Ein populärer Klassiker der Moderne – umfassend auf dem neuesten Stand
Das neue Stefan-Zweig-Handbuch bildet das Gesamtwerk vorbildlich ab
Von Lukas Pallitsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseKaum ein österreichischer Schriftsteller erfreut sich heute noch einer so breiten Leserschaft wie Stefan Zweig. Während das allgemeine Leseinteresse an seinem Œuvre nie abkühlte und manche Bücher, wie die Schachnovelle, selbst in Zeiten anhaltender Bildungsreformen als Schullektüre gelten, wurde sein Werk in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung bis heute mit diversen Verdikten belegt. Es sei zu populär und damit massentauglich, es sei zu traditionell in der Ausrichtung der Erzählperspektive. Sein Profil verlor im Schatten experimenteller Erzähltexte des 20. Jahrhunderts die Konturen. Für einen Popularisierungsschub Zweigs, der aus Sicht der Wissenschaft bereits zu Lebzeiten problematisch gesehen wurde, sorgten zuletzt international beachtete Filme wie The Grand Budapest Hotel oder Vor der Morgenröte. Dieser Zweig-Renaissance trägt nun das von Arturo Larcati, Klemens Renolder und Martina Wörgötter herausgegebene Stefan-Zweig-Handbuch Rechnung, das nicht nur gesichertes Wissen konserviert, außerhalb von Fachkreisen unbekannte Facetten zeigt und den neuesten Forschungsstand vorbildlich abbildet, sondern den Autor auch im kulturgeschichtlichen Spiegel präsentiert. Zudem verschafft es einen guten Überblick: Man kann im Inhaltsverzeichnis die chronologisch aufgebauten Werktitel, Überschriften und Register überfliegen, um sich auch zu einer spontanen Lektüre verführen zu lassen.
Im Mittelpunkt der Moderne steht aus heutiger wissenschaftlicher Sicht ein mehr oder weniger kanonischer Autorenkreis, der Namen wie Franz Kafka, Thomas Mann oder Robert Musil umfasst. Befindet sich Stefan Zweig an der Peripherie oder gar außerhalb des magischen Zirkels? Polemiken gegen ihn, wie jene von Hannah Arendt, haben jedenfalls dazu beigetragen, Zweig nicht im Innenraum des Kreismodells zu verorten. Bereits zu Lebzeiten wurde Zweig für seine manierierte Sprachform sowie für seine vergleichsweise wenig innovative Erzählform gescholten und aufgrund seines Erfolgs von der Fachwelt in die Ecke des populären Schriftstellers gedrängt. Zumindest die Zweig-Forschung konnte dieses Autorenbild in den vergangenen Jahren aus den Verkrustungen mancher Vorbehalte herauslösen, wenn auch in den Argumentationsgängen nicht immer überzeugend. Am Höhepunkt vieler Forschungsetappen steht nun das präzise und kenntnisreich erarbeitete Handbuch. Angesichts des monumentalen Umfangs von 1000 Seiten ist man geneigt zu fragen, ob sich manche Fragen künftig gar nicht mehr stellen. Oder stellen sich die Fragen neu? Das Handbuch geht von den literarischen und kulturhistorischen Voraussetzungen der Wiener Moderne aus und spannt von dort aus einen weiten Bogen über das Werk Zweigs. Die Doppelbewegung von kulturgeschichtlichem Ausgangspunkt und Werkgenese spiegelt sich auch im systematischen Teil, der in Literatur, Kunst und Kultur einerseits und in Geschichte, Politik und Gesellschaft andererseits gegliedert ist. In den abschließenden Kapiteln werden der neueste Stand von Rezeption und Edition historisch und systematisch dargestellt.
Der Aufbau des Handbuchs ist übersichtlich und stringent. Nach einer biografischen Darstellung Klemes Renolders, die man selbst als Zweig-Kenner mit Gewinn lesen kann, weil sie vorgeprägte literarische Motive berücksichtigt, werden im ersten Großkapitel nicht nur die historischen, sondern auch die literarischen und kulturgeschichtlichen Strömungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts kartografiert. In auffälliger Prägnanz und auf knappem Raum gelingt des den AutorInnen im zweiten Teil, das umfangreiche Gesamtwerk darzustellen. Dabei wird der vielfältigen Tätigkeit Zweigs Rechnung getragen und nicht nur das hinlänglich bekannte Bild des Romanciers und des Meisters der Novellistik sowie der biografischen Erzählform geliefert, sondern auch die weitgehend unbekannte Seite seiner frühen kurzen Erzählprosa, Legenden und Dramen beleuchtet. Ebenso in den Blick geraten Zweigs wenig bekannte Übersetzungstätigkeit, seine Herausgeberschaft und manche kaum beachtete, aber umso lesenswertere Literaten-Biografien. Als homme de lettres, der Zweig zweifelsohne war, fokussiert das Handbuch unter Berücksichtigung von Archiv-Materialen seine Aktivität als Vermittler im Literaturbetrieb und als Briefschreiber. Ein Ausschnitt, den Volker Weidermann in seinem Roman Ostende im freundschaftlichen Verbund mit Joseph Roth einer breiten Leserschaft präsentierte.
Die Vielfalt der systematischen Aspekte im dritten Teil lässt auf beeindruckende Weise erkennen, wie intensiv Zweig eine literarische Auseinandersetzung auf unterschiedlichsten kulturellen Feldern suchte und wie vielversprechend daher diese interdisziplinären Zugänge weiterhin bleiben. Vor allem dieser Teil überzeugt durch klar geschriebene, prägnante und theoretisch avancierte Beiträge, die den Bezug zu Zweigs Texten herstellen und dabei allgemeine Perspektiven an spezifischen Aspekten fruchtbar machen. Zu bemängeln ist das Fehlen lohnender Aspekte der Zweig-Forschung: Zum einen ließen sich die Aspekte um Denkfiguren wie beispielsweise Prophet, Eros und Leidenschaft erweitern. Zudem hätte man die genretechnische Heterogenität Zweigs (Roman, Novelle, Porträt, Essay, dramatische Dichtung unter anderem.), die heute gerne ausgeblendet und in den Schatten seiner Novellistik gerückt wird, systematisch abbilden können. Zum anderen – und das ist zugleich Stärke des Handbuchs – werden Perspektiven des immer noch etwas ungeklärten Verhältnisses Zweigs zur Bibel als Grundtext der abendländischen Kultur aufgezeigt. Wie verfährt Zweig mit Vorlagen und wie bringt er diese in den Raum seiner Texte ein? Solche Fragen nach den Verwandlungs- und Transformationsakten von Textvorlagen harren noch einer fruchtbaren Auseinandersetzung.
Von Interesse und hilfreich für ErstleserInnen wäre ferner die skizzenhafte Aufstellung einer doppelten Personenkonstellation: Einerseits jene, die Zweig essayistisch (Sigmund Freud), biografisch (Honoré de Balzac), erzählerisch (Lew Tolstoi) oder durch Übersetzung (Paul Verlaine) rezipierte und andererseits jene, die für Zweig zu Lebzeiten maßgebend waren (wie etwa Martin Buber, Romain Rolland und andere). Das würde erste Zugänge sichtbarer machen und die Übersicht erleichtern. Ein kleiner Mangel des Handbuchs besteht ferner darin, dass zwar die jüdischen, zionistischen, biblischen, musikalischen und auch mythischen Facetten des Werks beleuchtet werden und überdies eine Anbindung an kulturgeschichtliche und damit auch interdisziplinäre Zusammenhänge gesucht wird, aber verdiente interdisziplinäre Forschungsergebnisse, wie etwa jene des Theologen und Judaisten Wolfgang Treitler (Über die Verzweiflung hinaus und andere), nicht eingearbeitet wurden.
Allerdings soll der kulturhistorische Parcours des Handbuchs keineswegs in solch kleinen Beschränkungen wahrgenommen werden, im Gegenteil, die begrenzten Einwände ändern keineswegs etwas an der bemerkenswerten Gesamtschau. Die einzelnen Beiträge sind durchaus heterogen, da sie nicht nur von Zweig-ExpertInnen und auch nicht nur von LiteraturwissenschaftlerInnen verfasst sind, sie sind aber allesamt sorgfältig geschrieben und bieten einen guten Einstieg zu den jeweiligen Themen. Zudem sensibilisieren sie für offene Fragen oder führen mögliche Perspektiven einer künftigen Zweig-Forschung vor Augen. Exemplarisch hervorheben lassen sich unter den zahlreichen Aufsätzen die brillanten Beiträge von Mark Gelber (Judentum), Arturo Larcati (Das Motiv des Besiegten), Matthias Aumüller (Erzählformen) oder Werner Michler (Sternstunden der Menschheit). Wer sich wissenschaftlich mit Zweig beschäftigen oder sich einfach nur über ihn informieren möchte, wird kaum um dieses Handbuch herumkommen und den entsprechenden Beitrag oder auch das gesamte Buch mit erheblichem Gewinn lesen.
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