungslage und ein differenzierter Hinweis darauf, dass zumindest phänotypisch die jüngere Forschung der nationalromantisch orientierten Forschung insofern nahesteht, als diese frühen Texte quasi auf ‚eigenem Boden‘ entstanden seien beziehungsweise es zwar Kenntnisse der romanischen Minnelyrik gegeben haben müsse, diese jedoch aufgrund altertümelnder Vorstellungen und der daraus erwachsenen stilistischen Ausprägung kaum Auswirkungen gehabt haben dürften. Hier wirft Lahr den Begriff der ‚Vielfalt‘ in die Debatte und sucht damit, das Betrachtungsspektrum deutlich zu erweitern. Insgesamt also – so die Verfasserin – bietet sich ein disparates Bild oder disparate Bilder, die es gelte, anhand weiterer Kriterien zusammenzuführen beziehungsweise „genauer als bislang zu analysieren, worin die Diversität der Strophen des frühen Minnesangs konkret besteht“.

Konsequenterweise werden dann Autoren und Texte der Frühphase des Minnesangs in den Blick genommen und etwa der von Kürenberg, der Burggraf von Regensburg oder Dietmar von Aist vorgestellt. Als ‚Zwischenfazit‘ kommt Lahr zu dem Ergebnis, dass trotz der teilweise durchaus nicht mageren biographischen Informationen eine unzweideutige Zuordnung der Verfassernamen zu historischen Persönlichkeiten nicht oder doch nur eingeschränkt möglich ist. Zudem werden Aspekte des literarischen Austausches in den Blick genommen, der Begriff des ‚Donauländischen Minnesangs‘ wird einer kritischen Prüfung unterzogen und die Überlieferungslage der frühen Minnetexte wird in all ihrer Komplexität dargelegt. Wesentlich für eine (Be-)Wertung der Qualität der Texte ist dabei etwa – so die Autorin –, dass die überlieferten Strophen nicht unbedingt, wie in der Forschung meistenteils angenommen, ein komplettes Œvre darstellten, sondern in den überlieferten Handschriften durchaus auch nur einzelne Strophen tradiert worden sein mögen.

Der Frage der unterschiedlichen formalen Gestaltung ist ein weiteres Hauptkapitel gewidmet, in dem unter anderem die Reimaspekte (paargereimte Langzeilenstrophen, paargereimte Lang- und Kurzzeilenstrophen, paargereimte Kurzzeilenstrophen sowie Kanzonenstrophen) als Gestaltungselemente der einzelnen Texte definiert werden. Metrisierung also, aber auch der Aspekt Ein- oder Mehrstrophigkeit verweisen demgemäß auf „einen offenen Umgang des frühesten Minnesangs mit formalen Anregungen und Vorbildern“.

Von dieser Basis aus wird dann im Folgenden über die Betrachtung der Schwerpunkte ‚Gender‘, ‚Emotionen‘, ‚Raum, Zeit und Natur‘ sowie ‚Fiktionalität‘ ein differenziertes Bild des frühen Minnesangs entwickelt. Erstaunlich erscheint hier zunächst der Aspekt ‚Gender‘, der in der Literaturforschung trotz engagierter Ansätze bereits in den späten Sechziger- beziehungsweise frühen Siebzigerjahren noch nicht unbedingt lange zum Kernbestand gehört. Dies gilt insbesondere für die mediävistische Literaturforschung, wo sich dieser Blickwinkel nach meinem Dafürhalten erst allmählich durchsetzt. Umso überraschender wirkt es, einen solchen Ansatz gerade im Zusammenhang mit Minneliedern zu wählen: einem Genre, das im deutschsprachigen Raum doch eine männliche Domäne ist beziehungsweise zu sein scheint. Der Verfasserin ist es in diesem Großabschnitt allerdings weniger darum zu tun, die bereits erwähnten Uneindeutigkeiten biographischer Art durch den Nachweis aufzulösen, dass hier mitunter Dichterinnen am Werk gewesen seien, sondern dadurch, dass sie das respektive die Werke selbst genauer in den Blick nimmt. Hier erkennt sie zum einen parodistische Elemente als tragende Elemente, mehr noch aber hebt sie auf das Phänomen der ‚androgynen Strophen‘ ab, das hier eine erkennbare Uneindeutigkeit nach sich zieht. Dementsprechend werde hier deutlich, dass „die Grenzüberschreitung zwischen Frau und Mann […] im Minnesang gerade auch dadurch möglich [wird] durch die lyrische Verknappung und die daraus resultierende ‚Unsichtbarkeit‘ der Körper; sprachliche Verfasstheit ist somit ein zentrales Element für die Konstruktion und das Spiel mit Genderrollen“.

Dass in der Minnedichtung Emotionen von besonderer Bedeutung sind, ist nicht von der Hand zu weisen, folgerichtig werden die Aspekte von Emotionalität vorgestellt und ihre literarische Umsetzung wird zum Thema gemacht. Auch hier erkennt Lahr neue Perspektiven, denn „bei der Inszenierung der Emotionen sucht der frühe Minnesang ebenfalls nach neuen Darstellungsformen, neben bereits etablierten Darstellungsweisen“. Und es scheint so, „dass der frühe Minnesang auf seine spezifische Weise einen Beitrag zur Kulturgeschichte des Hochmittelalters leistet, indem er sich der neuen Thematik des Emotionsgeschehens mit dem Kern der personalen Minne umfassend widmet und dabei spezifische Verhaltensweisen fokussiert, reflektiert oder ‚einübt‘, die das emotionale Verhalten und die Kommunikation darüber betreffen“.

Dieses Aufscheinen neuer literarischer Elemente sieht die Autorin auch in der Verwendung zeitlicher oder naturräumlicher Metaphorik in dieser Frühphase gegeben – eine Stilistik, die dann in der ‚Minnesang-Klassik‘ weiter verfeinert werden wird. Die Fiktionalität inszenierter Sende-Empfangs-Modelle scheint sich ebenfalls schon früh nachweisen zu lassen. Lahr erkennt hier, dass „möglicherweise […] mit dem frühen Minnesang ein kultureller Freiraum“ entstand, der durch das Reden über Liebe eine ‚Selbstwerdung‘ der Individuen ermöglichte. Das Wesentliche des in dieser Publikation verfolgten Ansatzes scheint mir darin zu liegen, dass die Autorin hier nicht nur nebulös auf die Eigenständigkeit einer literarischen ‚Text-Stil-Epoche‘ verweist, sondern in der bislang eher als Defizit angesehenen Vielfalt die besondere Kulturleistung (in) dieser Gattung erkennt.

Das vorliegende Buch ist dementsprechend einerseits Kompendium, andererseits auch Anregung und vermag sowohl in Struktur als auch Duktus zu überzeugen. Deutlich wird, dass die Verfasserin hier engagiert und intensiv ein ihr am Herzen liegendes Genre in den Fokus nimmt und dass die dabei entstandenen Ergebnisse, die sicherlich in vielerlei Hinsicht Vorläufigkeitscharakter tragen, interessante Perspektiven entweder eröffnen oder – wo bereits vorhanden – zu verdeutlichen helfen. Eine umfangreiche Bibliographie rundet diese lesenswerte Publikation ab, deren Anschaffung sich auch dann empfiehlt, wenn das eigene Augenmerk nicht unbedingt auf dem frühen Minnesang liegt.

Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg

Titelbild

Anna Sara Lahr: Diversität als Potential. Eine Neuperspektivierung des frühesten Minnesangs.
Universitätsverlag Winter, Heidelberg 2020.
460 Seiten, 68,00 EUR.
ISBN-13: 9783825346584

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