Vieler Menschen Freundin

Hannah Arendts soziales Leben

Von Dieter LampingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dieter Lamping

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vorbemerkung der Redaktion: Der folgende Beitrag von Dieter Lamping ist vor allem dem einleitenden Kapitel seines kürzlich im Verlag ebersbach & simon erschienenen Buches „Hannah Arendt. Leben für die Freundschaft“ entnommen. Mit zahlreichen Originalzitaten aus ihren Briefwechseln mit Walter Benjamin, Karl Jaspers, Mary McCarthy, Hans Jonas und anderen sowie illustriert mit etlichen Grafiken von Simone Frieling zeigt das Buch, wie sich Hannah Arendts facettenreiche  Persönlichkeit in ihren Freundschaften widerspiegelt. Für den deutsch-amerikanischen Philosophen Hans Jonas, der wie sie u.a. bei Martin Heidegger in Marburg studierte, war sie ein wahres „Genie der Freundschaft“. Dieter Lamping porträtiert die Philosophin im Spiegel ihrer Beziehungen zu wichtigen Weggefährten und Vertrauten, vermittelt einen Eindruck der Vielfalt von Arendts Beziehungen und reflektiert dabei ihr Verständnis der Freundschaft als „gelebte Philosophie“. Dem Autor und dem Verlag danken wir für die Genehmigung zur Veröffentlichung der folgenden Auszüge aus dem Buch in literaturkritik.de. T.A.

 

Nach dem Tod ihres Mannes Heinrich Blücher fiel es Hannah Arendt schwer, allein zu sein. Oft lud sie deshalb am Abend Gäste ein. Am 4. Dezember 1975 waren es die Eheleute Jeanette und Salo Baron, mit denen sie seit Langem befreundet war. Der 80­jährige Baron, in Tarnow geboren, in drei Fächern promoviert und als Rabbiner ordiniert, von 1930 bis 1963 Professor für Geschichte an der Columbia University, war eine akademische Berühmtheit. 33 Jahre zuvor hatte er der jungen deutschen Emigrantin, die 1941 in New York angekommen war, die Möglichkeit gegeben, ihren ersten Aufsatz auf Englisch zu veröffentlichen. Im Nachkriegs­Europa hatte sie dann für die von ihm geleitete Jewish Cultural Reconstruction Corporation nach jüdischen Kulturgütern gesucht, die von den Nationalsozialisten beschlagnahmt worden waren. Seither waren sie miteinander befreundet.

Hannah Arendt hatte ein anstrengendes Jahr hinter sich. Nach ihrem Herzinfarkt im Sommer 1974 hatte sie sich kaum geschont. Sie war auf Reisen gewesen, hatte Vorträge gehalten und Artikel geschrieben. Dieser Dienstag war für sie ein besonderer Tag: Sie hatte die erste Seite ihres neuen Buches On Judging (Über das Urteilen) in die Schreibmaschine getippt. Als ihre Gäste eintrafen, war sie aber über die beiden Mottos nicht hinausgekommen. Nach dem Essen saß sie noch mit den Barons zusammen, begann plötzlich zu husten und wurde ohnmächtig. Sie war tot, als der Arzt und ihre Freundin und Assistentin Lotte Köhler, zu Hilfe gerufen, eintrafen: gestorben an ihrem zweiten Herzinfarkt – ein „Sekundentod“, wie ihre Freundin Helen Wolff schrieb.

Zu der Trauerfeier vier Tage später versammelten sich 300 Gäste. Zwei der engsten Freunde Hannah Arendts, Hans Jonas und Mary McCarthy, hielten Reden an ihrem Sarg. Im Mai wurde die Urne neben der ihres Mannes beigesetzt, auf dem Friedhof des Bard College nördlich von New York, an dem er Professor gewesen war. Wieder erinnerten alte Freunde an sie. So ist Hannah Arendt nicht nur im Beisein von Freunden gestorben, sie ist auch von Freunden zu Grabe getragen und betrauert worden.

Deren Trauer spiegelt viel vom Leben der Toten wider. Neben allem, was sie sonst noch als Person des öffentlichen Lebens darstellte, war sie eine große Freundin. Hans Jonas nannte sie in seiner Trauerrede sogar ein „Genie der Freundschaft“, also besonders begabt für sie. Wie Lessing, nach ihrem Wort, „vieler Menschen Freund“ sein wollte, war sie vieler Menschen Freundin. Ihr Freun­deskreis war groß, und sie war leidenschaftlich befreun­det. Schon die Anredeformeln ihrer Briefe lassen erken­nen, dass sie Freundschaft genoss, sich von ihr belebt und beglückt fühlte. Ihre Freunde bedeuteten ihr viel, und sie tat viel für sie. Sie nahm weite Reisen auf sich, um sie zu sehen. Sie war fürsorglich, freigebig, half wie selbstverständlich auch mit Geld aus, sogar, als sie noch nicht viel hatte; war da, wenn sie gebraucht wurde, etwa bei Krankheit; setzte sich für Freunde ein, war anhäng­lich und, wenn es Zerwürfnisse gab, bereit, sich wieder zu versöhnen. Nicht zuletzt schenkte sie großzügig Gast­freundschaft. Hannah Arendt lebte für die Freundschaft, nicht nur für sie, aber auch für sie, und das nicht bloß zeitweise, sondern während ihres ganzen Erwachsenenle­bens. Sie wusste, warum. Wie Lessing hielt sie dafür, dass in der Freundschaft „allein sich Menschlichkeit beweisen könne“.

Nach Julia Kristeva hat ein Genie „eine denkwürdige Biografie“; sein Leben bestehe nicht darin, wie sie mit einer Anspielung auf einen viel zitierten Satz Martin Heideggers schreibt, „dass es nur geboren wurde, arbeitete und starb“. Jenseits seines Werks habe es „existiert“: denn es war „jemand“. Auch Hannah Arendt war jemand. Sie hatte ein bewegtes Leben: als deutsche Jüdin, die noch rechtzeitig fliehen konnte; als Staatenlose auf zwei Kontinenten, die in ihrem Asylland eine große Karriere machte; als eine viel beachtete Theoretikerin und eine mitunter umstrittene Person des öffentlichen Lebens. Und sie hatte eine starke Persönlichkeit, zu der Eigensinn und Mut gehörten, Entschiedenheit und Treue. Neben ihrer Arbeit existierte sie als einzelner, besonderer Mensch. Ihr Leben lässt sich erzählen und ist längst erzählt worden. Es hat sich zusammen mit ihrem Denken eingeprägt: als das, was wir mit ihrem Namen verbinden.

Seit den 1950er­ Jahren war Hannah Arendt in der Öffentlichkeit präsent. Mit ihrem ersten großen Buch The Origins of Totalitarianism (Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft) wurde sie 1951 bekannt. Seit 1959 war sie Gast­professorin an amerikanischen Universitäten und trat als Rednerin bei verschiedenen Anlässen auf. Sie erhielt bedeutende Auszeichnungen und einige Ehrendoktorwürden. Mit ihrem Bericht Eichmann in Jerusalem wurde sie 1963 geradezu prominent, berühmt bei den einen, berüchtigt bei den anderen. Das Buch trug ihr ebenso viel Verehrung wie Feindschaft ein. Bis heute ist es umstritten, obwohl seine Verdienste nicht zu übersehen sind. Aufmerksamkeit erregte sie zudem mit gelegentlichen politischen Einlassungen, etwa zur Behandlung der Schwarzen in den USA und zum Vietnamkrieg, noch nach ihrem Tod auch mit ihren aus eigener Erfahrung gewonnenen Gedanken zur Situation von Flüchtlingen.

In die Öffentlichkeit trat Hannah Arendt redend und schreibend, mit Büchern, Vorträgen und Interviews. Hinter der öffentlichen war jedoch die private Person kaum sichtbar. Erst nach ihrem Tod wurde dieser Teil ihrer Existenz erkundet. Sie selbst hätte das zu Lebzeiten kaum geduldet. Doch die Macht über ihr Bild in der Öffentlichkeit verlor sie mit dem Tod. Dieses Problem hat sie zweifellos gekannt, etwa von Franz Kafka her, dessen amerikanische Werkausgabe sie als Lektorin des Schocken Verlags betreut hat. Seiner Lebensgeschichte bemächtigte sich posthum eine wissbegierige Öffentlichkeit, die mehr über ihn in Erfahrung bringen wollte, als ihm recht gewesen wäre. Hannah Arendt mag aus Kafkas Beispiel gelernt haben. Vor ihrem Tod sichtete sie unveröffentlichte Aufzeichnungen und private Korrespondenzen und entschied, was archiviert werden sollte. Dazu gehören auch zahlreiche Freundesbriefe, die inzwischen veröffentlicht sind. Neben den Gesprächen sind es besonders diese Briefe, in denen ihre Freundschaften gelebt wurden.

Über Hannah Arendt als Freundin zu sprechen, ist einigen Schwierigkeiten ausgesetzt. Da ist zum einen die Paradoxie, in einem öffentlichen Diskurs ergründen zu wollen, was wesentlich privat ist. Da ist zum anderen die beschränkte Basis des Wissens. Hannah Arendt hat nur über wenige ihrer Freunde, wie Walter Benjamin, Waldemar Gurian oder Randall Jarrell, geschrieben, aber auch dabei über ihr freundschaftliches Verhältnis kaum etwas verlauten lassen. Über ihre Freundschaften haben wir vor allem Kenntnis durch ihre Korrespondenzen und durch Berichte einiger ihrer Freunde, die nach ihrem Tod geschrieben wurden.

Hannah Arendt war in ihrer privaten Existenz ein ungewöhnlich sozialer Mensch, der in verschiedenen Rollen lebte. Sie war Tochter, Stiefschwester, Nichte und Cousine, Geliebte und Ehefrau, schließlich Freundin. Eine Rolle übernahm sie nicht: Mutter wollte sie nicht sein. Ihr soziales Leben hatte drei Schwerpunkte: Familie, Liebesverhältnisse und Freundschaften.

Hannah Arendts Familie und ihre weitere Verwandtschaft gehörten zum jüdischen Bürgertum Königsbergs. Ihre Mutter Martha Arendt, geborene Cohn, hatte drei Geschwister und sechs Nichten und Neffen; zu einigen hielt die Tochter Verbindung. Der Vater Paul Arendt hatte nur eine Schwester; seine Frau heiratete aber sieben Jahre nach seinem Tod erneut, den gleichfalls verwitweten Martin Beerwald. Er brachte zwei Töchter mit in die Ehe, Hannah Arendts Stiefschwestern Clara und Eva. Clara, eine begabte Pianistin, beging früh Selbstmord, mit Eva verband Hannah wenig.

Paul Arendt starb, als Hannah sieben war, Martha überlebte ihn um 35 Jahre. Die Tochter holte, nachdem sie emigriert war, die inzwischen wieder verwitwete Mutter nach Paris und nahm sie dann mit nach New York. Sieben Jahre lebte Martha bei Hannah und deren zweitem Mann in einer kleinen Wohnung, bis die Spannungen, vor allem zwischen Schwiegermutter und Schwiegersohn, nicht mehr auszuhalten waren. Martha Arendt reiste 1948 zu ihrer Stieftochter Eva nach London und starb plötzlich auf der Überfahrt.

Der zweite Schwerpunkt im sozialen Leben Hannah Arendts waren ihre Liebesverhältnisse und Ehen. Das erste für ihr Leben wichtige Verhältnis war das zu Martin Heidegger; es war ebenso leidenschaftlich wie aussichtslos. Er war nicht nur erheblich älter als sie, sondern auch verheiratet. Die erste Ehe führte Hannah Arendt mit Günther Stern, dessen Namen sie auch für eine Zeit annahm. In Marburg lernten sie sich kennen, 1929 heirateten sie, lebten in Heidelberg, Frankfurt am Main und Berlin. Dort nahm Stern das Pseudonym Anders an, unter dem er für den Berliner Börsen-Courier schrieb, nachdem sein Plan, sich in Frankfurt zu habilitieren, gescheitert war. Als Günther Anders machte er sich nach dem Krieg einen Namen als Philosoph und Schriftsteller. Das Paar emigrierte 1933 nach Paris; 1937 wurde die Ehe geschieden. Erst spät eröffneten sich dem Emigranten Günther Anders Möglichkeiten einer akademischen Laufbahn, die er aber ausschlug. Wie Hannah Arendt war ihm der akademische Betrieb suspekt. Berühmt wurde Anders, der als Atomkriegsgegner etwa 1967 dem Russell­-Tribunal angehörte, vor allem mit seinem Buch Die Antiquiertheit des Menschen. Sein einziger Roman, den seine Frau 1933 mithilfe einer Freundin aus Deutschland geschmuggelt hatte, erschien erst kurz vor seinem Tod.

Hannah Arendts zweiter Mann war der sieben Jahre ältere Heinrich Blücher, eine nicht ganz durchschaubare Persönlichkeit. Nicht nur er, auch ihrer beider Verbindung blieb manchen ein Rätsel. Die Ansichten über ihn gehen auseinander. Mary McCarthy nannte ihn, einer Sprachregelung der Freundin folgend, deren „Lehrer“, allerdings den letzten. Alfred Kazin, der mit dem Paar eine Zeit lang befreundet war, sprach von ihm weniger respektvoll als dem „stürmischen, gelegentlich erschreckend wirrköpfigen Ehemann“, einer „Art von inspiriertem Verrückten“.

Blücher stammte aus einer Arbeiterfamilie; eine gelegentlich behauptete Verwandtschaft mit dem preußischen General von Blücher ist nicht erwiesen. Nach der Volksschule besuchte er kurz eine Lehrerschule – Lehrer war damals noch nicht notwendig ein akademischer Beruf. Im Ersten Weltkrieg war er Funker. Er nahm 1919 am Spartakistenaufstand in Berlin teil und wurde Mitglied der KPD. In den 1920er­ Jahren scheint er deren antistalinistischem Flügel angehört zu haben. 1933 floh er nach Prag und, als er aus der Tschechoslowakei ausgewiesen wurde, 1935 nach Paris. Dort lebte er im Untergrund, begegnete Hannah Arendt und zog mit ihr zusammen, bevor sie 1940 heirateten. Erst bei der Gelegenheit erfuhr sie, dass er bereits zwei Ehen eingegangen war. Mit ihr emigrierte er 1941 in die USA und lebte bis zu seinem Tod in New York. Blücher unternahm lange wenig Anstalten, sich und seine Frau zu ernähren, was zu erheblichen Spannungen mit seiner Schwiegermutter führte. Hannah Arendt verdiente in dieser Zeit das Geld für ihrer beider Lebensunterhalt. Durch Zufall kam Blücher in den 1950er­ Jahren an die New School of Social Research, an der er Kunstgeschichte unterrichtete, bis er Professor für Philosophie am Bard College wurde. Er hat kaum etwas veröffentlicht. Sein Ruf gründete sich nicht zuletzt auf sein durchaus professorales Auftreten. Wohlwollende verglichen ihn mit Sokrates. Mitschnitte einiger seiner Vorlesungen, die sich erhalten haben, bestätigen diese Ansicht nicht.

Der dritte Schwerpunkt des sozialen Lebens von Hannah Arendt waren ihre Freundschaften, die sie mit ganz unterschiedlichen Menschen schloss. Keine ihrer Freundinnen glich ihr, auch keiner der Freunde. Sie waren nicht unbedingt gleichen Alters mit ihr, und ihre Lebensläufe waren durchaus verschieden, untereinander, aber auch im Vergleich zu ihrem. Viele waren Juden, aber keineswegs alle. Nicht wenige von ihnen waren Intellektuelle, zumal Schriftsteller und Philosophen, einer, Eric Hoffer, den sie während ihrer Zeit in Berkeley kennenlernte, war Hafenarbeiter und erst im Nebenberuf Autor. Manche waren berühmt, wie Karl Jaspers oder Mary McCarthy, andere wie Hilde Fränkel würde man nicht mehr kennen, wäre Hannah Arendt nicht mit ihnen befreundet gewesen.

Manche ihrer Freundschaften überdauerten Jahrzehnte. Manche endeten einfach, manchmal durch den Tod der Freundin oder des Freundes wie bei Hilde Fränkel und Waldemar Gurian, andere zerbrachen im Streit wie die mit Gershom Scholem. Wieder andere wurden zeitweise unterbrochen und dann wieder aufgenommen wie die mit Hans Jonas. Manche wurden auch über lange Zeit nicht eng wie die zu Helen Wolff. Jede der Freundschaften hat ihre eigene Geschichte. Besonderes Interesse verdienen die mit Männern und Frauen, die selbst ein mehr oder weniger öffentliches Leben führten: Anne Mendelsohn, verheiratete Weil, Hans Jonas, Kurt Blumenfeld, Walter Benjamin, Hermann Broch, Uwe Johnson, Mary McCarthy und Karl Jaspers.

Hannah Arendts Freundschaften hatten ihre Orte: die Orte, an denen sie entstanden, etwa Königsberg, Marburg, Heidelberg, Berlin, Paris oder New York, und die Orte, an denen sie gepflegt wurden. Einige von ihnen waren Ferienorte wie Palenville in den Catskills oder Tegna im Tessin. Hannah Arendts Freundschaften hatten auch ihre Räume, wie etwa das Haus des Ehepaars Jaspers in Basel. Die wichtigsten dieser Räume aber waren ihre New Yorker Wohnungen.

„Bewirtet wurde man bei ihr“, schrieb Uwe Johnson nach Hannah Arendts Tod, „in der Bibliothek, einem Zimmer zum Durchgehen mit Hoffenster; wie kann man denn in New York leben und kein Berliner Zimmer haben!“ Oft beschrieben wurde auch, was Arendt ihren Gästen sogleich alles auftrug: „Bonbons, kandierte Früchte, Plätzchen, ‚Port‘“ – von den großen Abendessen nicht zu reden. Solche Bewirtung gehörte zu ihren Ritualen der Freundschaft.

Als Hannah Arendt ihre spätestens durch den Film von Margarethe von Trotta berühmt gewordene Wohnung am Riverside Drive Anfang 1960 bezog, beschrieb sie Gertrud Jaspers die Räume: „Beide Arbeitszimmer mit fantastisch schönem Blick auf den Fluss. Ganz ruhig, weder Straße noch Nachbarn zu hören. Vier große, gut geschnittene Zimmer und ein kleines Zimmer. Sehr nette Küche mit Anrichteraum. Reichlichstes Nebengelass. Riesen Wandschränke, in die man zum Teil richtig hineingehen kann. Das Haus sehr anständig gehalten mit einem Doorman tags und nachts. […] Der Preis genauso hoch, wie wir es als Maximum beschlossen hatten, was aber für das, was wir haben, nicht zu viel ist. Alles ‚equipment‘ – Küchenofen, Eisschrank, Abwasch, Badewanne etc. nagelneu. Außerdem 2 volle Badezimmer und eine Toilette mit Sitzwanne.“

Die Wohnung in Manhattan mit Blick auf den Hudson River und die Washington Bridge war das sichtbare Zeichen dafür, dass Hannah Arendt und Heinrich Blücher sich nach fast 20 Jahren in den USA etabliert hatten. Sie wurde ein Ort freundschaftlicher Geselligkeit, mit großen und kleinen Gesellschaften wie den ausgelassenen Silvesterpartys.

Dass private Räume ein besonderer Ort für Geselligkeit sind, mag Hannah Arendt von Rahel Varnhagen gelernt haben, der großen Berliner Salondame, über die sie ein einflussreiches Buch schrieb. Ein Salon, wie Rahel Varnhagens Wohnungen es waren, wurde das Apartment am Riverside Drive allerdings nur in der einen Hinsicht: dass in ihm eben Gäste empfangen wurden. Anders als Rahel führte Hannah Arendt kein offenes Haus, auch wenn manchmal Freunde unangemeldet vor der Tür standen und klingelten. Sie zog es vor einzuladen, schon um ihre Arbeitszeiten zu schützen.

Auf Freundschaft war Hannah Arendt aber angewiesen. Sie half ihr, sich ‚heimatlicher‘ in der Welt zu fühlen. In den ‚finsteren Zeiten‘ des Exils mag das ein drängenderes Bedürfnis geworden sein, doch fühlte sie es offensichtlich auch vorher und nachher – sei es, weil die Welt, so wie sie ist, eben nicht einfach ‚Heimat‘ sein kann, sei es, weil sie selbst in einem Gefühl der Einsamkeit leb­te. Wie Aristoteles war sie offenbar überzeugt davon, dass Freundschaft „auch eine Art Tugend“ sei. Zustimmend zitierte sie, darüber noch hinausgehend, in ihrer Lessing­-Rede die Ansicht der „Griechen“, „das ei­gentliche Wesen der Freundschaft“ liege „im Gespräch“.

Zweifellos hat Hannah Arendt sich als Freundin von ihren besten Seiten gezeigt. Der Reichtum ihrer Persönlichkeit spie­gelt sich in der Vielfalt ihrer Freundschaften wider. Sie hat zwar nicht in jeder von ihnen, aber doch in ihnen ins­gesamt alle Aspekte freundschaftlicher Beziehungen ge­lebt: die emotionale und die intellektuelle, die ethische und die existenzielle, die pragmatische und die politische. So machte sie die Freundschaft zu einer Erfahrung der Menschlichkeit: der ihrer Freunde und ihrer eigenen. Da­rin war sie tatsächlich ein Genie der Freundschaft. So mag auch für sie gelten, was sie von ihrem Freund Waldemar Gurian schrieb: „Als er starb, trauerten seine Freunde um ihn, als wäre ein Familienmitglied von ihnen gegangen und hätte sie allein zurückgelassen. Er hatte erreicht, was uns allen aufgegeben ist: In dieser Welt hatte er seinen Wohnsitz errichtet und sich durch Freundschaft ein Zu­hause auf der Erde geschaffen.“

Titelbild

Dieter Lamping: Hannah Arendt. Leben für die Freundschaft.
Mit Grafiken von Simone Frieling.
ebersbach & simon, Berlin 2022.
144 Seiten , 19,00 EUR.
ISBN-13: 9783869152707

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